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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

die Landessitte -- Frauen so hoher Kaste, daß sie ihre Wohnungen nicht ver¬
lassen können (da diese eher in ihren Häusern verhungern würden, als sich in der
Öffentlichkeit zu zeigen).

Es gibt also zwei große Prinzipien:

1. Jedermann, der sich zur Arbeit stellt, bekommt Arbeit und Nahrung.
Es heißt also nie: "Mehr Arbeiter können wir nicht bezahlen, es ist kein Geld
mehr da"; sondern das nötige Geld wird grundsätzlich beschafft, sei es durch
Anleihen, sei es durch Überweisung seitens der Zentralregierung. Verhungern
braucht also niemand mehr.

2. Nur wer arbeitet, erhält eine Unterstützung (mit Ausnahme der oben
bezeichneten Fälle). Damit wird der Demoralisation vorgebeugt, welche jede
Gratisunterstützung nach sich zieht, und die Garantie gegeben, daß nur wirklich
Bedürftige unterstützt werden.

Allerdings findet sich in der energielosen indischen Landbevölkerung stets
eine Anzahl von Leuten, welche die Hungersnot als eine Fügung des Himmels
betrachten, gegen die es keine Rettung gibt, die daher bei Ausbruch einer
Hungersnot jede Hilfe zurückweisen und ohne eine Hand zu rühren, den Tod
erwarten. Hier hört aber wohl die moralische Verpflichtung der Behörde aus.

Außer der Überwachung der Notstandsarbeiten gibt es für die Aufsichts¬
beamten noch eine Menge anderweitiger Arbeit in einem "kamins ä!8tried":
Unterbringung der Kranken und Arbeitsunfähigen in Lazaretten und Ver¬
pflegungsstationen, Organisierung des Sanitätsdienstes, um die stets drohende
Seuchengefahr zu verringern, Überwachung der Brunnen usw. Ein englischer
Aufseher in einem Hungerbezirk ist wahrlich nicht auf Rosen gebettet. Die
unablässigen Inspektionsreisen durch Staub und Hitze in einem verdorrten,
von Lebensmitteln entblößten Lande stellen die schärfsten Anforderungen an
seine Widerstandskraft. Fast das Schlimmste aber ist der dauernde Kampf
mit unehrlichen eingeborenen Beamten, die selbst in solchen Zeiten der Not nicht
davor zurückschrecken, sich auf Kosten ihrer darbenden Landsleute zu bereichern.
Der .MminL noae", die vortreffliche Vorschrift für den Dienst in Hungersnot¬
bezirken, enthält ein Kapitel, das die üblichen Betrugsmanöver eingeborener
Beamten aufzählt. Fast in jeder Auflage erfährt dessen trauriger Inhalt eine
Bereicherung. Was würde wohl aus der ganzen Organisation werden, wenn
die englische Oberaufsicht fehlte? Die Hilflosigkeit mancher Eingeborenenstaaten
gegenüber solchen Katastrophen geben davon eine Vorstellung. Während des
Hungersnotjahres 1896 sank die Bevölkerung des Eingeborenenstaates Baroda
(nördlich Bombay) um fast 500000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von
rund 2^/2 Millionen. In den meisten anderen Eingeborenenstaaten sank damals
die Bevölkerungsziffer ebenfalls. Trotzdem vermehrte sich die Gesamtbevölkerung
des Landes von 1891 bis 1901 um 2,45 Prozent und in den unter direkter
englischer Verwaltung stehenden Landesteilen um fast 5 Prozent. Ohne Zweifel
läßt die Seuchenbekämpfung in Indien noch vieles zu wünschen übrig. Seit


Die Engländer in Indien

die Landessitte — Frauen so hoher Kaste, daß sie ihre Wohnungen nicht ver¬
lassen können (da diese eher in ihren Häusern verhungern würden, als sich in der
Öffentlichkeit zu zeigen).

Es gibt also zwei große Prinzipien:

1. Jedermann, der sich zur Arbeit stellt, bekommt Arbeit und Nahrung.
Es heißt also nie: „Mehr Arbeiter können wir nicht bezahlen, es ist kein Geld
mehr da"; sondern das nötige Geld wird grundsätzlich beschafft, sei es durch
Anleihen, sei es durch Überweisung seitens der Zentralregierung. Verhungern
braucht also niemand mehr.

2. Nur wer arbeitet, erhält eine Unterstützung (mit Ausnahme der oben
bezeichneten Fälle). Damit wird der Demoralisation vorgebeugt, welche jede
Gratisunterstützung nach sich zieht, und die Garantie gegeben, daß nur wirklich
Bedürftige unterstützt werden.

Allerdings findet sich in der energielosen indischen Landbevölkerung stets
eine Anzahl von Leuten, welche die Hungersnot als eine Fügung des Himmels
betrachten, gegen die es keine Rettung gibt, die daher bei Ausbruch einer
Hungersnot jede Hilfe zurückweisen und ohne eine Hand zu rühren, den Tod
erwarten. Hier hört aber wohl die moralische Verpflichtung der Behörde aus.

Außer der Überwachung der Notstandsarbeiten gibt es für die Aufsichts¬
beamten noch eine Menge anderweitiger Arbeit in einem „kamins ä!8tried":
Unterbringung der Kranken und Arbeitsunfähigen in Lazaretten und Ver¬
pflegungsstationen, Organisierung des Sanitätsdienstes, um die stets drohende
Seuchengefahr zu verringern, Überwachung der Brunnen usw. Ein englischer
Aufseher in einem Hungerbezirk ist wahrlich nicht auf Rosen gebettet. Die
unablässigen Inspektionsreisen durch Staub und Hitze in einem verdorrten,
von Lebensmitteln entblößten Lande stellen die schärfsten Anforderungen an
seine Widerstandskraft. Fast das Schlimmste aber ist der dauernde Kampf
mit unehrlichen eingeborenen Beamten, die selbst in solchen Zeiten der Not nicht
davor zurückschrecken, sich auf Kosten ihrer darbenden Landsleute zu bereichern.
Der .MminL noae", die vortreffliche Vorschrift für den Dienst in Hungersnot¬
bezirken, enthält ein Kapitel, das die üblichen Betrugsmanöver eingeborener
Beamten aufzählt. Fast in jeder Auflage erfährt dessen trauriger Inhalt eine
Bereicherung. Was würde wohl aus der ganzen Organisation werden, wenn
die englische Oberaufsicht fehlte? Die Hilflosigkeit mancher Eingeborenenstaaten
gegenüber solchen Katastrophen geben davon eine Vorstellung. Während des
Hungersnotjahres 1896 sank die Bevölkerung des Eingeborenenstaates Baroda
(nördlich Bombay) um fast 500000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von
rund 2^/2 Millionen. In den meisten anderen Eingeborenenstaaten sank damals
die Bevölkerungsziffer ebenfalls. Trotzdem vermehrte sich die Gesamtbevölkerung
des Landes von 1891 bis 1901 um 2,45 Prozent und in den unter direkter
englischer Verwaltung stehenden Landesteilen um fast 5 Prozent. Ohne Zweifel
läßt die Seuchenbekämpfung in Indien noch vieles zu wünschen übrig. Seit


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[0574] Die Engländer in Indien die Landessitte — Frauen so hoher Kaste, daß sie ihre Wohnungen nicht ver¬ lassen können (da diese eher in ihren Häusern verhungern würden, als sich in der Öffentlichkeit zu zeigen). Es gibt also zwei große Prinzipien: 1. Jedermann, der sich zur Arbeit stellt, bekommt Arbeit und Nahrung. Es heißt also nie: „Mehr Arbeiter können wir nicht bezahlen, es ist kein Geld mehr da"; sondern das nötige Geld wird grundsätzlich beschafft, sei es durch Anleihen, sei es durch Überweisung seitens der Zentralregierung. Verhungern braucht also niemand mehr. 2. Nur wer arbeitet, erhält eine Unterstützung (mit Ausnahme der oben bezeichneten Fälle). Damit wird der Demoralisation vorgebeugt, welche jede Gratisunterstützung nach sich zieht, und die Garantie gegeben, daß nur wirklich Bedürftige unterstützt werden. Allerdings findet sich in der energielosen indischen Landbevölkerung stets eine Anzahl von Leuten, welche die Hungersnot als eine Fügung des Himmels betrachten, gegen die es keine Rettung gibt, die daher bei Ausbruch einer Hungersnot jede Hilfe zurückweisen und ohne eine Hand zu rühren, den Tod erwarten. Hier hört aber wohl die moralische Verpflichtung der Behörde aus. Außer der Überwachung der Notstandsarbeiten gibt es für die Aufsichts¬ beamten noch eine Menge anderweitiger Arbeit in einem „kamins ä!8tried": Unterbringung der Kranken und Arbeitsunfähigen in Lazaretten und Ver¬ pflegungsstationen, Organisierung des Sanitätsdienstes, um die stets drohende Seuchengefahr zu verringern, Überwachung der Brunnen usw. Ein englischer Aufseher in einem Hungerbezirk ist wahrlich nicht auf Rosen gebettet. Die unablässigen Inspektionsreisen durch Staub und Hitze in einem verdorrten, von Lebensmitteln entblößten Lande stellen die schärfsten Anforderungen an seine Widerstandskraft. Fast das Schlimmste aber ist der dauernde Kampf mit unehrlichen eingeborenen Beamten, die selbst in solchen Zeiten der Not nicht davor zurückschrecken, sich auf Kosten ihrer darbenden Landsleute zu bereichern. Der .MminL noae", die vortreffliche Vorschrift für den Dienst in Hungersnot¬ bezirken, enthält ein Kapitel, das die üblichen Betrugsmanöver eingeborener Beamten aufzählt. Fast in jeder Auflage erfährt dessen trauriger Inhalt eine Bereicherung. Was würde wohl aus der ganzen Organisation werden, wenn die englische Oberaufsicht fehlte? Die Hilflosigkeit mancher Eingeborenenstaaten gegenüber solchen Katastrophen geben davon eine Vorstellung. Während des Hungersnotjahres 1896 sank die Bevölkerung des Eingeborenenstaates Baroda (nördlich Bombay) um fast 500000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 2^/2 Millionen. In den meisten anderen Eingeborenenstaaten sank damals die Bevölkerungsziffer ebenfalls. Trotzdem vermehrte sich die Gesamtbevölkerung des Landes von 1891 bis 1901 um 2,45 Prozent und in den unter direkter englischer Verwaltung stehenden Landesteilen um fast 5 Prozent. Ohne Zweifel läßt die Seuchenbekämpfung in Indien noch vieles zu wünschen übrig. Seit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/574>, abgerufen am 25.08.2024.