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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

die niedere Balkenhalle. -- Man läßt den Herrn Landrat leben und immer
wieder leben. Hurra und nochmal Hurra!--

Als man am späten Abend aufbricht, sind droben alle Löcher zugestopft,
und der alte Mond lacht vom Himmel herab.

Das war ein Fest! -- Die Lokomotive ist inzwischen von kräftigen Männer¬
armen wieder auf die Schienen gestellt worden, und als der Herr Landrat mit
seinem Gefolge die Heimfahrt antritt, ist er vergnügt. Die Trebeldorfer haben
ihm gefallen, er den Trebeldorfern aber auch. -- Das war ein Fest!

Der Bürgermeister ist noch in mitternächtiger Stunde bei Holzberg gesichtet
worden. Dort hat er den Uhrmacher Jerschkow zum Vizelandrat ernannt, um
vor ihm noch einmal seine tiefsinnige Empfangsrede deklamieren zu können.
Er selbst ist sein begeistertster Zuhörer gewesen. Damit hat er seinen letzten
glücklichen Moment und einen ruhmreichen Abgang gehabt, denn nun ist er -- tot.

Vor vier Tagen hat die große Feier stattgefunden. Als ich in der Dämmer¬
stunde des nächsten Nachmittages vom Spaziergange durch das Tor heimkomme,
tritt mit verstörter Miene der Kaufmann Abel auf mich zu: "Wissen Sie schon?
Unser Bürgermeister ist vor einer Stunde sanft entschlafen."

Ich bin sprachlos.

"Ja," sagt er, "um elf Uhr ist er fröhlich aufgestanden. Dann hat er
sich Selterwasser kommen lassen, vierzehn Flaschen. Er hat sie alle ausgetrunken;
aber das war zuviel. Es hat ihn übermannt."

"Friede mit ihm!", antworte ich. "Der Himmel wird ihm diese Sünde
nicht behalten."

Morgen tragen wir ihn zur Erde. Und er war doch ein guter Mensch.
Niemand besinnt sich, von ihm je ein Leid erfahren zu haben.

Von mir heute nichts. Nur daß Anna jetzt ihre Stunden alle in meiner
Wohnung erhält. In ihrem Hause gings nicht mehr. Zu viele Störung.

Gruß an Dich und Deine liebe Braut.


Dein Edward.

Trebeldorf, den 26. Januar 19 . .


Lieber Cunz,

heute nur ein paar flüchtig hingeworfene Zeilen. Ich bin noch mit der
Kaisergeburtstagsrede beschäftigt, die ich für die Schulfeier morgen über¬
nommen habe.

Wüßte ich nicht, wie herzlich gut Du es mit mir meinst, so möchte es
sein, daß ich Dir zornig den Rücken kehrte; und hätte ich nicht Hunderte von
Beweisen dafür, daß Du immer bemüht gewesen bist, als aufrechter Mann mit
wachen Augen ohne Vorurteile durch die Welt zu schreiten, so müßte ich, weiß
Gott, glauben, Du wandertest mit dem Troß der Spießer im ausgetretenen
Geleise einer fadenscheinig gewordenen Philistermoral.


Briefe aus Trebeldorf

die niedere Balkenhalle. — Man läßt den Herrn Landrat leben und immer
wieder leben. Hurra und nochmal Hurra!--

Als man am späten Abend aufbricht, sind droben alle Löcher zugestopft,
und der alte Mond lacht vom Himmel herab.

Das war ein Fest! — Die Lokomotive ist inzwischen von kräftigen Männer¬
armen wieder auf die Schienen gestellt worden, und als der Herr Landrat mit
seinem Gefolge die Heimfahrt antritt, ist er vergnügt. Die Trebeldorfer haben
ihm gefallen, er den Trebeldorfern aber auch. — Das war ein Fest!

Der Bürgermeister ist noch in mitternächtiger Stunde bei Holzberg gesichtet
worden. Dort hat er den Uhrmacher Jerschkow zum Vizelandrat ernannt, um
vor ihm noch einmal seine tiefsinnige Empfangsrede deklamieren zu können.
Er selbst ist sein begeistertster Zuhörer gewesen. Damit hat er seinen letzten
glücklichen Moment und einen ruhmreichen Abgang gehabt, denn nun ist er — tot.

Vor vier Tagen hat die große Feier stattgefunden. Als ich in der Dämmer¬
stunde des nächsten Nachmittages vom Spaziergange durch das Tor heimkomme,
tritt mit verstörter Miene der Kaufmann Abel auf mich zu: „Wissen Sie schon?
Unser Bürgermeister ist vor einer Stunde sanft entschlafen."

Ich bin sprachlos.

„Ja," sagt er, „um elf Uhr ist er fröhlich aufgestanden. Dann hat er
sich Selterwasser kommen lassen, vierzehn Flaschen. Er hat sie alle ausgetrunken;
aber das war zuviel. Es hat ihn übermannt."

„Friede mit ihm!", antworte ich. „Der Himmel wird ihm diese Sünde
nicht behalten."

Morgen tragen wir ihn zur Erde. Und er war doch ein guter Mensch.
Niemand besinnt sich, von ihm je ein Leid erfahren zu haben.

Von mir heute nichts. Nur daß Anna jetzt ihre Stunden alle in meiner
Wohnung erhält. In ihrem Hause gings nicht mehr. Zu viele Störung.

Gruß an Dich und Deine liebe Braut.


Dein Edward.

Trebeldorf, den 26. Januar 19 . .


Lieber Cunz,

heute nur ein paar flüchtig hingeworfene Zeilen. Ich bin noch mit der
Kaisergeburtstagsrede beschäftigt, die ich für die Schulfeier morgen über¬
nommen habe.

Wüßte ich nicht, wie herzlich gut Du es mit mir meinst, so möchte es
sein, daß ich Dir zornig den Rücken kehrte; und hätte ich nicht Hunderte von
Beweisen dafür, daß Du immer bemüht gewesen bist, als aufrechter Mann mit
wachen Augen ohne Vorurteile durch die Welt zu schreiten, so müßte ich, weiß
Gott, glauben, Du wandertest mit dem Troß der Spießer im ausgetretenen
Geleise einer fadenscheinig gewordenen Philistermoral.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/490>, abgerufen am 23.12.2024.