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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Ausgabe. Auf etwa zwanzig Bände be¬
rechnet, steht sie unter der Leitung des um
die deutsche Hochschule so hochverdienten
Literarhistorikers August Sauer und hat bis
jetzt in fünf Bänden die "Studien" und
"Bunten Steine" erscheinen lassen, wozu zwei
BändeLesarten und Anmerkungen treten, sowie
in zwei Bänden die "Vermischten Schriften",
letztere herausgegeben von Adalbert Horcicka"),
Jeder Band enthält außer dem nach dem
maßgebenden Drucke sorgfältig wiedergegebenen
Texte eine umfassende Einleitung, die in die
Entstehung, die Quellen, die Formgebung,
Stilisierung und Nachwirkung der Novellen
Licht bringt, sowie ein Peinlich genaues Re¬
gister; als Herausgeber zeichnen neben August
Sauer seine Schüler Franz Hüller, Rudolf
Fried, Hans Hartmann, Josef Dkubmann,
Karl Koblischke, Josef Nadler, Hugo Sturm,
Franz Egerer, Adolf Raschner, Der liebens¬
würdige und feine Dichter des Vormärz ist
hier zu neuem, frischem Leben erweckt, und der
Liebhaber des stillen Poeten sollte nach dieser
authentischen Ausgabe allein greifen.

Auch Goethe mit seinen vielfachen Be¬
ziehungen zu Böhmen, schon durch seinen
häufigen Aufenthalt in Karlsbad, erscheint in
den Schriften der Gesellschaft. Mit dem
Grafen Kaspar August von Sternberg, einem
Diplomaten und Gelehrten des napoleonischen
Osterreich, dessen Selbstbiographie in einem
anderen Bande dankenswerterweise geboten
wird, stand er in regem Briefwechsel, den
uns, Sauer in seiner bekannten textlichen
Akribie und vorzüglichen Kommentierung vor¬
legt*""). Ebenso hat er Goethes Briefwechsel
mit Joseph Sebastian Grüner und Joseph
Stanislaus Zauper, zwei Gelehrten, aus den
Jahren 1820 bis 1832 publiziert f). Wiederum
ersteht vor uns die Universalität des Goethe-
scher Geistes, der mit regem Interesse die
naturwissenschaftlichen und philologischen
Studien seiner Korrespondenten verfolgt, sich
nicht scheut, an sie Fragen zu stellen und sich
belehren zu lassen, der aber auch die innere

[Spaltenumbruch]

Politische Entwicklung mit demselben Eiser
beobachtet.

Noch sei es mir gestattet, auf den dreißigsten
Band der "Bibliothek" hinzuweisen, in dem
Otto Wildner "Briefe aus dem Vormärz"
vereinigt hat. Sie stammen aus dem Nachlaß
Moritz Hartmanns, über den der Heraus¬
geber bereits vorher eine vielleicht etwas zu
breit geratene Biographie veröffentlicht hat"),
und sind überaus charakteristisch für jene
junge österreichische und deutsche Dichterschar,
die bald den Himmel zu stürmen sich ver¬
mißt, bald melancholisch klagt, von der Zeit
nicht verstanden zu werden. Ein fesselndes
Buch nicht nur für den Literarhistoriker,
auch für den Geschichtsfreund, der einen
Blick in die gärende Stimmung der Jugend
jener Tage zu tun wünscht und die vier¬
ziger Jahre dadurch besser zu verstehen im¬
stande ist.

Der "Gesellschaft zur Förderung deutscher
Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen"
können wir Reichsdeutsche nur dankbar sein
für ihr mutiges Ausharren auf ihrem vor¬
geschobenen Posten auch in einer Zeit, wo
finanzielle Not das nationale Unternehmen
zu Falle zu bringen droht, und Pflicht jedes
Deutschen ist es, hier helfend und unter¬
stützend durch Kauf ihrer Schriften einzu¬
greifen.

In diesem Lande, wo der Kampf der
Stämme und Rassen so schwer tobt, ist es zu
begreifen, wenn eine Literaturbetrachtung ent¬
stehen konnte, die darauf ausgeht, zu zeigen,
wieweit die Heimat, der Stammescharakter
bei der Bildung des schriftstellerischen Cha¬
rakters beteiligt ist. Bereits in einer Rek¬
toratsrede über "Volkskunde und Literatur¬
geschichte" hatte August Sauer darauf hin¬
gewiesen, daß die Literaturgeschichte mehr als
bisher ihr Augenmerk auf die völkische Her¬
kunft der Dichter richten müsse, und erklärt,
die Wissenschaft müsse den Begriff des zum
öden Schlagwort herabgesunkenen Ausdrucks
"Volksseele" finden. Von diesen Voraus¬
setzungen ausgehend, hat Joseph Nadler, ein
Schüler Sauers, den Versuch unternommen,
eine "Literaturgeschichte der deutschen Stämme
und Landschaften" zu schreiben, deren erster

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") Band 11, 12, 16, 21, 22, 28, 24, 25,
26 der "Bibliothek".
"") Band 27 der "Bibliothek".
*"") Band 13 der "Bibliothek".
1-) Band 17 der "Bibliothek".
*) Band 18 und 19 der "Bibliothek".
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Ausgabe. Auf etwa zwanzig Bände be¬
rechnet, steht sie unter der Leitung des um
die deutsche Hochschule so hochverdienten
Literarhistorikers August Sauer und hat bis
jetzt in fünf Bänden die „Studien" und
„Bunten Steine" erscheinen lassen, wozu zwei
BändeLesarten und Anmerkungen treten, sowie
in zwei Bänden die „Vermischten Schriften",
letztere herausgegeben von Adalbert Horcicka"),
Jeder Band enthält außer dem nach dem
maßgebenden Drucke sorgfältig wiedergegebenen
Texte eine umfassende Einleitung, die in die
Entstehung, die Quellen, die Formgebung,
Stilisierung und Nachwirkung der Novellen
Licht bringt, sowie ein Peinlich genaues Re¬
gister; als Herausgeber zeichnen neben August
Sauer seine Schüler Franz Hüller, Rudolf
Fried, Hans Hartmann, Josef Dkubmann,
Karl Koblischke, Josef Nadler, Hugo Sturm,
Franz Egerer, Adolf Raschner, Der liebens¬
würdige und feine Dichter des Vormärz ist
hier zu neuem, frischem Leben erweckt, und der
Liebhaber des stillen Poeten sollte nach dieser
authentischen Ausgabe allein greifen.

Auch Goethe mit seinen vielfachen Be¬
ziehungen zu Böhmen, schon durch seinen
häufigen Aufenthalt in Karlsbad, erscheint in
den Schriften der Gesellschaft. Mit dem
Grafen Kaspar August von Sternberg, einem
Diplomaten und Gelehrten des napoleonischen
Osterreich, dessen Selbstbiographie in einem
anderen Bande dankenswerterweise geboten
wird, stand er in regem Briefwechsel, den
uns, Sauer in seiner bekannten textlichen
Akribie und vorzüglichen Kommentierung vor¬
legt*""). Ebenso hat er Goethes Briefwechsel
mit Joseph Sebastian Grüner und Joseph
Stanislaus Zauper, zwei Gelehrten, aus den
Jahren 1820 bis 1832 publiziert f). Wiederum
ersteht vor uns die Universalität des Goethe-
scher Geistes, der mit regem Interesse die
naturwissenschaftlichen und philologischen
Studien seiner Korrespondenten verfolgt, sich
nicht scheut, an sie Fragen zu stellen und sich
belehren zu lassen, der aber auch die innere

[Spaltenumbruch]

Politische Entwicklung mit demselben Eiser
beobachtet.

Noch sei es mir gestattet, auf den dreißigsten
Band der „Bibliothek" hinzuweisen, in dem
Otto Wildner „Briefe aus dem Vormärz"
vereinigt hat. Sie stammen aus dem Nachlaß
Moritz Hartmanns, über den der Heraus¬
geber bereits vorher eine vielleicht etwas zu
breit geratene Biographie veröffentlicht hat"),
und sind überaus charakteristisch für jene
junge österreichische und deutsche Dichterschar,
die bald den Himmel zu stürmen sich ver¬
mißt, bald melancholisch klagt, von der Zeit
nicht verstanden zu werden. Ein fesselndes
Buch nicht nur für den Literarhistoriker,
auch für den Geschichtsfreund, der einen
Blick in die gärende Stimmung der Jugend
jener Tage zu tun wünscht und die vier¬
ziger Jahre dadurch besser zu verstehen im¬
stande ist.

Der „Gesellschaft zur Förderung deutscher
Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen"
können wir Reichsdeutsche nur dankbar sein
für ihr mutiges Ausharren auf ihrem vor¬
geschobenen Posten auch in einer Zeit, wo
finanzielle Not das nationale Unternehmen
zu Falle zu bringen droht, und Pflicht jedes
Deutschen ist es, hier helfend und unter¬
stützend durch Kauf ihrer Schriften einzu¬
greifen.

In diesem Lande, wo der Kampf der
Stämme und Rassen so schwer tobt, ist es zu
begreifen, wenn eine Literaturbetrachtung ent¬
stehen konnte, die darauf ausgeht, zu zeigen,
wieweit die Heimat, der Stammescharakter
bei der Bildung des schriftstellerischen Cha¬
rakters beteiligt ist. Bereits in einer Rek¬
toratsrede über „Volkskunde und Literatur¬
geschichte" hatte August Sauer darauf hin¬
gewiesen, daß die Literaturgeschichte mehr als
bisher ihr Augenmerk auf die völkische Her¬
kunft der Dichter richten müsse, und erklärt,
die Wissenschaft müsse den Begriff des zum
öden Schlagwort herabgesunkenen Ausdrucks
„Volksseele" finden. Von diesen Voraus¬
setzungen ausgehend, hat Joseph Nadler, ein
Schüler Sauers, den Versuch unternommen,
eine „Literaturgeschichte der deutschen Stämme
und Landschaften" zu schreiben, deren erster

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") Band 11, 12, 16, 21, 22, 28, 24, 25,
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[0590] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ausgabe. Auf etwa zwanzig Bände be¬ rechnet, steht sie unter der Leitung des um die deutsche Hochschule so hochverdienten Literarhistorikers August Sauer und hat bis jetzt in fünf Bänden die „Studien" und „Bunten Steine" erscheinen lassen, wozu zwei BändeLesarten und Anmerkungen treten, sowie in zwei Bänden die „Vermischten Schriften", letztere herausgegeben von Adalbert Horcicka"), Jeder Band enthält außer dem nach dem maßgebenden Drucke sorgfältig wiedergegebenen Texte eine umfassende Einleitung, die in die Entstehung, die Quellen, die Formgebung, Stilisierung und Nachwirkung der Novellen Licht bringt, sowie ein Peinlich genaues Re¬ gister; als Herausgeber zeichnen neben August Sauer seine Schüler Franz Hüller, Rudolf Fried, Hans Hartmann, Josef Dkubmann, Karl Koblischke, Josef Nadler, Hugo Sturm, Franz Egerer, Adolf Raschner, Der liebens¬ würdige und feine Dichter des Vormärz ist hier zu neuem, frischem Leben erweckt, und der Liebhaber des stillen Poeten sollte nach dieser authentischen Ausgabe allein greifen. Auch Goethe mit seinen vielfachen Be¬ ziehungen zu Böhmen, schon durch seinen häufigen Aufenthalt in Karlsbad, erscheint in den Schriften der Gesellschaft. Mit dem Grafen Kaspar August von Sternberg, einem Diplomaten und Gelehrten des napoleonischen Osterreich, dessen Selbstbiographie in einem anderen Bande dankenswerterweise geboten wird, stand er in regem Briefwechsel, den uns, Sauer in seiner bekannten textlichen Akribie und vorzüglichen Kommentierung vor¬ legt*""). Ebenso hat er Goethes Briefwechsel mit Joseph Sebastian Grüner und Joseph Stanislaus Zauper, zwei Gelehrten, aus den Jahren 1820 bis 1832 publiziert f). Wiederum ersteht vor uns die Universalität des Goethe- scher Geistes, der mit regem Interesse die naturwissenschaftlichen und philologischen Studien seiner Korrespondenten verfolgt, sich nicht scheut, an sie Fragen zu stellen und sich belehren zu lassen, der aber auch die innere Politische Entwicklung mit demselben Eiser beobachtet. Noch sei es mir gestattet, auf den dreißigsten Band der „Bibliothek" hinzuweisen, in dem Otto Wildner „Briefe aus dem Vormärz" vereinigt hat. Sie stammen aus dem Nachlaß Moritz Hartmanns, über den der Heraus¬ geber bereits vorher eine vielleicht etwas zu breit geratene Biographie veröffentlicht hat"), und sind überaus charakteristisch für jene junge österreichische und deutsche Dichterschar, die bald den Himmel zu stürmen sich ver¬ mißt, bald melancholisch klagt, von der Zeit nicht verstanden zu werden. Ein fesselndes Buch nicht nur für den Literarhistoriker, auch für den Geschichtsfreund, der einen Blick in die gärende Stimmung der Jugend jener Tage zu tun wünscht und die vier¬ ziger Jahre dadurch besser zu verstehen im¬ stande ist. Der „Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" können wir Reichsdeutsche nur dankbar sein für ihr mutiges Ausharren auf ihrem vor¬ geschobenen Posten auch in einer Zeit, wo finanzielle Not das nationale Unternehmen zu Falle zu bringen droht, und Pflicht jedes Deutschen ist es, hier helfend und unter¬ stützend durch Kauf ihrer Schriften einzu¬ greifen. In diesem Lande, wo der Kampf der Stämme und Rassen so schwer tobt, ist es zu begreifen, wenn eine Literaturbetrachtung ent¬ stehen konnte, die darauf ausgeht, zu zeigen, wieweit die Heimat, der Stammescharakter bei der Bildung des schriftstellerischen Cha¬ rakters beteiligt ist. Bereits in einer Rek¬ toratsrede über „Volkskunde und Literatur¬ geschichte" hatte August Sauer darauf hin¬ gewiesen, daß die Literaturgeschichte mehr als bisher ihr Augenmerk auf die völkische Her¬ kunft der Dichter richten müsse, und erklärt, die Wissenschaft müsse den Begriff des zum öden Schlagwort herabgesunkenen Ausdrucks „Volksseele" finden. Von diesen Voraus¬ setzungen ausgehend, hat Joseph Nadler, ein Schüler Sauers, den Versuch unternommen, eine „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften" zu schreiben, deren erster ") Band 11, 12, 16, 21, 22, 28, 24, 25, 26 der „Bibliothek". "«) Band 27 der „Bibliothek". *"") Band 13 der „Bibliothek". 1-) Band 17 der „Bibliothek". *) Band 18 und 19 der „Bibliothek".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/590>, abgerufen am 22.12.2024.