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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

heute würde der Befehl zur Räumung Indiens erlassen und -- mit moralischen
und ethischen Gründen vor der Welt gerechtfertigt werden.

stießen einmal englische und indische Jmeressen zusammen, so gab
stets der Vorteil des Mutterlandes allein den Ausschlag. Ein Beispiel: die
in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Überschwemmung
Indiens mit billigen englischen Jndustrieerzeugnissen, insbesondere Textilwaren,
führte zum Ruin des blühenden indischen Handwerks. "Das Elend findet
kaum eine Parallele in der Geschichte des Handels, die Knochen der Baum¬
wollweber bleichen die Ebenen Indiens." So urteilten damals englische
Schriftsteller (siehe Chamberlain, Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts,
S. 997)*). Nun ist ja nicht zu leugnen, daß die über das indische Handwerk
hereinbrechende Katastrophe auch das ganze europäische Festland heimsuchte
(z. B. die schlesischen Weber). Gegen die Gefahren, welche dem Handwerk von
der übermächtig werdenden Industrie drohten, gab es eben kein radikales Hilfs¬
mittel. Aber Europa konnte wenigstens durch geeignete Zollmaßnahmen und
durch Schaffung einer eigenen Industrie die Schärfe der Krise mildern. Eng¬
land war aber damit nicht gedient, daß Indien sich eine eigene Industrie schuf;
die Kolonie sollte das Mutterland mit billigen Rohprodukten und landwirt¬
schaftlichen Erzeugnissen versorgen und dafür ihre Bedürfnisse an Industrie-
Produkten möglichst im Mutterland decken. Darum dachte man nicht an eine
Milderung der wirtschaftlichen Umwälzung, sondern hintertrieb mit allen Mitteln
das Entstehen einer indischen Industrie. Die brotlos gewordenen Handwerker
wurden in das ohnehin überfüllte landwirtschaftliche Gewerbe hineingetrieben,
wodurch das allgemeine Elend noch vermehrt wurde. Bis auf den heutigen
Tag ist die Industrialisierung Indiens künstlich hintenangehalten worden. Erst
in neuerer Zeit hat eine starke Agitation gegen diese Bevormundung eingesetzt,
die sogenannte "Swadeschi-Bewegung". Diese bezweckt, Indien durch Schaffung
einer einheimischen Industrie allmählig von der fremden Einfuhr unabhängig
zu machen. Zeitweise war die Begeisterung für diesen Plan sehr groß. Reiche
Inder aller Stände zeichneten bedeutende Summen für die ins Leben zu
rufenden Unternehmungen. Die erwarteten großen Erfolge sind indessen bisher
ausgeblieben. Zunächst mußte man ohne Zollschutz gegen eine übermächtige




*) Kodder rühmte es damals als ein Verdienst der englischen Industrie, daß die
Maschinenwebereien Manchesters die Werkstätten der indischen Weber geschlossen hätten.
**) Man muß nicht vergessen, daß das fast wie ein Evangelium verkündigte Freihandels¬
prinzip nur deshalb das Wirtschaftsideal der Engländer wurde, weil die englische Industrie
damals die Welt beherrschte und daher der Freihandel bloß billige Löhne, aber keine unan¬
genehme Konkurrenz brachte. Angesichts des Emporkommens der deutschen und amerikanischen
Industrie verwandelt sich dieses einst als unantastbar angesehene Ideal in sein gerades
Gegenteil, das Protektionistische System. Wenn heute die "proteotion dit!" noch keine Aussicht
auf Annahme im englischen Parlament hat, so liegt das nicht an Prinzipiellen Bedenken,
sondern an den praktischen Schwierigkeiten, die sich der Verwirklichung des Planes ent¬
gegenstellen.
Die Engländer in Indien

heute würde der Befehl zur Räumung Indiens erlassen und — mit moralischen
und ethischen Gründen vor der Welt gerechtfertigt werden.

stießen einmal englische und indische Jmeressen zusammen, so gab
stets der Vorteil des Mutterlandes allein den Ausschlag. Ein Beispiel: die
in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Überschwemmung
Indiens mit billigen englischen Jndustrieerzeugnissen, insbesondere Textilwaren,
führte zum Ruin des blühenden indischen Handwerks. „Das Elend findet
kaum eine Parallele in der Geschichte des Handels, die Knochen der Baum¬
wollweber bleichen die Ebenen Indiens." So urteilten damals englische
Schriftsteller (siehe Chamberlain, Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts,
S. 997)*). Nun ist ja nicht zu leugnen, daß die über das indische Handwerk
hereinbrechende Katastrophe auch das ganze europäische Festland heimsuchte
(z. B. die schlesischen Weber). Gegen die Gefahren, welche dem Handwerk von
der übermächtig werdenden Industrie drohten, gab es eben kein radikales Hilfs¬
mittel. Aber Europa konnte wenigstens durch geeignete Zollmaßnahmen und
durch Schaffung einer eigenen Industrie die Schärfe der Krise mildern. Eng¬
land war aber damit nicht gedient, daß Indien sich eine eigene Industrie schuf;
die Kolonie sollte das Mutterland mit billigen Rohprodukten und landwirt¬
schaftlichen Erzeugnissen versorgen und dafür ihre Bedürfnisse an Industrie-
Produkten möglichst im Mutterland decken. Darum dachte man nicht an eine
Milderung der wirtschaftlichen Umwälzung, sondern hintertrieb mit allen Mitteln
das Entstehen einer indischen Industrie. Die brotlos gewordenen Handwerker
wurden in das ohnehin überfüllte landwirtschaftliche Gewerbe hineingetrieben,
wodurch das allgemeine Elend noch vermehrt wurde. Bis auf den heutigen
Tag ist die Industrialisierung Indiens künstlich hintenangehalten worden. Erst
in neuerer Zeit hat eine starke Agitation gegen diese Bevormundung eingesetzt,
die sogenannte „Swadeschi-Bewegung". Diese bezweckt, Indien durch Schaffung
einer einheimischen Industrie allmählig von der fremden Einfuhr unabhängig
zu machen. Zeitweise war die Begeisterung für diesen Plan sehr groß. Reiche
Inder aller Stände zeichneten bedeutende Summen für die ins Leben zu
rufenden Unternehmungen. Die erwarteten großen Erfolge sind indessen bisher
ausgeblieben. Zunächst mußte man ohne Zollschutz gegen eine übermächtige




*) Kodder rühmte es damals als ein Verdienst der englischen Industrie, daß die
Maschinenwebereien Manchesters die Werkstätten der indischen Weber geschlossen hätten.
**) Man muß nicht vergessen, daß das fast wie ein Evangelium verkündigte Freihandels¬
prinzip nur deshalb das Wirtschaftsideal der Engländer wurde, weil die englische Industrie
damals die Welt beherrschte und daher der Freihandel bloß billige Löhne, aber keine unan¬
genehme Konkurrenz brachte. Angesichts des Emporkommens der deutschen und amerikanischen
Industrie verwandelt sich dieses einst als unantastbar angesehene Ideal in sein gerades
Gegenteil, das Protektionistische System. Wenn heute die „proteotion dit!" noch keine Aussicht
auf Annahme im englischen Parlament hat, so liegt das nicht an Prinzipiellen Bedenken,
sondern an den praktischen Schwierigkeiten, die sich der Verwirklichung des Planes ent¬
gegenstellen.
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[0576] Die Engländer in Indien heute würde der Befehl zur Räumung Indiens erlassen und — mit moralischen und ethischen Gründen vor der Welt gerechtfertigt werden. stießen einmal englische und indische Jmeressen zusammen, so gab stets der Vorteil des Mutterlandes allein den Ausschlag. Ein Beispiel: die in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Überschwemmung Indiens mit billigen englischen Jndustrieerzeugnissen, insbesondere Textilwaren, führte zum Ruin des blühenden indischen Handwerks. „Das Elend findet kaum eine Parallele in der Geschichte des Handels, die Knochen der Baum¬ wollweber bleichen die Ebenen Indiens." So urteilten damals englische Schriftsteller (siehe Chamberlain, Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 997)*). Nun ist ja nicht zu leugnen, daß die über das indische Handwerk hereinbrechende Katastrophe auch das ganze europäische Festland heimsuchte (z. B. die schlesischen Weber). Gegen die Gefahren, welche dem Handwerk von der übermächtig werdenden Industrie drohten, gab es eben kein radikales Hilfs¬ mittel. Aber Europa konnte wenigstens durch geeignete Zollmaßnahmen und durch Schaffung einer eigenen Industrie die Schärfe der Krise mildern. Eng¬ land war aber damit nicht gedient, daß Indien sich eine eigene Industrie schuf; die Kolonie sollte das Mutterland mit billigen Rohprodukten und landwirt¬ schaftlichen Erzeugnissen versorgen und dafür ihre Bedürfnisse an Industrie- Produkten möglichst im Mutterland decken. Darum dachte man nicht an eine Milderung der wirtschaftlichen Umwälzung, sondern hintertrieb mit allen Mitteln das Entstehen einer indischen Industrie. Die brotlos gewordenen Handwerker wurden in das ohnehin überfüllte landwirtschaftliche Gewerbe hineingetrieben, wodurch das allgemeine Elend noch vermehrt wurde. Bis auf den heutigen Tag ist die Industrialisierung Indiens künstlich hintenangehalten worden. Erst in neuerer Zeit hat eine starke Agitation gegen diese Bevormundung eingesetzt, die sogenannte „Swadeschi-Bewegung". Diese bezweckt, Indien durch Schaffung einer einheimischen Industrie allmählig von der fremden Einfuhr unabhängig zu machen. Zeitweise war die Begeisterung für diesen Plan sehr groß. Reiche Inder aller Stände zeichneten bedeutende Summen für die ins Leben zu rufenden Unternehmungen. Die erwarteten großen Erfolge sind indessen bisher ausgeblieben. Zunächst mußte man ohne Zollschutz gegen eine übermächtige *) Kodder rühmte es damals als ein Verdienst der englischen Industrie, daß die Maschinenwebereien Manchesters die Werkstätten der indischen Weber geschlossen hätten. **) Man muß nicht vergessen, daß das fast wie ein Evangelium verkündigte Freihandels¬ prinzip nur deshalb das Wirtschaftsideal der Engländer wurde, weil die englische Industrie damals die Welt beherrschte und daher der Freihandel bloß billige Löhne, aber keine unan¬ genehme Konkurrenz brachte. Angesichts des Emporkommens der deutschen und amerikanischen Industrie verwandelt sich dieses einst als unantastbar angesehene Ideal in sein gerades Gegenteil, das Protektionistische System. Wenn heute die „proteotion dit!" noch keine Aussicht auf Annahme im englischen Parlament hat, so liegt das nicht an Prinzipiellen Bedenken, sondern an den praktischen Schwierigkeiten, die sich der Verwirklichung des Planes ent¬ gegenstellen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/576>, abgerufen am 25.08.2024.