Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Nacht Provenienz, die in geradezu brutaler Weise mit solchen Schlagworten um sich Wenn wir heute die Überzeugung haben, daß es uns vorbehalten war, So sind sie unerschöpflich und unendlich, wie unsere Seele. Die Nacht macht die Dinge einfach und groß: Ein Hügelrand hebt sich schwarz aus der Erde Schoß, regungslos; und dahinter ein rotverdämmerndes Band: die Stadt, eine vielfache Möglichkeit. Ein ragender Baum beherrscht das Land, einsam, breit; durch Zweig und Blatt hörbar rauscht die eilende Zeit -- Ernst Ludwig Schellenberg Nacht Provenienz, die in geradezu brutaler Weise mit solchen Schlagworten um sich Wenn wir heute die Überzeugung haben, daß es uns vorbehalten war, So sind sie unerschöpflich und unendlich, wie unsere Seele. Die Nacht macht die Dinge einfach und groß: Ein Hügelrand hebt sich schwarz aus der Erde Schoß, regungslos; und dahinter ein rotverdämmerndes Band: die Stadt, eine vielfache Möglichkeit. Ein ragender Baum beherrscht das Land, einsam, breit; durch Zweig und Blatt hörbar rauscht die eilende Zeit — Ernst Ludwig Schellenberg <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0442" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325312"/> <fw type="header" place="top"> Nacht</fw><lb/> <p xml:id="ID_2007" prev="#ID_2006"> Provenienz, die in geradezu brutaler Weise mit solchen Schlagworten um sich<lb/> werfen. Ein Beispiel nur aus diesen Kommentaren (für die eine Arbeit von<lb/> Stenger typisch ist). Hamlets Worte in der Totengräberszene: „Mein Kinn¬<lb/> backen tut mir weh, wenn ich sehe, wie der Bursche mit dem Schädel umgeht"<lb/> werden mit vollem Ernst für die Annahme verwertet, daß Hamlet unter anderem<lb/> auch an Gesichtsneuralgien leidet. Die Worte in der ersten Hofszene: „Im<lb/> Gegenteil, mein Fürst, ich habe zuviel Sonne" (Worte, die der tote Kainz in<lb/> wundervoller Weise als das gab, was sie sind, nämlich eine feine Ironie Hamlets<lb/> gegen den ihm allzu nahen Glanz der unsympathischen Majestät), diese Worte<lb/> müssen dazu herhalten, Hamlets pathologische Überempfindlichkeit gegen Licht zu<lb/> erweisen. Und was der Banausentaten mehr sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_2008"> Wenn wir heute die Überzeugung haben, daß es uns vorbehalten war,<lb/> die Rätsel des Hamlet zu lösen, sofort kommt die bange Skepsis und lächelt<lb/> über diesen Stolz: schon manche Zeit hat ähnliches von manchem monumentalen<lb/> Kunstwerk gesagt. Der Kommentar hat nur relativen Wert: er gibt das Bild<lb/> des Werkes, wie es sich in einer bestimmten Zeit spiegelt. Unser Fühlen aber<lb/> ist ein variables Ding. Heute find in unseren Assoziationszentren diese Bahnen<lb/> die ausgeschliffeneren, morgen jene. Heute geht, ohne daß wir uns der Änderung<lb/> besonders bewußt sind, unsere Intuition beim Auffassen andere Wege, als<lb/> morgen. Es ist ein Merkmal jener Kunstwerke, die den Stempel göttlicher<lb/> Ewigkeit tragen, daß sie jeder unserer wechselnden Generationen von ihrem<lb/> Reichtum spenden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2009"> So sind sie unerschöpflich und unendlich, wie unsere Seele.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> </head><lb/> <lg xml:id="POEMID_24" type="poem"> <l> Die Nacht macht die Dinge einfach und groß:<lb/> Ein Hügelrand<lb/> hebt sich schwarz aus der Erde Schoß,<lb/> regungslos;<lb/> und dahinter ein rotverdämmerndes Band:<lb/> die Stadt,<lb/> eine vielfache Möglichkeit.<lb/> Ein ragender Baum beherrscht das Land,<lb/> einsam, breit;<lb/> durch Zweig und Blatt<lb/> hörbar rauscht die eilende Zeit —</l> </lg><lb/> <note type="byline"> Ernst Ludwig Schellenberg</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0442]
Nacht
Provenienz, die in geradezu brutaler Weise mit solchen Schlagworten um sich
werfen. Ein Beispiel nur aus diesen Kommentaren (für die eine Arbeit von
Stenger typisch ist). Hamlets Worte in der Totengräberszene: „Mein Kinn¬
backen tut mir weh, wenn ich sehe, wie der Bursche mit dem Schädel umgeht"
werden mit vollem Ernst für die Annahme verwertet, daß Hamlet unter anderem
auch an Gesichtsneuralgien leidet. Die Worte in der ersten Hofszene: „Im
Gegenteil, mein Fürst, ich habe zuviel Sonne" (Worte, die der tote Kainz in
wundervoller Weise als das gab, was sie sind, nämlich eine feine Ironie Hamlets
gegen den ihm allzu nahen Glanz der unsympathischen Majestät), diese Worte
müssen dazu herhalten, Hamlets pathologische Überempfindlichkeit gegen Licht zu
erweisen. Und was der Banausentaten mehr sind.
Wenn wir heute die Überzeugung haben, daß es uns vorbehalten war,
die Rätsel des Hamlet zu lösen, sofort kommt die bange Skepsis und lächelt
über diesen Stolz: schon manche Zeit hat ähnliches von manchem monumentalen
Kunstwerk gesagt. Der Kommentar hat nur relativen Wert: er gibt das Bild
des Werkes, wie es sich in einer bestimmten Zeit spiegelt. Unser Fühlen aber
ist ein variables Ding. Heute find in unseren Assoziationszentren diese Bahnen
die ausgeschliffeneren, morgen jene. Heute geht, ohne daß wir uns der Änderung
besonders bewußt sind, unsere Intuition beim Auffassen andere Wege, als
morgen. Es ist ein Merkmal jener Kunstwerke, die den Stempel göttlicher
Ewigkeit tragen, daß sie jeder unserer wechselnden Generationen von ihrem
Reichtum spenden.
So sind sie unerschöpflich und unendlich, wie unsere Seele.
Die Nacht macht die Dinge einfach und groß:
Ein Hügelrand
hebt sich schwarz aus der Erde Schoß,
regungslos;
und dahinter ein rotverdämmerndes Band:
die Stadt,
eine vielfache Möglichkeit.
Ein ragender Baum beherrscht das Land,
einsam, breit;
durch Zweig und Blatt
hörbar rauscht die eilende Zeit —
Ernst Ludwig Schellenberg
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