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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Lhamberlains Goethe

der Fülle der von der exakten Forschung neu entdeckten Phänomene einen neuen
Kosmos zu gestalten, den Menschen zur Freude, den Menschen zur Errettung
aus dem Chaos, dem sie im Begriffe sind zu verfallen." (S. 254/5.)

Von diesem der Fachwissenschaft völlig fremden Grund ausgehend, mußte
Goethe notwendigerweise zu abweichenden Grundbegriffen gelangen. Der Begriff
Natur, der von der Unterscheidung des Anaxagoras in pkysis und uns bis
zum monistischen Alleinheitsglauben so viele Wandlungen durchgemacht hat, zeitigt
schließlich eine fast unübersehbare Fülle der Auffassungen, die Chamberlain in
eine dreifältige Ordnung bringt: die naiven, die Dogmatiker und die Methodiker.
Goethes Einzigartigkeit besteht darin, daß er nicht ein für allemal der einen
oder der anderen Gruppe zugehört, sondern sür seine Seelenverfassung ist eben
die jeweilige Richtung entscheidend, in welcher sich sein Geist eben bewegt,
betätigt. Pantheist als Naturforscher, Polntheist als Dichter, Monotheist als
sittlicher Mensch, und jedes mit gleicher Wahrhaftigkeit, ist er imstande, dem
Begriff Natur gegenüber jeweilen die naive, dogmatische und methodische Auf¬
fassung zu betätigen, ohne einem vermengenden, farblosen Eklektizismus an¬
heimzufallen.

Naiv tritt Goethe an die Natur heran, "auf eine kindliche Weise".


"Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig,
Unverstanden, doch nicht unverständlich."

Diese Stimmung seinem Stoffe gegenüber blieb unzerstört bestehen, auch als
er einen Erfahrungsreichtum um sich aufgeschichtet hatte, vor dem Fachgelehrte
von Ruf die Segel strichen. Die naive Intuition bleibt die Grundlage
seiner Arbeit.

Ein Dogmatiker wird Goethe, um der Pein millionenfacher Empirie zu
entrinnen. "Einheit soll die Idee der Metamorphose in die unübersichtliche
Menge der Pflanzengestalten bringen, Einheit die vergleichende Anatomie in den
ins Endlose variierenden Knochenbau der Wirbeltiere, Einheit soll in die
Geologie durch das Prinzip der Stetigkeit eingeführt werden, Einheit in die
konfuse Meteorologie durch die Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges
zwischen Atmosphäre und Erde, Einheit des Farbenphänomens soll Goethes
Lehre den Menschen verkünden." (S. 281.) So bedeutet aber für Goethe
den Dogmatiker die Alleinheitslehre keine alles aufklärende Weltdeutung, keine
angenommene, festgelegte Weltanschauung, sondern' einen Seelenzustand, dessen
er bedarf, um die beängstigende Fülle der Empirie in ein tiefes, ruhiges An¬
schauen des Weltganzen zu verwandeln.

Als Methodiker ist Goethe so ganz Empirist wie irgend ein Fach¬
gelehrter. Die Unterscheidung von pkv8l8 und un8 des Anaxagoras ist ihm
nicht bloß Grundgesetz, er führt sie auch weiter zur Dualität von Mensch und
Natur, und entfernt sich nun wieder hierin himmelweit von jeglichem dogma¬
tischen Monismus. Aus der Dualität Mensch und Natur folgt die Doppel¬
unterscheidung: 1. Objekt und Subjekt, 2. Erfahrung und Idee. Die Fach-


Lhamberlains Goethe

der Fülle der von der exakten Forschung neu entdeckten Phänomene einen neuen
Kosmos zu gestalten, den Menschen zur Freude, den Menschen zur Errettung
aus dem Chaos, dem sie im Begriffe sind zu verfallen." (S. 254/5.)

Von diesem der Fachwissenschaft völlig fremden Grund ausgehend, mußte
Goethe notwendigerweise zu abweichenden Grundbegriffen gelangen. Der Begriff
Natur, der von der Unterscheidung des Anaxagoras in pkysis und uns bis
zum monistischen Alleinheitsglauben so viele Wandlungen durchgemacht hat, zeitigt
schließlich eine fast unübersehbare Fülle der Auffassungen, die Chamberlain in
eine dreifältige Ordnung bringt: die naiven, die Dogmatiker und die Methodiker.
Goethes Einzigartigkeit besteht darin, daß er nicht ein für allemal der einen
oder der anderen Gruppe zugehört, sondern sür seine Seelenverfassung ist eben
die jeweilige Richtung entscheidend, in welcher sich sein Geist eben bewegt,
betätigt. Pantheist als Naturforscher, Polntheist als Dichter, Monotheist als
sittlicher Mensch, und jedes mit gleicher Wahrhaftigkeit, ist er imstande, dem
Begriff Natur gegenüber jeweilen die naive, dogmatische und methodische Auf¬
fassung zu betätigen, ohne einem vermengenden, farblosen Eklektizismus an¬
heimzufallen.

Naiv tritt Goethe an die Natur heran, „auf eine kindliche Weise".


„Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig,
Unverstanden, doch nicht unverständlich."

Diese Stimmung seinem Stoffe gegenüber blieb unzerstört bestehen, auch als
er einen Erfahrungsreichtum um sich aufgeschichtet hatte, vor dem Fachgelehrte
von Ruf die Segel strichen. Die naive Intuition bleibt die Grundlage
seiner Arbeit.

Ein Dogmatiker wird Goethe, um der Pein millionenfacher Empirie zu
entrinnen. „Einheit soll die Idee der Metamorphose in die unübersichtliche
Menge der Pflanzengestalten bringen, Einheit die vergleichende Anatomie in den
ins Endlose variierenden Knochenbau der Wirbeltiere, Einheit soll in die
Geologie durch das Prinzip der Stetigkeit eingeführt werden, Einheit in die
konfuse Meteorologie durch die Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges
zwischen Atmosphäre und Erde, Einheit des Farbenphänomens soll Goethes
Lehre den Menschen verkünden." (S. 281.) So bedeutet aber für Goethe
den Dogmatiker die Alleinheitslehre keine alles aufklärende Weltdeutung, keine
angenommene, festgelegte Weltanschauung, sondern' einen Seelenzustand, dessen
er bedarf, um die beängstigende Fülle der Empirie in ein tiefes, ruhiges An¬
schauen des Weltganzen zu verwandeln.

Als Methodiker ist Goethe so ganz Empirist wie irgend ein Fach¬
gelehrter. Die Unterscheidung von pkv8l8 und un8 des Anaxagoras ist ihm
nicht bloß Grundgesetz, er führt sie auch weiter zur Dualität von Mensch und
Natur, und entfernt sich nun wieder hierin himmelweit von jeglichem dogma¬
tischen Monismus. Aus der Dualität Mensch und Natur folgt die Doppel¬
unterscheidung: 1. Objekt und Subjekt, 2. Erfahrung und Idee. Die Fach-


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[0457] Lhamberlains Goethe der Fülle der von der exakten Forschung neu entdeckten Phänomene einen neuen Kosmos zu gestalten, den Menschen zur Freude, den Menschen zur Errettung aus dem Chaos, dem sie im Begriffe sind zu verfallen." (S. 254/5.) Von diesem der Fachwissenschaft völlig fremden Grund ausgehend, mußte Goethe notwendigerweise zu abweichenden Grundbegriffen gelangen. Der Begriff Natur, der von der Unterscheidung des Anaxagoras in pkysis und uns bis zum monistischen Alleinheitsglauben so viele Wandlungen durchgemacht hat, zeitigt schließlich eine fast unübersehbare Fülle der Auffassungen, die Chamberlain in eine dreifältige Ordnung bringt: die naiven, die Dogmatiker und die Methodiker. Goethes Einzigartigkeit besteht darin, daß er nicht ein für allemal der einen oder der anderen Gruppe zugehört, sondern sür seine Seelenverfassung ist eben die jeweilige Richtung entscheidend, in welcher sich sein Geist eben bewegt, betätigt. Pantheist als Naturforscher, Polntheist als Dichter, Monotheist als sittlicher Mensch, und jedes mit gleicher Wahrhaftigkeit, ist er imstande, dem Begriff Natur gegenüber jeweilen die naive, dogmatische und methodische Auf¬ fassung zu betätigen, ohne einem vermengenden, farblosen Eklektizismus an¬ heimzufallen. Naiv tritt Goethe an die Natur heran, „auf eine kindliche Weise". „Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig, Unverstanden, doch nicht unverständlich." Diese Stimmung seinem Stoffe gegenüber blieb unzerstört bestehen, auch als er einen Erfahrungsreichtum um sich aufgeschichtet hatte, vor dem Fachgelehrte von Ruf die Segel strichen. Die naive Intuition bleibt die Grundlage seiner Arbeit. Ein Dogmatiker wird Goethe, um der Pein millionenfacher Empirie zu entrinnen. „Einheit soll die Idee der Metamorphose in die unübersichtliche Menge der Pflanzengestalten bringen, Einheit die vergleichende Anatomie in den ins Endlose variierenden Knochenbau der Wirbeltiere, Einheit soll in die Geologie durch das Prinzip der Stetigkeit eingeführt werden, Einheit in die konfuse Meteorologie durch die Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges zwischen Atmosphäre und Erde, Einheit des Farbenphänomens soll Goethes Lehre den Menschen verkünden." (S. 281.) So bedeutet aber für Goethe den Dogmatiker die Alleinheitslehre keine alles aufklärende Weltdeutung, keine angenommene, festgelegte Weltanschauung, sondern' einen Seelenzustand, dessen er bedarf, um die beängstigende Fülle der Empirie in ein tiefes, ruhiges An¬ schauen des Weltganzen zu verwandeln. Als Methodiker ist Goethe so ganz Empirist wie irgend ein Fach¬ gelehrter. Die Unterscheidung von pkv8l8 und un8 des Anaxagoras ist ihm nicht bloß Grundgesetz, er führt sie auch weiter zur Dualität von Mensch und Natur, und entfernt sich nun wieder hierin himmelweit von jeglichem dogma¬ tischen Monismus. Aus der Dualität Mensch und Natur folgt die Doppel¬ unterscheidung: 1. Objekt und Subjekt, 2. Erfahrung und Idee. Die Fach-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/457>, abgerufen am 04.07.2024.