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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bulgarische Balladen
Doch als ich neun Jahre so geschmachtet.
Trat sie ein bei mir mit reicher Schüssel:
Eil dich, iß und folg mir; unbeachtet
Stahl ich eben deines Kerkers Schlüssel.
Schale, Speisen warf ich da zur Erde.
Gleich von ihrer kundgen Hand geleitet
Fand ich frei die Tore, stieg zu Pferde --
Alles hatte sie zur Flucht bereitet.
Schwang sich hinter mich aufs Roß behende.
Nordwärts flogen wir mit Windesflügeln.
Meine Schultern hielten ihre Hände.
Heimwärts jagten wir mit langen Zügeln.
Kamen bald zum Fluß der weißen Reiher.
Froh warte ich mich um sie anzuschauen.
Losgelöst vom Winde hing ihr Schleier
und ich sah ihr Antlitz -- sass mit Grauen:
Braun wie Nußbaum ihre stolzen Züge.
Mein wird spotten, dacht ich, Knecht und Bauer,
Überlegte später Enkel Rüge
und verschloß mein Herz in stummer Trauer.
Sprach zu ihr als durch den Fluß wir ritten:
Wasche, Mädchen, in den klaren Wellen
Deine dunkle Stirn, denn wohl gelitten
Sind bei meinem Volk die reinen hellen.
Lang hat sie gewaschen Stirn und Wangen,
Wusch vergebens. Wieder dann zu Rosse
Stiegen wir. Fest hielt sie mich unifangen,
Langsam ritt ich ein zum Väterschlosse.
Freunde, Knechte riefen: Seht den Recken!
Ist ein braunes Mädchen bei ihm blieben,
Wird in dunkler Kammer sie verstecken,
Wird sich schämen und sie heimlich lieben.
Da sagt ich ihr: mein darfst du nicht werden.
stieß ihr tief ins Herz mein Schwert, mein gutes.
Mutter, Mutter, auf der weiten Erden
War kein Fürstenkind so edlen Blutes!

37*
Bulgarische Balladen
Doch als ich neun Jahre so geschmachtet.
Trat sie ein bei mir mit reicher Schüssel:
Eil dich, iß und folg mir; unbeachtet
Stahl ich eben deines Kerkers Schlüssel.
Schale, Speisen warf ich da zur Erde.
Gleich von ihrer kundgen Hand geleitet
Fand ich frei die Tore, stieg zu Pferde —
Alles hatte sie zur Flucht bereitet.
Schwang sich hinter mich aufs Roß behende.
Nordwärts flogen wir mit Windesflügeln.
Meine Schultern hielten ihre Hände.
Heimwärts jagten wir mit langen Zügeln.
Kamen bald zum Fluß der weißen Reiher.
Froh warte ich mich um sie anzuschauen.
Losgelöst vom Winde hing ihr Schleier
und ich sah ihr Antlitz — sass mit Grauen:
Braun wie Nußbaum ihre stolzen Züge.
Mein wird spotten, dacht ich, Knecht und Bauer,
Überlegte später Enkel Rüge
und verschloß mein Herz in stummer Trauer.
Sprach zu ihr als durch den Fluß wir ritten:
Wasche, Mädchen, in den klaren Wellen
Deine dunkle Stirn, denn wohl gelitten
Sind bei meinem Volk die reinen hellen.
Lang hat sie gewaschen Stirn und Wangen,
Wusch vergebens. Wieder dann zu Rosse
Stiegen wir. Fest hielt sie mich unifangen,
Langsam ritt ich ein zum Väterschlosse.
Freunde, Knechte riefen: Seht den Recken!
Ist ein braunes Mädchen bei ihm blieben,
Wird in dunkler Kammer sie verstecken,
Wird sich schämen und sie heimlich lieben.
Da sagt ich ihr: mein darfst du nicht werden.
stieß ihr tief ins Herz mein Schwert, mein gutes.
Mutter, Mutter, auf der weiten Erden
War kein Fürstenkind so edlen Blutes!

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[0583] Bulgarische Balladen Doch als ich neun Jahre so geschmachtet. Trat sie ein bei mir mit reicher Schüssel: Eil dich, iß und folg mir; unbeachtet Stahl ich eben deines Kerkers Schlüssel. Schale, Speisen warf ich da zur Erde. Gleich von ihrer kundgen Hand geleitet Fand ich frei die Tore, stieg zu Pferde — Alles hatte sie zur Flucht bereitet. Schwang sich hinter mich aufs Roß behende. Nordwärts flogen wir mit Windesflügeln. Meine Schultern hielten ihre Hände. Heimwärts jagten wir mit langen Zügeln. Kamen bald zum Fluß der weißen Reiher. Froh warte ich mich um sie anzuschauen. Losgelöst vom Winde hing ihr Schleier und ich sah ihr Antlitz — sass mit Grauen: Braun wie Nußbaum ihre stolzen Züge. Mein wird spotten, dacht ich, Knecht und Bauer, Überlegte später Enkel Rüge und verschloß mein Herz in stummer Trauer. Sprach zu ihr als durch den Fluß wir ritten: Wasche, Mädchen, in den klaren Wellen Deine dunkle Stirn, denn wohl gelitten Sind bei meinem Volk die reinen hellen. Lang hat sie gewaschen Stirn und Wangen, Wusch vergebens. Wieder dann zu Rosse Stiegen wir. Fest hielt sie mich unifangen, Langsam ritt ich ein zum Väterschlosse. Freunde, Knechte riefen: Seht den Recken! Ist ein braunes Mädchen bei ihm blieben, Wird in dunkler Kammer sie verstecken, Wird sich schämen und sie heimlich lieben. Da sagt ich ihr: mein darfst du nicht werden. stieß ihr tief ins Herz mein Schwert, mein gutes. Mutter, Mutter, auf der weiten Erden War kein Fürstenkind so edlen Blutes! 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/583>, abgerufen am 22.07.2024.