Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Lhamberlains Goethe Wissenschaft sowohl wie Goethe erkennen das Mißverhältnis zwischen den Dingen Mit diesem "wir, Menschheit" greift Chamberlains Betrachtung vom Lhamberlains Goethe Wissenschaft sowohl wie Goethe erkennen das Mißverhältnis zwischen den Dingen Mit diesem „wir, Menschheit" greift Chamberlains Betrachtung vom <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325328"/> <fw type="header" place="top"> Lhamberlains Goethe</fw><lb/> <p xml:id="ID_2090" prev="#ID_2089"> Wissenschaft sowohl wie Goethe erkennen das Mißverhältnis zwischen den Dingen<lb/> und der menschlichen Vernunft, und sehen in der Beobachtung des Objekts<lb/> durch das Subjekt die einzige Möglichkeit der Erkenntnis. Die Fachwissenschaft<lb/> aber trachtet in ihrem Mißtrauen gegen das Subjekt die Beteiligung der Sinne<lb/> auf ein Mindestmaß zu beschränken, und wird mit jedem Schritt, den sie sich<lb/> dem Objekt nähert, notwendigerweise abstrakter, da sie sich aller menschlichen<lb/> Qualitätsvorstellung entzieht und in stets steigendem Maße mathematischer wird,<lb/> d. h. ihr Maßstab ist reine Quantität. Dagegen behält Goethe den Menschen,<lb/> seine Vorstellungsfähigkeit als Maßstab und stellt sich in die Mitte von Objekt<lb/> und Subjekt. Auf der einen Seite steht also als Extrem die grenzenlose Er¬<lb/> fahrung, die wohl zu ungeheuren technischen Erfolgen führen mag, aber den<lb/> Menschen verloren gibt, ihn ratlos vor dem Chaos der Tatsachen stehen läßt,<lb/> auf der anderen die aufbauende, aber erfahrungslose Idee Platos. Zwischen<lb/> diesen beiden steht Goethe. Große Individuen sind noch in weit höherem<lb/> Maße in ihrem Tun vorbestimmt, als die kleinen, weil ihr Geschick enger mit<lb/> dem Weltgeschehen verbunden ist. Zur Stunde, da Plato der Menschheit<lb/> erschien, fand er eine unbeholfene, tastende Jdeenbildung vor, der eine frag¬<lb/> mentarische Erfahrung gegenüberstand. So mußte er seine Kraft dem Subjekt<lb/> zuwenden. Er mußte Brücken schlagen, die vom Subjekt zum Objekt führten.<lb/> Goethe dagegen befand sich einer großen Erfahrung gegenüber, die sich aber<lb/> in der Empirie verlor, die nicht mehr architektonisch, nur noch mechanisch und<lb/> rechnerisch gestaltete. So mußte er denn Wege suchen, die vom Objekt zum<lb/> Subjekt zurückführten. Aber nur weil Goethe sich die Erfahrungsmasse aneignen<lb/> konnte, ohne seine ideenbildende Tätigkeit einzubüßen, konnte er der Plato<lb/> unseres Zeitalters werden. Beide Extreme der Forschung werden und sollen<lb/> neben Goethe bestehen. Es handelt sich darum, seinen Standpunkt in der Mitte<lb/> zwischen Objekt und Subjekt, seine Methode der Verknüpfung der Idee mit<lb/> der Erfahrung zu begreifen, wenn wir der epochalen, ja außerepochalen Be¬<lb/> deutung der Naturforschung Goethes gerecht werden wollen, wir „Menschheit",<lb/> der Goethe angehören wollte, der er sich mit aller Leidenschaft widmete.</p><lb/> <p xml:id="ID_2091" next="#ID_2092"> Mit diesem „wir, Menschheit" greift Chamberlains Betrachtung vom<lb/> Naturwissenschaftlichen ins Soziologische hinüber, die Betrachtung wird Tat.<lb/> Die ungeheuere Gefahr, die seitens der fortschreitenden Spezialisierung der<lb/> Wissenschaften — eine direkte Folge ihres notwendig atomistischen Stand¬<lb/> punktes — der geistigen Kultur der Menschheit droht, empfinden wir alle<lb/> drückend. Daß Goethe diese Gefahr vorausgesehen, daß er gegen sie<lb/> gekämpft, konnten seine Zeitgenossen unmöglich verstehen, wir aber müssen und<lb/> können unsere Kulturrettung in ihm und durch ihn vollziehen. Und soziologisch<lb/> wird die Frage, wenn wir näher zusehen: wer ist „wir"? Hat ein solcher<lb/> „Kulturstand", wie wir ihn darstellen, eine Daseinsberechtigung und eine Mög¬<lb/> lichkeit der Selbstbehauptung? Wir gelangen mit der Frage zur großen<lb/> Krankheit unserer Zeit, die kurz ausgesprochen hierin besteht: wir haben keinen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0458]
Lhamberlains Goethe
Wissenschaft sowohl wie Goethe erkennen das Mißverhältnis zwischen den Dingen
und der menschlichen Vernunft, und sehen in der Beobachtung des Objekts
durch das Subjekt die einzige Möglichkeit der Erkenntnis. Die Fachwissenschaft
aber trachtet in ihrem Mißtrauen gegen das Subjekt die Beteiligung der Sinne
auf ein Mindestmaß zu beschränken, und wird mit jedem Schritt, den sie sich
dem Objekt nähert, notwendigerweise abstrakter, da sie sich aller menschlichen
Qualitätsvorstellung entzieht und in stets steigendem Maße mathematischer wird,
d. h. ihr Maßstab ist reine Quantität. Dagegen behält Goethe den Menschen,
seine Vorstellungsfähigkeit als Maßstab und stellt sich in die Mitte von Objekt
und Subjekt. Auf der einen Seite steht also als Extrem die grenzenlose Er¬
fahrung, die wohl zu ungeheuren technischen Erfolgen führen mag, aber den
Menschen verloren gibt, ihn ratlos vor dem Chaos der Tatsachen stehen läßt,
auf der anderen die aufbauende, aber erfahrungslose Idee Platos. Zwischen
diesen beiden steht Goethe. Große Individuen sind noch in weit höherem
Maße in ihrem Tun vorbestimmt, als die kleinen, weil ihr Geschick enger mit
dem Weltgeschehen verbunden ist. Zur Stunde, da Plato der Menschheit
erschien, fand er eine unbeholfene, tastende Jdeenbildung vor, der eine frag¬
mentarische Erfahrung gegenüberstand. So mußte er seine Kraft dem Subjekt
zuwenden. Er mußte Brücken schlagen, die vom Subjekt zum Objekt führten.
Goethe dagegen befand sich einer großen Erfahrung gegenüber, die sich aber
in der Empirie verlor, die nicht mehr architektonisch, nur noch mechanisch und
rechnerisch gestaltete. So mußte er denn Wege suchen, die vom Objekt zum
Subjekt zurückführten. Aber nur weil Goethe sich die Erfahrungsmasse aneignen
konnte, ohne seine ideenbildende Tätigkeit einzubüßen, konnte er der Plato
unseres Zeitalters werden. Beide Extreme der Forschung werden und sollen
neben Goethe bestehen. Es handelt sich darum, seinen Standpunkt in der Mitte
zwischen Objekt und Subjekt, seine Methode der Verknüpfung der Idee mit
der Erfahrung zu begreifen, wenn wir der epochalen, ja außerepochalen Be¬
deutung der Naturforschung Goethes gerecht werden wollen, wir „Menschheit",
der Goethe angehören wollte, der er sich mit aller Leidenschaft widmete.
Mit diesem „wir, Menschheit" greift Chamberlains Betrachtung vom
Naturwissenschaftlichen ins Soziologische hinüber, die Betrachtung wird Tat.
Die ungeheuere Gefahr, die seitens der fortschreitenden Spezialisierung der
Wissenschaften — eine direkte Folge ihres notwendig atomistischen Stand¬
punktes — der geistigen Kultur der Menschheit droht, empfinden wir alle
drückend. Daß Goethe diese Gefahr vorausgesehen, daß er gegen sie
gekämpft, konnten seine Zeitgenossen unmöglich verstehen, wir aber müssen und
können unsere Kulturrettung in ihm und durch ihn vollziehen. Und soziologisch
wird die Frage, wenn wir näher zusehen: wer ist „wir"? Hat ein solcher
„Kulturstand", wie wir ihn darstellen, eine Daseinsberechtigung und eine Mög¬
lichkeit der Selbstbehauptung? Wir gelangen mit der Frage zur großen
Krankheit unserer Zeit, die kurz ausgesprochen hierin besteht: wir haben keinen
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