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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

versucht es die Sehnsucht unserer Zeit wieder einmal mit dem Symbol. Sie
versucht, intuitio, ahnend und fühlend, jenes Überindividuelle, jenes Allgemeine
zu erfassen und es dann symbolisch zu gestalten und zum Ausdruck zu bringen.
Das ist heute eine viel schwierigere Aufgabe als je in früheren Kulturepochen'
denn die Symbole, die das letzte Allgemeine hinter unserer heutigen, so bedeutend
erweiterten Naturerkenntnis fassen sollen, müssen von einer ganz besonderen Kraft
sein. Wenn es jedoch uns oder unseren Kindern wirklich gelingt, solche Symbole
zu schaffen und in ihnen jenes geahnte Allgemeine zu packenden Ausdruck zu
bringen, so steht die Kulturwelt an einem neuen und bedeutenden Wendepunkte
ihrer Geschichte. Dann werden jene Symbole wieder nicht nur die ersten Bestandteile
einer neuen Metaphysik zu einer neuen spekulativen Erfassung des Weltbildes
liefern, sondern ihre Erfassung durch daS Gefühl und ihre Erfüllung mit dem
gesamten Erlebnisgehalte des modernen Menschen kann dann sehr wohl auch zu
der Entwicklung einer neuen Religion führen.

Eine bedeutsame Rolle als Führerin und Mitkämpferin auf diesem Wege
steht dabei der modernen Kunst zu. Ist diese sich aber ihrer Aufgabe schon
bewußt? Und bereitet sie sich schon vor auf den Weg, den sie gehen muß?
Sammelt sie schon Ruhe, Ausgeglichenheit, einen klaren Blick für das Wesentliche
in der Natur? Schärft sie schon die Waffen zu dem großen Kampfe?

Wir glauben diese Fragen noch nicht unbedingt bejahen zu dürfen. Aber
trotz aller individualistischen Verirrungen, trotz des reklamehaften Kultus des
Persönlichen°nur-Persönlichen in manchen der jüngsten Kunstrichtungen glauben
wir doch die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß die Kunst ihre neue große
Aufgabe, mitzuhelfen bei der symbolischen Erfassung unseres modernen Lebens
und seines bleibenden Gehaltes, wenigstens ahne.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Volkswirtschaft

Der Geburtenrückgang. Die Rationali¬
sierung des Sexuallebens in unserer Zeit von
Dr. Julius Wolf, o. ö, Professor an der Uni¬
versität Breslau. Jena, Gustav Fischer, 1912.

Einen Anhang seiner "Volkswirtschaft in
Gegenwart und Zukunft" hatte Wolf dem Zu¬
sammenhange zwischen Geburtenziffer und Kon¬
fession gewidmet. (Siehe im zweiten Bande
der Grenzvoten von 1912 S. 442 ff.) Im
vorliegenden Werke wird der in allen Ländern
höherer Kultur nachgewiesene Geburtenrück¬
gang erschöpfend behandelt. Die gründliche
Kritik der Ursachen, mit denen man diese Er¬
scheinung zu erklären bersucht, führt zu dem
Ergebnis, daß Rationalisierung des Sexual¬
lebens die Grundursache ist. Es trifft nicht

[Spaltenumbruch]

zu, wenn die größere Wohlhabenheit der höher
zivilisierten Länder für das ausschlaggebende
gehalten wird; nicht bei großem, sondern bei
knappen Einkommen beginnt die Rationali¬
sierung. Nicht der Reichtum treibt zur Öko¬
nomie, sondern die Schule leitet dazu an.
Man hat rechnen gelernt und gewöhnt sich
daran, die Aufwendungen den Einnahmen an¬
zupassen. Daß die Naturtriebe nicht zügellos
walten dürfen, daß ihre Befriedigung von der
Vernunft geleitet und geregelt wird, versteht
sich ohnehin bei höherer Bildung von selbst.
Anfangs trägt die Rationalisierung einen edlen
Charakter; man will lieber weniger Kinder gut
erziehen und gut versorgen, als einen Haufen
in die Welt setzen, der in Gefahr schwebt, zu
tierderben oder zu verkümmern. Nach und
nach jedoch gewinnt die grobe Selbstsucht die

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

versucht es die Sehnsucht unserer Zeit wieder einmal mit dem Symbol. Sie
versucht, intuitio, ahnend und fühlend, jenes Überindividuelle, jenes Allgemeine
zu erfassen und es dann symbolisch zu gestalten und zum Ausdruck zu bringen.
Das ist heute eine viel schwierigere Aufgabe als je in früheren Kulturepochen'
denn die Symbole, die das letzte Allgemeine hinter unserer heutigen, so bedeutend
erweiterten Naturerkenntnis fassen sollen, müssen von einer ganz besonderen Kraft
sein. Wenn es jedoch uns oder unseren Kindern wirklich gelingt, solche Symbole
zu schaffen und in ihnen jenes geahnte Allgemeine zu packenden Ausdruck zu
bringen, so steht die Kulturwelt an einem neuen und bedeutenden Wendepunkte
ihrer Geschichte. Dann werden jene Symbole wieder nicht nur die ersten Bestandteile
einer neuen Metaphysik zu einer neuen spekulativen Erfassung des Weltbildes
liefern, sondern ihre Erfassung durch daS Gefühl und ihre Erfüllung mit dem
gesamten Erlebnisgehalte des modernen Menschen kann dann sehr wohl auch zu
der Entwicklung einer neuen Religion führen.

Eine bedeutsame Rolle als Führerin und Mitkämpferin auf diesem Wege
steht dabei der modernen Kunst zu. Ist diese sich aber ihrer Aufgabe schon
bewußt? Und bereitet sie sich schon vor auf den Weg, den sie gehen muß?
Sammelt sie schon Ruhe, Ausgeglichenheit, einen klaren Blick für das Wesentliche
in der Natur? Schärft sie schon die Waffen zu dem großen Kampfe?

Wir glauben diese Fragen noch nicht unbedingt bejahen zu dürfen. Aber
trotz aller individualistischen Verirrungen, trotz des reklamehaften Kultus des
Persönlichen°nur-Persönlichen in manchen der jüngsten Kunstrichtungen glauben
wir doch die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß die Kunst ihre neue große
Aufgabe, mitzuhelfen bei der symbolischen Erfassung unseres modernen Lebens
und seines bleibenden Gehaltes, wenigstens ahne.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Volkswirtschaft

Der Geburtenrückgang. Die Rationali¬
sierung des Sexuallebens in unserer Zeit von
Dr. Julius Wolf, o. ö, Professor an der Uni¬
versität Breslau. Jena, Gustav Fischer, 1912.

Einen Anhang seiner „Volkswirtschaft in
Gegenwart und Zukunft" hatte Wolf dem Zu¬
sammenhange zwischen Geburtenziffer und Kon¬
fession gewidmet. (Siehe im zweiten Bande
der Grenzvoten von 1912 S. 442 ff.) Im
vorliegenden Werke wird der in allen Ländern
höherer Kultur nachgewiesene Geburtenrück¬
gang erschöpfend behandelt. Die gründliche
Kritik der Ursachen, mit denen man diese Er¬
scheinung zu erklären bersucht, führt zu dem
Ergebnis, daß Rationalisierung des Sexual¬
lebens die Grundursache ist. Es trifft nicht

[Spaltenumbruch]

zu, wenn die größere Wohlhabenheit der höher
zivilisierten Länder für das ausschlaggebende
gehalten wird; nicht bei großem, sondern bei
knappen Einkommen beginnt die Rationali¬
sierung. Nicht der Reichtum treibt zur Öko¬
nomie, sondern die Schule leitet dazu an.
Man hat rechnen gelernt und gewöhnt sich
daran, die Aufwendungen den Einnahmen an¬
zupassen. Daß die Naturtriebe nicht zügellos
walten dürfen, daß ihre Befriedigung von der
Vernunft geleitet und geregelt wird, versteht
sich ohnehin bei höherer Bildung von selbst.
Anfangs trägt die Rationalisierung einen edlen
Charakter; man will lieber weniger Kinder gut
erziehen und gut versorgen, als einen Haufen
in die Welt setzen, der in Gefahr schwebt, zu
tierderben oder zu verkümmern. Nach und
nach jedoch gewinnt die grobe Selbstsucht die

[Ende Spaltensatz]
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[0057] Maßgebliches und Unmaßgebliches versucht es die Sehnsucht unserer Zeit wieder einmal mit dem Symbol. Sie versucht, intuitio, ahnend und fühlend, jenes Überindividuelle, jenes Allgemeine zu erfassen und es dann symbolisch zu gestalten und zum Ausdruck zu bringen. Das ist heute eine viel schwierigere Aufgabe als je in früheren Kulturepochen' denn die Symbole, die das letzte Allgemeine hinter unserer heutigen, so bedeutend erweiterten Naturerkenntnis fassen sollen, müssen von einer ganz besonderen Kraft sein. Wenn es jedoch uns oder unseren Kindern wirklich gelingt, solche Symbole zu schaffen und in ihnen jenes geahnte Allgemeine zu packenden Ausdruck zu bringen, so steht die Kulturwelt an einem neuen und bedeutenden Wendepunkte ihrer Geschichte. Dann werden jene Symbole wieder nicht nur die ersten Bestandteile einer neuen Metaphysik zu einer neuen spekulativen Erfassung des Weltbildes liefern, sondern ihre Erfassung durch daS Gefühl und ihre Erfüllung mit dem gesamten Erlebnisgehalte des modernen Menschen kann dann sehr wohl auch zu der Entwicklung einer neuen Religion führen. Eine bedeutsame Rolle als Führerin und Mitkämpferin auf diesem Wege steht dabei der modernen Kunst zu. Ist diese sich aber ihrer Aufgabe schon bewußt? Und bereitet sie sich schon vor auf den Weg, den sie gehen muß? Sammelt sie schon Ruhe, Ausgeglichenheit, einen klaren Blick für das Wesentliche in der Natur? Schärft sie schon die Waffen zu dem großen Kampfe? Wir glauben diese Fragen noch nicht unbedingt bejahen zu dürfen. Aber trotz aller individualistischen Verirrungen, trotz des reklamehaften Kultus des Persönlichen°nur-Persönlichen in manchen der jüngsten Kunstrichtungen glauben wir doch die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß die Kunst ihre neue große Aufgabe, mitzuhelfen bei der symbolischen Erfassung unseres modernen Lebens und seines bleibenden Gehaltes, wenigstens ahne. Maßgebliches und Unmaßgebliches Volkswirtschaft Der Geburtenrückgang. Die Rationali¬ sierung des Sexuallebens in unserer Zeit von Dr. Julius Wolf, o. ö, Professor an der Uni¬ versität Breslau. Jena, Gustav Fischer, 1912. Einen Anhang seiner „Volkswirtschaft in Gegenwart und Zukunft" hatte Wolf dem Zu¬ sammenhange zwischen Geburtenziffer und Kon¬ fession gewidmet. (Siehe im zweiten Bande der Grenzvoten von 1912 S. 442 ff.) Im vorliegenden Werke wird der in allen Ländern höherer Kultur nachgewiesene Geburtenrück¬ gang erschöpfend behandelt. Die gründliche Kritik der Ursachen, mit denen man diese Er¬ scheinung zu erklären bersucht, führt zu dem Ergebnis, daß Rationalisierung des Sexual¬ lebens die Grundursache ist. Es trifft nicht zu, wenn die größere Wohlhabenheit der höher zivilisierten Länder für das ausschlaggebende gehalten wird; nicht bei großem, sondern bei knappen Einkommen beginnt die Rationali¬ sierung. Nicht der Reichtum treibt zur Öko¬ nomie, sondern die Schule leitet dazu an. Man hat rechnen gelernt und gewöhnt sich daran, die Aufwendungen den Einnahmen an¬ zupassen. Daß die Naturtriebe nicht zügellos walten dürfen, daß ihre Befriedigung von der Vernunft geleitet und geregelt wird, versteht sich ohnehin bei höherer Bildung von selbst. Anfangs trägt die Rationalisierung einen edlen Charakter; man will lieber weniger Kinder gut erziehen und gut versorgen, als einen Haufen in die Welt setzen, der in Gefahr schwebt, zu tierderben oder zu verkümmern. Nach und nach jedoch gewinnt die grobe Selbstsucht die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/57>, abgerufen am 22.12.2024.