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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Überwindung des europäischen Nihilisnius

theoretisch vollständig recht. Der Sinn, d. h. der Wert, liegt tatsächlich nicht
in der Welt, sondern in uns; gefunden kann er nicht werden, man muß ihn
schaffen. Aber praktisch ist sein Versuch einer neuen Wertsetzung gescheitert:
Nietzsche war nicht stark genug, uns mit der Formel "Übermensch" seinen Wert
aufzuzwingen. Denn er kam von außen, theoretisch, zu der Erkenntnis, daß wir
eine Umwertung aller Werte brauchen; er verschrieb sie uns wie ein Rezept.
Doch die Tat kann nur einem gelingen, der nicht weiß, daß er Werte gibt,
einem, der so von seinem Dämon besessen ist, daß er wähnt, einen realen,
äußeren Wert zu kennen, und daß er glaubt, nichts tun zu brauchen, als ihn
laut zu verkünden, so laut, daß ihn die Welt hört. Und nur ein Bekenner
von dieser Unbewußtheit wird es durchsetzen können, daß die Welt auf ihn hört
und den neuen Glauben, d. h. seine Wertsetzung, d. h. seinen Willen annimmt.
Denn die Ethik -- sonderbare, höchst nachdenkliche Offenbarung -- die Ethik ist
eine Machtfrage.--

Über die Menschheit hin durch die Jahrtausende tönt die uralte Frage
nach dem Sinne des Lebens. Sie tönt und erzwingt sich die Antwort. Wir
aber haben ein Recht zu antworten, nicht -- wie superkluge Zeitgenossen
meinen -- weil unser Wissen dieses letzte und tiefste Lebensrätsel zu lösen ver¬
möchte, sondern weil unsere Macht so weit reicht. Der Mensch ist es, der dieser
Welt Sinn. Zweck und Wert gibt. Ohne den Menschen wäre sie sinnlos,
zwecklos, wertlos. Ohne den Menschen wäre sie Chaos, nicht Kosmos. Solange
aber Menschen sind, kann sie dies alles nicht werden. Und während wir noch
des neuen Glaubens entbehren, dürfen wir uns inzwischen -- so scheint mir --
mit dieser Gewißheit trösten.


Moritz Goldstein


Die Überwindung des europäischen Nihilisnius

theoretisch vollständig recht. Der Sinn, d. h. der Wert, liegt tatsächlich nicht
in der Welt, sondern in uns; gefunden kann er nicht werden, man muß ihn
schaffen. Aber praktisch ist sein Versuch einer neuen Wertsetzung gescheitert:
Nietzsche war nicht stark genug, uns mit der Formel „Übermensch" seinen Wert
aufzuzwingen. Denn er kam von außen, theoretisch, zu der Erkenntnis, daß wir
eine Umwertung aller Werte brauchen; er verschrieb sie uns wie ein Rezept.
Doch die Tat kann nur einem gelingen, der nicht weiß, daß er Werte gibt,
einem, der so von seinem Dämon besessen ist, daß er wähnt, einen realen,
äußeren Wert zu kennen, und daß er glaubt, nichts tun zu brauchen, als ihn
laut zu verkünden, so laut, daß ihn die Welt hört. Und nur ein Bekenner
von dieser Unbewußtheit wird es durchsetzen können, daß die Welt auf ihn hört
und den neuen Glauben, d. h. seine Wertsetzung, d. h. seinen Willen annimmt.
Denn die Ethik — sonderbare, höchst nachdenkliche Offenbarung — die Ethik ist
eine Machtfrage.--

Über die Menschheit hin durch die Jahrtausende tönt die uralte Frage
nach dem Sinne des Lebens. Sie tönt und erzwingt sich die Antwort. Wir
aber haben ein Recht zu antworten, nicht — wie superkluge Zeitgenossen
meinen — weil unser Wissen dieses letzte und tiefste Lebensrätsel zu lösen ver¬
möchte, sondern weil unsere Macht so weit reicht. Der Mensch ist es, der dieser
Welt Sinn. Zweck und Wert gibt. Ohne den Menschen wäre sie sinnlos,
zwecklos, wertlos. Ohne den Menschen wäre sie Chaos, nicht Kosmos. Solange
aber Menschen sind, kann sie dies alles nicht werden. Und während wir noch
des neuen Glaubens entbehren, dürfen wir uns inzwischen — so scheint mir —
mit dieser Gewißheit trösten.


Moritz Goldstein


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[0617] Die Überwindung des europäischen Nihilisnius theoretisch vollständig recht. Der Sinn, d. h. der Wert, liegt tatsächlich nicht in der Welt, sondern in uns; gefunden kann er nicht werden, man muß ihn schaffen. Aber praktisch ist sein Versuch einer neuen Wertsetzung gescheitert: Nietzsche war nicht stark genug, uns mit der Formel „Übermensch" seinen Wert aufzuzwingen. Denn er kam von außen, theoretisch, zu der Erkenntnis, daß wir eine Umwertung aller Werte brauchen; er verschrieb sie uns wie ein Rezept. Doch die Tat kann nur einem gelingen, der nicht weiß, daß er Werte gibt, einem, der so von seinem Dämon besessen ist, daß er wähnt, einen realen, äußeren Wert zu kennen, und daß er glaubt, nichts tun zu brauchen, als ihn laut zu verkünden, so laut, daß ihn die Welt hört. Und nur ein Bekenner von dieser Unbewußtheit wird es durchsetzen können, daß die Welt auf ihn hört und den neuen Glauben, d. h. seine Wertsetzung, d. h. seinen Willen annimmt. Denn die Ethik — sonderbare, höchst nachdenkliche Offenbarung — die Ethik ist eine Machtfrage.-- Über die Menschheit hin durch die Jahrtausende tönt die uralte Frage nach dem Sinne des Lebens. Sie tönt und erzwingt sich die Antwort. Wir aber haben ein Recht zu antworten, nicht — wie superkluge Zeitgenossen meinen — weil unser Wissen dieses letzte und tiefste Lebensrätsel zu lösen ver¬ möchte, sondern weil unsere Macht so weit reicht. Der Mensch ist es, der dieser Welt Sinn. Zweck und Wert gibt. Ohne den Menschen wäre sie sinnlos, zwecklos, wertlos. Ohne den Menschen wäre sie Chaos, nicht Kosmos. Solange aber Menschen sind, kann sie dies alles nicht werden. Und während wir noch des neuen Glaubens entbehren, dürfen wir uns inzwischen — so scheint mir — mit dieser Gewißheit trösten. Moritz Goldstein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/617>, abgerufen am 22.07.2024.