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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Fürsten und Völker

Wer von einer Kriegsgefahr nichts bemerken will, wird mir entgegenhalten
können, daß gerade in diesem Augenblick die Friedenssehnsucht allgemein größer
sei als schon seit Monaten, wird vielleicht auch wie Kiderlen-Wächter noch am
24. November 1912 sprechen: "Bluff, alles Bluff! Krieg gibt es nur dann,
wenn einer so mordsdämlich ist, sich so zu verblüffen, daß er schießen muß!"
Die Beobachtung ist durchaus zutreffend: die Völker Europas sind im Grunde
genommen friedliebend und der Orientwirren überdrüssig; Türken und Bulgaren
neigen zum Frieden, beide sind müde des fruchtlosen Kampfes, dessen Ausgang nur
Verblutung beider Gegner sein könnte; zwischen Rumänen und Bulgaren beginnt
sich eine Verständigung anzubahnen, und das wichtigste, auch zwischen der Donau¬
monarchie und Rußland schwindet, wenn auch nur langsam, die Spannung.
Dem allen aber steht die Tatsache gegenüber, daß das Kräfteverhältnis sich
im nahen Orient zugunsten der Slawen und damit auch zugunsten Frankreichs
verschoben hat. Die slawischen Balkanstaaten haben eine erhebliche Stärkung
erfahren, ohne daß Bulgarien doch stark genug geworden wäre, um Rußland
unbequem zu werden, im Gegenteil, es bedarf heute Rußlands schützender Hand
mehr denn je, da es Frankreichs Geld braucht zur Wiederherstellung seiner
dezimierten Armee, wenn es nicht mit klingendem Spiele in das Dreibundlager
übergehen will. Die russische Diplomatie wird nicht zögern, diesen Zustand
nach Kräften auszunutzen sowohl Frankreich gegenüber, das wirtschaftlich der
stärkste Gegner der Dreibundmächte im Orient ist, wie gegen Österreich-Ungarn,
dessen Stellung auf der Balkanhalbinsel erheblich erschwert wurde. Also die
Schwächung der Dreibundstellung im nahen Orient ist der eine Grund für die
Heeresverstärkungen! Er würde indessen nicht ausreichen, um eine so gewaltige
Heeresverstärkung zu rechtfertigen, wie sie geplant ist; dort unten steht Öster¬
reich-Ungarn im Vordergrund und dieses vermehrt gegenwärtig gleichfalls seine
Armee.

Wichtiger noch für uns Reichsdeutsche ist die verstärkte Gemeinsamkeit der
Interessen, die durch den Ausgang des Balkankrieges zwischen Rußland und
Frankreich eingetreten ist.

Die Ernennung unseres alten Gegners Delcassö zu Frankreichs Botschafter
in Petersburg, die Verleihung des Andreasordens, den sonst im Auslande
nur gekrönte Häupter erhalten haben, an den neuen Präsidenten der Republik, --
das alles wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt, wo Rußland kein französisches
Geld in höherem Maße braucht, nicht recht verständlich, wenn der Zweibund
nicht beabsichtigte, die neue Lage rücksichtslos auszubeuten. 'Hier handelt
es sich nicht um "Bluff", wenn auch den Regierungen Frankreichs und Rußlands
ohne weiteres zugestanden wird, daß sie nicht direkt auf Krieg hinwirken. Da
aber steigt ein weiteres Gespenst auf: werden die Regierungen nervenstark genug
bleiben, um den Ausbruch eines Krieges verhindern zu können? In Frankreich
regt sich der Chauvinismus ungeheuer, und in Rußland hat der allrussische
Demos einen so auffälligen Sieg über das Staatsoberhaupt davongetragen, daß


Fürsten und Völker

Wer von einer Kriegsgefahr nichts bemerken will, wird mir entgegenhalten
können, daß gerade in diesem Augenblick die Friedenssehnsucht allgemein größer
sei als schon seit Monaten, wird vielleicht auch wie Kiderlen-Wächter noch am
24. November 1912 sprechen: „Bluff, alles Bluff! Krieg gibt es nur dann,
wenn einer so mordsdämlich ist, sich so zu verblüffen, daß er schießen muß!"
Die Beobachtung ist durchaus zutreffend: die Völker Europas sind im Grunde
genommen friedliebend und der Orientwirren überdrüssig; Türken und Bulgaren
neigen zum Frieden, beide sind müde des fruchtlosen Kampfes, dessen Ausgang nur
Verblutung beider Gegner sein könnte; zwischen Rumänen und Bulgaren beginnt
sich eine Verständigung anzubahnen, und das wichtigste, auch zwischen der Donau¬
monarchie und Rußland schwindet, wenn auch nur langsam, die Spannung.
Dem allen aber steht die Tatsache gegenüber, daß das Kräfteverhältnis sich
im nahen Orient zugunsten der Slawen und damit auch zugunsten Frankreichs
verschoben hat. Die slawischen Balkanstaaten haben eine erhebliche Stärkung
erfahren, ohne daß Bulgarien doch stark genug geworden wäre, um Rußland
unbequem zu werden, im Gegenteil, es bedarf heute Rußlands schützender Hand
mehr denn je, da es Frankreichs Geld braucht zur Wiederherstellung seiner
dezimierten Armee, wenn es nicht mit klingendem Spiele in das Dreibundlager
übergehen will. Die russische Diplomatie wird nicht zögern, diesen Zustand
nach Kräften auszunutzen sowohl Frankreich gegenüber, das wirtschaftlich der
stärkste Gegner der Dreibundmächte im Orient ist, wie gegen Österreich-Ungarn,
dessen Stellung auf der Balkanhalbinsel erheblich erschwert wurde. Also die
Schwächung der Dreibundstellung im nahen Orient ist der eine Grund für die
Heeresverstärkungen! Er würde indessen nicht ausreichen, um eine so gewaltige
Heeresverstärkung zu rechtfertigen, wie sie geplant ist; dort unten steht Öster¬
reich-Ungarn im Vordergrund und dieses vermehrt gegenwärtig gleichfalls seine
Armee.

Wichtiger noch für uns Reichsdeutsche ist die verstärkte Gemeinsamkeit der
Interessen, die durch den Ausgang des Balkankrieges zwischen Rußland und
Frankreich eingetreten ist.

Die Ernennung unseres alten Gegners Delcassö zu Frankreichs Botschafter
in Petersburg, die Verleihung des Andreasordens, den sonst im Auslande
nur gekrönte Häupter erhalten haben, an den neuen Präsidenten der Republik, —
das alles wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt, wo Rußland kein französisches
Geld in höherem Maße braucht, nicht recht verständlich, wenn der Zweibund
nicht beabsichtigte, die neue Lage rücksichtslos auszubeuten. 'Hier handelt
es sich nicht um „Bluff", wenn auch den Regierungen Frankreichs und Rußlands
ohne weiteres zugestanden wird, daß sie nicht direkt auf Krieg hinwirken. Da
aber steigt ein weiteres Gespenst auf: werden die Regierungen nervenstark genug
bleiben, um den Ausbruch eines Krieges verhindern zu können? In Frankreich
regt sich der Chauvinismus ungeheuer, und in Rußland hat der allrussische
Demos einen so auffälligen Sieg über das Staatsoberhaupt davongetragen, daß


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[0502] Fürsten und Völker Wer von einer Kriegsgefahr nichts bemerken will, wird mir entgegenhalten können, daß gerade in diesem Augenblick die Friedenssehnsucht allgemein größer sei als schon seit Monaten, wird vielleicht auch wie Kiderlen-Wächter noch am 24. November 1912 sprechen: „Bluff, alles Bluff! Krieg gibt es nur dann, wenn einer so mordsdämlich ist, sich so zu verblüffen, daß er schießen muß!" Die Beobachtung ist durchaus zutreffend: die Völker Europas sind im Grunde genommen friedliebend und der Orientwirren überdrüssig; Türken und Bulgaren neigen zum Frieden, beide sind müde des fruchtlosen Kampfes, dessen Ausgang nur Verblutung beider Gegner sein könnte; zwischen Rumänen und Bulgaren beginnt sich eine Verständigung anzubahnen, und das wichtigste, auch zwischen der Donau¬ monarchie und Rußland schwindet, wenn auch nur langsam, die Spannung. Dem allen aber steht die Tatsache gegenüber, daß das Kräfteverhältnis sich im nahen Orient zugunsten der Slawen und damit auch zugunsten Frankreichs verschoben hat. Die slawischen Balkanstaaten haben eine erhebliche Stärkung erfahren, ohne daß Bulgarien doch stark genug geworden wäre, um Rußland unbequem zu werden, im Gegenteil, es bedarf heute Rußlands schützender Hand mehr denn je, da es Frankreichs Geld braucht zur Wiederherstellung seiner dezimierten Armee, wenn es nicht mit klingendem Spiele in das Dreibundlager übergehen will. Die russische Diplomatie wird nicht zögern, diesen Zustand nach Kräften auszunutzen sowohl Frankreich gegenüber, das wirtschaftlich der stärkste Gegner der Dreibundmächte im Orient ist, wie gegen Österreich-Ungarn, dessen Stellung auf der Balkanhalbinsel erheblich erschwert wurde. Also die Schwächung der Dreibundstellung im nahen Orient ist der eine Grund für die Heeresverstärkungen! Er würde indessen nicht ausreichen, um eine so gewaltige Heeresverstärkung zu rechtfertigen, wie sie geplant ist; dort unten steht Öster¬ reich-Ungarn im Vordergrund und dieses vermehrt gegenwärtig gleichfalls seine Armee. Wichtiger noch für uns Reichsdeutsche ist die verstärkte Gemeinsamkeit der Interessen, die durch den Ausgang des Balkankrieges zwischen Rußland und Frankreich eingetreten ist. Die Ernennung unseres alten Gegners Delcassö zu Frankreichs Botschafter in Petersburg, die Verleihung des Andreasordens, den sonst im Auslande nur gekrönte Häupter erhalten haben, an den neuen Präsidenten der Republik, — das alles wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt, wo Rußland kein französisches Geld in höherem Maße braucht, nicht recht verständlich, wenn der Zweibund nicht beabsichtigte, die neue Lage rücksichtslos auszubeuten. 'Hier handelt es sich nicht um „Bluff", wenn auch den Regierungen Frankreichs und Rußlands ohne weiteres zugestanden wird, daß sie nicht direkt auf Krieg hinwirken. Da aber steigt ein weiteres Gespenst auf: werden die Regierungen nervenstark genug bleiben, um den Ausbruch eines Krieges verhindern zu können? In Frankreich regt sich der Chauvinismus ungeheuer, und in Rußland hat der allrussische Demos einen so auffälligen Sieg über das Staatsoberhaupt davongetragen, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/502>, abgerufen am 24.07.2024.