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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht

ungen von der Kantonpflicht aufgehoben. Das war die wirkliche Durchführung
der allgemeinen Wehrpflicht, die für die gebildeten Klassen dadurch erleichtert wurde,
daß sich der freiwillige Jäger der Befreiungskriege in den Einjährig-Freiwilligen
verwandelte. An die Stelle der willkürlichen Beurlaubungen und Entlassungen
des Polizeistaates tritt nunmehr eine feste rechtliche Ordnung mit bestimmter
Dauer des Dienstes im stehenden Heere, der Reserve, der Landwehr ersten und
zweiten Aufgebots und dem Landsturme.

Die Bestimmung der Friedenspräsenz und der Kadres blieb nach wie vor
ein Recht der absoluten Krone. ,

Alle diese neue Ordnungen wurden feierlich in der Gesetzsammlung ver¬
kündet.

Damit war das Heer auf dem Boden der allgemeinen Wehrpflicht end¬
gültig in den modernen Staat eingefügt.

Die preußische Verfassungsurkunde stellte in Artikel 34 ausdrücklich den
Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht nach Maßgabe des Gesetzes auf. Über
die Friedenspräsenz besagte sie nichts, ließ es also bei dem bestehenden Rechte,
daß deren Bestimmung Sache des obersten Kriegsherrn sei. Insbesondere hatte
sie trotz ihrer sonstigen Anlehnung an die belgische Verfassung deren Artikel 119
nicht übernommen, wonach die Friedenspräsenz jährlich durch ein Gesetz fest¬
gestellt wird, und dieses nur für ein Jahr gilt, wenn es nicht erneuert wird.

Auf diesem Boden spielte sich der preußische Verfassungskonflikt der sechziger
Jahre ab. Durch Anordnung des obersten Kriegsherrn wurde innerhalb des
Rahmens der bestehenden allgemeinen Wehrpflicht das stehende Heer bedeutend
verstärkt und die Friedenspräsenz erhöht, gleichzeitig die Grenze zwischen
Reserve- und Landwehrdienstpflicht verschoben. Der Landtag bewilligte die
Mittel für diese dauernde Armeereorganisation König Wilhelms zunächst für
mehrere Jahre unter den: Titel einer vorübergehenden Kriegsbereitschaft. Als
er dann den Betrag aus dem Etat absetzte, während die Regierung die Armee¬
reorganisation nicht rückgängig machen wollte, war der Verfassungskonflikt
gegeben.

Von der vielbesprochenen Lücke der Verfassungsurkunde konnte im Ernst
gar nicht die Rede sein, da alle Lücken der Verfassungsurkunde durch das
vorverfassungsmäßige Recht ausgefüllt wurden. Die gemäßigt Liberalen stützten
sich bei ihrem Widerspruche gegen die Armeereorganisation darauf, daß die
Grundlagen der früheren Organisation von der absoluten Krone in der Gesetz¬
sammlung verkündet seien, und Gesetz nur durch Gesetz geändert werden kann.
Freilich nicht alles, was in der Gesetzsammlung stand, war um deßwillen schon
Gesetz. Die Linke vertrat die Ideen des allgemeinen konstitutionellen Staats¬
rechtes. Jede Lücke des geschriebenen Verfassungstextes sollte durch den allge¬
meinen konstitutionellen Brauch wie in England und Belgien ausgefüllt werden.
Hier wurde das alljährliche englische Meutereigesetz für Preußen von verhängnis¬
voller Bedeutung. Da man eine ausdrückliche Verfassungsbestimmung über


Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht

ungen von der Kantonpflicht aufgehoben. Das war die wirkliche Durchführung
der allgemeinen Wehrpflicht, die für die gebildeten Klassen dadurch erleichtert wurde,
daß sich der freiwillige Jäger der Befreiungskriege in den Einjährig-Freiwilligen
verwandelte. An die Stelle der willkürlichen Beurlaubungen und Entlassungen
des Polizeistaates tritt nunmehr eine feste rechtliche Ordnung mit bestimmter
Dauer des Dienstes im stehenden Heere, der Reserve, der Landwehr ersten und
zweiten Aufgebots und dem Landsturme.

Die Bestimmung der Friedenspräsenz und der Kadres blieb nach wie vor
ein Recht der absoluten Krone. ,

Alle diese neue Ordnungen wurden feierlich in der Gesetzsammlung ver¬
kündet.

Damit war das Heer auf dem Boden der allgemeinen Wehrpflicht end¬
gültig in den modernen Staat eingefügt.

Die preußische Verfassungsurkunde stellte in Artikel 34 ausdrücklich den
Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht nach Maßgabe des Gesetzes auf. Über
die Friedenspräsenz besagte sie nichts, ließ es also bei dem bestehenden Rechte,
daß deren Bestimmung Sache des obersten Kriegsherrn sei. Insbesondere hatte
sie trotz ihrer sonstigen Anlehnung an die belgische Verfassung deren Artikel 119
nicht übernommen, wonach die Friedenspräsenz jährlich durch ein Gesetz fest¬
gestellt wird, und dieses nur für ein Jahr gilt, wenn es nicht erneuert wird.

Auf diesem Boden spielte sich der preußische Verfassungskonflikt der sechziger
Jahre ab. Durch Anordnung des obersten Kriegsherrn wurde innerhalb des
Rahmens der bestehenden allgemeinen Wehrpflicht das stehende Heer bedeutend
verstärkt und die Friedenspräsenz erhöht, gleichzeitig die Grenze zwischen
Reserve- und Landwehrdienstpflicht verschoben. Der Landtag bewilligte die
Mittel für diese dauernde Armeereorganisation König Wilhelms zunächst für
mehrere Jahre unter den: Titel einer vorübergehenden Kriegsbereitschaft. Als
er dann den Betrag aus dem Etat absetzte, während die Regierung die Armee¬
reorganisation nicht rückgängig machen wollte, war der Verfassungskonflikt
gegeben.

Von der vielbesprochenen Lücke der Verfassungsurkunde konnte im Ernst
gar nicht die Rede sein, da alle Lücken der Verfassungsurkunde durch das
vorverfassungsmäßige Recht ausgefüllt wurden. Die gemäßigt Liberalen stützten
sich bei ihrem Widerspruche gegen die Armeereorganisation darauf, daß die
Grundlagen der früheren Organisation von der absoluten Krone in der Gesetz¬
sammlung verkündet seien, und Gesetz nur durch Gesetz geändert werden kann.
Freilich nicht alles, was in der Gesetzsammlung stand, war um deßwillen schon
Gesetz. Die Linke vertrat die Ideen des allgemeinen konstitutionellen Staats¬
rechtes. Jede Lücke des geschriebenen Verfassungstextes sollte durch den allge¬
meinen konstitutionellen Brauch wie in England und Belgien ausgefüllt werden.
Hier wurde das alljährliche englische Meutereigesetz für Preußen von verhängnis¬
voller Bedeutung. Da man eine ausdrückliche Verfassungsbestimmung über


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[0508] Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht ungen von der Kantonpflicht aufgehoben. Das war die wirkliche Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, die für die gebildeten Klassen dadurch erleichtert wurde, daß sich der freiwillige Jäger der Befreiungskriege in den Einjährig-Freiwilligen verwandelte. An die Stelle der willkürlichen Beurlaubungen und Entlassungen des Polizeistaates tritt nunmehr eine feste rechtliche Ordnung mit bestimmter Dauer des Dienstes im stehenden Heere, der Reserve, der Landwehr ersten und zweiten Aufgebots und dem Landsturme. Die Bestimmung der Friedenspräsenz und der Kadres blieb nach wie vor ein Recht der absoluten Krone. , Alle diese neue Ordnungen wurden feierlich in der Gesetzsammlung ver¬ kündet. Damit war das Heer auf dem Boden der allgemeinen Wehrpflicht end¬ gültig in den modernen Staat eingefügt. Die preußische Verfassungsurkunde stellte in Artikel 34 ausdrücklich den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht nach Maßgabe des Gesetzes auf. Über die Friedenspräsenz besagte sie nichts, ließ es also bei dem bestehenden Rechte, daß deren Bestimmung Sache des obersten Kriegsherrn sei. Insbesondere hatte sie trotz ihrer sonstigen Anlehnung an die belgische Verfassung deren Artikel 119 nicht übernommen, wonach die Friedenspräsenz jährlich durch ein Gesetz fest¬ gestellt wird, und dieses nur für ein Jahr gilt, wenn es nicht erneuert wird. Auf diesem Boden spielte sich der preußische Verfassungskonflikt der sechziger Jahre ab. Durch Anordnung des obersten Kriegsherrn wurde innerhalb des Rahmens der bestehenden allgemeinen Wehrpflicht das stehende Heer bedeutend verstärkt und die Friedenspräsenz erhöht, gleichzeitig die Grenze zwischen Reserve- und Landwehrdienstpflicht verschoben. Der Landtag bewilligte die Mittel für diese dauernde Armeereorganisation König Wilhelms zunächst für mehrere Jahre unter den: Titel einer vorübergehenden Kriegsbereitschaft. Als er dann den Betrag aus dem Etat absetzte, während die Regierung die Armee¬ reorganisation nicht rückgängig machen wollte, war der Verfassungskonflikt gegeben. Von der vielbesprochenen Lücke der Verfassungsurkunde konnte im Ernst gar nicht die Rede sein, da alle Lücken der Verfassungsurkunde durch das vorverfassungsmäßige Recht ausgefüllt wurden. Die gemäßigt Liberalen stützten sich bei ihrem Widerspruche gegen die Armeereorganisation darauf, daß die Grundlagen der früheren Organisation von der absoluten Krone in der Gesetz¬ sammlung verkündet seien, und Gesetz nur durch Gesetz geändert werden kann. Freilich nicht alles, was in der Gesetzsammlung stand, war um deßwillen schon Gesetz. Die Linke vertrat die Ideen des allgemeinen konstitutionellen Staats¬ rechtes. Jede Lücke des geschriebenen Verfassungstextes sollte durch den allge¬ meinen konstitutionellen Brauch wie in England und Belgien ausgefüllt werden. Hier wurde das alljährliche englische Meutereigesetz für Preußen von verhängnis¬ voller Bedeutung. Da man eine ausdrückliche Verfassungsbestimmung über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/508>, abgerufen am 22.12.2024.