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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

Das ist stimmungsvoll, wie für die Situation eigens gedichtet.

Nur noch dreißig Meter, dann hält er, der Zug.

Wir, die wir vorne stehen, sehen, wie die flüchtig gelegten Schienen sich
senken, mehr auf der einen Seite. Der morastige Boden lagert noch zu locker.
Aber es sind Fachleute am Werk gewesen. Was will das bedeuten!

Hurra! Hurra! Immer wieder Hurra! Zu uns kommt die Kultur, und
im Zuge sitzt der Herr Landrat.

schneidig will der Lokomotivführer sein stolz bekränztes Dampfroß vor¬
führen. Da -- was ist das? -- Ein Gequietsche, ein Ächzen, ein Gepolter,
ein Entsetzensschrei! Die Lokomotive bäumt sich auf, sie verläßt ihren Schienen¬
pfad, holpert rumpelnd über ein paar Schwellen, und wie ein am Ziel ver¬
endender Renner sinkt sie zur Seite mit Schnaufen, Pusten, Stöhnen.

Heizer und Führer springen ab. Die zwei Wagen werden ein paarmal
zurück und vorwärts gestoßen. Dann hält das Fuhrwerk.

Ein kurzer Augenblick das alles. -- Schon atmet man wieder. Gottlob,
nichts ist verletzt.

Der alte Kantor, in der Ruhe des Vielgeprüften, erfaßt sofort die Lage.
Die zweite Strophe wird überschlagen, und mit würdiger Getragenheit setzt
die dritte ein:

Das wirkt wie Öl auf empörten Wogen.

Dem Wagen entsteigt der Landrat, ein groß gewachsener, noch junger,
schöner Mann von flottem Aussehen, mit einem mächtigen Durchzieher auf der
linken Backe. Hinter ihm ein langer Schweif von Gefolge.

Die Herren find in animiertester Stimmung, die durch den kleinen Unfall
noch gehobener scheint. Sie haben Restauration an Bord gehabt. Mit über¬
legenem Lächeln schaut der Herr Landrat auf die gekenterte Lokomotive. --
Bagatelle! Wer wird so etwas ernst nehmen!

Hurra! Hurra! Immer wieder Hurra!

Aus der Reihe der Ehrenjungfrauen tritt mit festem Schritt Irene Schulze
auf den hohen Herrn zu. Jesepha Pluderig ist plötzlich erkrankt, und mutig
hat Irene für sie den Willkommspruch übernommen. Sie hat ihn eilig gelernt.
Er sitzt noch nicht ganz fest:


Briefe aus Trebeldorf

Das ist stimmungsvoll, wie für die Situation eigens gedichtet.

Nur noch dreißig Meter, dann hält er, der Zug.

Wir, die wir vorne stehen, sehen, wie die flüchtig gelegten Schienen sich
senken, mehr auf der einen Seite. Der morastige Boden lagert noch zu locker.
Aber es sind Fachleute am Werk gewesen. Was will das bedeuten!

Hurra! Hurra! Immer wieder Hurra! Zu uns kommt die Kultur, und
im Zuge sitzt der Herr Landrat.

schneidig will der Lokomotivführer sein stolz bekränztes Dampfroß vor¬
führen. Da — was ist das? — Ein Gequietsche, ein Ächzen, ein Gepolter,
ein Entsetzensschrei! Die Lokomotive bäumt sich auf, sie verläßt ihren Schienen¬
pfad, holpert rumpelnd über ein paar Schwellen, und wie ein am Ziel ver¬
endender Renner sinkt sie zur Seite mit Schnaufen, Pusten, Stöhnen.

Heizer und Führer springen ab. Die zwei Wagen werden ein paarmal
zurück und vorwärts gestoßen. Dann hält das Fuhrwerk.

Ein kurzer Augenblick das alles. — Schon atmet man wieder. Gottlob,
nichts ist verletzt.

Der alte Kantor, in der Ruhe des Vielgeprüften, erfaßt sofort die Lage.
Die zweite Strophe wird überschlagen, und mit würdiger Getragenheit setzt
die dritte ein:

Das wirkt wie Öl auf empörten Wogen.

Dem Wagen entsteigt der Landrat, ein groß gewachsener, noch junger,
schöner Mann von flottem Aussehen, mit einem mächtigen Durchzieher auf der
linken Backe. Hinter ihm ein langer Schweif von Gefolge.

Die Herren find in animiertester Stimmung, die durch den kleinen Unfall
noch gehobener scheint. Sie haben Restauration an Bord gehabt. Mit über¬
legenem Lächeln schaut der Herr Landrat auf die gekenterte Lokomotive. —
Bagatelle! Wer wird so etwas ernst nehmen!

Hurra! Hurra! Immer wieder Hurra!

Aus der Reihe der Ehrenjungfrauen tritt mit festem Schritt Irene Schulze
auf den hohen Herrn zu. Jesepha Pluderig ist plötzlich erkrankt, und mutig
hat Irene für sie den Willkommspruch übernommen. Sie hat ihn eilig gelernt.
Er sitzt noch nicht ganz fest:


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[0488] Briefe aus Trebeldorf Das ist stimmungsvoll, wie für die Situation eigens gedichtet. Nur noch dreißig Meter, dann hält er, der Zug. Wir, die wir vorne stehen, sehen, wie die flüchtig gelegten Schienen sich senken, mehr auf der einen Seite. Der morastige Boden lagert noch zu locker. Aber es sind Fachleute am Werk gewesen. Was will das bedeuten! Hurra! Hurra! Immer wieder Hurra! Zu uns kommt die Kultur, und im Zuge sitzt der Herr Landrat. schneidig will der Lokomotivführer sein stolz bekränztes Dampfroß vor¬ führen. Da — was ist das? — Ein Gequietsche, ein Ächzen, ein Gepolter, ein Entsetzensschrei! Die Lokomotive bäumt sich auf, sie verläßt ihren Schienen¬ pfad, holpert rumpelnd über ein paar Schwellen, und wie ein am Ziel ver¬ endender Renner sinkt sie zur Seite mit Schnaufen, Pusten, Stöhnen. Heizer und Führer springen ab. Die zwei Wagen werden ein paarmal zurück und vorwärts gestoßen. Dann hält das Fuhrwerk. Ein kurzer Augenblick das alles. — Schon atmet man wieder. Gottlob, nichts ist verletzt. Der alte Kantor, in der Ruhe des Vielgeprüften, erfaßt sofort die Lage. Die zweite Strophe wird überschlagen, und mit würdiger Getragenheit setzt die dritte ein: Das wirkt wie Öl auf empörten Wogen. Dem Wagen entsteigt der Landrat, ein groß gewachsener, noch junger, schöner Mann von flottem Aussehen, mit einem mächtigen Durchzieher auf der linken Backe. Hinter ihm ein langer Schweif von Gefolge. Die Herren find in animiertester Stimmung, die durch den kleinen Unfall noch gehobener scheint. Sie haben Restauration an Bord gehabt. Mit über¬ legenem Lächeln schaut der Herr Landrat auf die gekenterte Lokomotive. — Bagatelle! Wer wird so etwas ernst nehmen! Hurra! Hurra! Immer wieder Hurra! Aus der Reihe der Ehrenjungfrauen tritt mit festem Schritt Irene Schulze auf den hohen Herrn zu. Jesepha Pluderig ist plötzlich erkrankt, und mutig hat Irene für sie den Willkommspruch übernommen. Sie hat ihn eilig gelernt. Er sitzt noch nicht ganz fest:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/488>, abgerufen am 23.12.2024.