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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Vaterländische Jugendschriften

Scholz aufgerufenen Jugendschriftenausschüsse der deutschen Lehrer haben sich
ja ausnahmslos einer Vertrauenskundgebung für die Hamburger angeschlossen
und auch die von der Hamburger Oberschulbehörde veranlaßte Untersuchung hat, wie
ich höre, nichts Belastendes ergeben. Sehen wir also von diesen unerquicklichen
Kämpfen, die in der Tagespresse und in einigen Zeitschriften einen so starken
Wiederhall fanden, ab. Wichtiger als die Frage, ob und warum Wolgast in
seinem Amtszimmer ein Napoleonsbild hängen habe, ob der Lehrer Lamszus,
wenn auch nicht als Mitglied, so doch als "Mitarbeiter" in "Beziehung" zu
dem Hamburger Jugendschriftenausschuß stehe, ob man diesen Ausschuß für die
politischen Anschauungen Scharrelmanns in Bremen mitverantwortlich machen
dürfe usw., ist doch im Grunde die noch unerledigte Frage: trifft unsere
Jugendliteratur eine Schuld an dem allgemeinen Schwinden vaterländischer
Gesinnung? Ich möchte sie, um längere geschichtliche Erörterungen zu vermeiden
und mehr die praktisch wichtige Seite hervortreten zu lassen, positiv wenden:
welche Forderungen müssen wir an die Jugendliteratur stellen, damit sie zur
vaterländischen Erziehung unserer Jugend beiträgt? Wir können so fragen,
einmal lediglich in bezug auf den Inhalt der Bücher, zum andern aber auch
im Hinblick auf die Jugend, die diese Bücher lesen soll.

Daß der vaterländische Gedanke in den Jugendschriften mißachtet werde,
beklagten Kotzde und Scholz. Aber die Anschauung, daß es sich hier um einen
"Gedanken" handle, ist irrig. Gedankliches wie etwa die Lehrsätze der
Mathematik, geschichtliche und geographische Daten, lateinische Grammatik usw.
kann man den Köpfen der Jugend von außen her einpflanzen. Ob sie darin
bleiben und gegebenenfalls praktisch wirksam werden, ist in erster Linie Sache
des Gedächtnisses. Werden sie in Zweifel gezogen, so kann man sie, wiederum
von außen, beweisen oder wahrscheinlich machen oder demonstrieren. Vater¬
ländisch ist aber niemand allein darum, weil er vielerlei von seinem Vaterlande,
insbesondere vielleicht von seiner Geschichte weiß. Ein Bauer, den die seinem
Könige oder seinem Volke ungetane Kränkung unmittelbar zum Zorne reizt,
der schweren Herzens und dennoch gern sein gewohntes Leben verläßt und sich
freiwillig, im Gefühl das Rechte zu tun, dem Tode aussetzt, wie viel weniger
"weiß" er doch von Vaterländischen als so mancher, der bei drohender Kriegs¬
gefahr schleunigst die Papiere seines Vaterlandes verkauft. Jeder von beiden
handelt aus einer bestimmten Gesinnung, der eine aus vaterländischer, der
andere aus vaterlandsloser. Eine Gesinnung aber kann man niemals lediglich
von außen in einen Menschen hineinpumpen. Die schönsten Gedanken und die
längsten Predigten können keine "Urzeugung" einer Gesinnung hervorbringen.
Sie muß im Keim bereits vorhanden sein, der Lehrer kann sie von außen her
nur frei machen, nähren und entwickeln.

Die vaterländische Gesinnung nun scheint mir hauptsächlich zwei Wurzeln
zu haben: den Instinkt des Volkstums und die Verflechtung des Gemütes mit
der Heimat. Daß es ein unmittelbares Gefühl gibt nicht nur für das, was


Vaterländische Jugendschriften

Scholz aufgerufenen Jugendschriftenausschüsse der deutschen Lehrer haben sich
ja ausnahmslos einer Vertrauenskundgebung für die Hamburger angeschlossen
und auch die von der Hamburger Oberschulbehörde veranlaßte Untersuchung hat, wie
ich höre, nichts Belastendes ergeben. Sehen wir also von diesen unerquicklichen
Kämpfen, die in der Tagespresse und in einigen Zeitschriften einen so starken
Wiederhall fanden, ab. Wichtiger als die Frage, ob und warum Wolgast in
seinem Amtszimmer ein Napoleonsbild hängen habe, ob der Lehrer Lamszus,
wenn auch nicht als Mitglied, so doch als „Mitarbeiter" in „Beziehung" zu
dem Hamburger Jugendschriftenausschuß stehe, ob man diesen Ausschuß für die
politischen Anschauungen Scharrelmanns in Bremen mitverantwortlich machen
dürfe usw., ist doch im Grunde die noch unerledigte Frage: trifft unsere
Jugendliteratur eine Schuld an dem allgemeinen Schwinden vaterländischer
Gesinnung? Ich möchte sie, um längere geschichtliche Erörterungen zu vermeiden
und mehr die praktisch wichtige Seite hervortreten zu lassen, positiv wenden:
welche Forderungen müssen wir an die Jugendliteratur stellen, damit sie zur
vaterländischen Erziehung unserer Jugend beiträgt? Wir können so fragen,
einmal lediglich in bezug auf den Inhalt der Bücher, zum andern aber auch
im Hinblick auf die Jugend, die diese Bücher lesen soll.

Daß der vaterländische Gedanke in den Jugendschriften mißachtet werde,
beklagten Kotzde und Scholz. Aber die Anschauung, daß es sich hier um einen
„Gedanken" handle, ist irrig. Gedankliches wie etwa die Lehrsätze der
Mathematik, geschichtliche und geographische Daten, lateinische Grammatik usw.
kann man den Köpfen der Jugend von außen her einpflanzen. Ob sie darin
bleiben und gegebenenfalls praktisch wirksam werden, ist in erster Linie Sache
des Gedächtnisses. Werden sie in Zweifel gezogen, so kann man sie, wiederum
von außen, beweisen oder wahrscheinlich machen oder demonstrieren. Vater¬
ländisch ist aber niemand allein darum, weil er vielerlei von seinem Vaterlande,
insbesondere vielleicht von seiner Geschichte weiß. Ein Bauer, den die seinem
Könige oder seinem Volke ungetane Kränkung unmittelbar zum Zorne reizt,
der schweren Herzens und dennoch gern sein gewohntes Leben verläßt und sich
freiwillig, im Gefühl das Rechte zu tun, dem Tode aussetzt, wie viel weniger
„weiß" er doch von Vaterländischen als so mancher, der bei drohender Kriegs¬
gefahr schleunigst die Papiere seines Vaterlandes verkauft. Jeder von beiden
handelt aus einer bestimmten Gesinnung, der eine aus vaterländischer, der
andere aus vaterlandsloser. Eine Gesinnung aber kann man niemals lediglich
von außen in einen Menschen hineinpumpen. Die schönsten Gedanken und die
längsten Predigten können keine „Urzeugung" einer Gesinnung hervorbringen.
Sie muß im Keim bereits vorhanden sein, der Lehrer kann sie von außen her
nur frei machen, nähren und entwickeln.

Die vaterländische Gesinnung nun scheint mir hauptsächlich zwei Wurzeln
zu haben: den Instinkt des Volkstums und die Verflechtung des Gemütes mit
der Heimat. Daß es ein unmittelbares Gefühl gibt nicht nur für das, was


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[0415] Vaterländische Jugendschriften Scholz aufgerufenen Jugendschriftenausschüsse der deutschen Lehrer haben sich ja ausnahmslos einer Vertrauenskundgebung für die Hamburger angeschlossen und auch die von der Hamburger Oberschulbehörde veranlaßte Untersuchung hat, wie ich höre, nichts Belastendes ergeben. Sehen wir also von diesen unerquicklichen Kämpfen, die in der Tagespresse und in einigen Zeitschriften einen so starken Wiederhall fanden, ab. Wichtiger als die Frage, ob und warum Wolgast in seinem Amtszimmer ein Napoleonsbild hängen habe, ob der Lehrer Lamszus, wenn auch nicht als Mitglied, so doch als „Mitarbeiter" in „Beziehung" zu dem Hamburger Jugendschriftenausschuß stehe, ob man diesen Ausschuß für die politischen Anschauungen Scharrelmanns in Bremen mitverantwortlich machen dürfe usw., ist doch im Grunde die noch unerledigte Frage: trifft unsere Jugendliteratur eine Schuld an dem allgemeinen Schwinden vaterländischer Gesinnung? Ich möchte sie, um längere geschichtliche Erörterungen zu vermeiden und mehr die praktisch wichtige Seite hervortreten zu lassen, positiv wenden: welche Forderungen müssen wir an die Jugendliteratur stellen, damit sie zur vaterländischen Erziehung unserer Jugend beiträgt? Wir können so fragen, einmal lediglich in bezug auf den Inhalt der Bücher, zum andern aber auch im Hinblick auf die Jugend, die diese Bücher lesen soll. Daß der vaterländische Gedanke in den Jugendschriften mißachtet werde, beklagten Kotzde und Scholz. Aber die Anschauung, daß es sich hier um einen „Gedanken" handle, ist irrig. Gedankliches wie etwa die Lehrsätze der Mathematik, geschichtliche und geographische Daten, lateinische Grammatik usw. kann man den Köpfen der Jugend von außen her einpflanzen. Ob sie darin bleiben und gegebenenfalls praktisch wirksam werden, ist in erster Linie Sache des Gedächtnisses. Werden sie in Zweifel gezogen, so kann man sie, wiederum von außen, beweisen oder wahrscheinlich machen oder demonstrieren. Vater¬ ländisch ist aber niemand allein darum, weil er vielerlei von seinem Vaterlande, insbesondere vielleicht von seiner Geschichte weiß. Ein Bauer, den die seinem Könige oder seinem Volke ungetane Kränkung unmittelbar zum Zorne reizt, der schweren Herzens und dennoch gern sein gewohntes Leben verläßt und sich freiwillig, im Gefühl das Rechte zu tun, dem Tode aussetzt, wie viel weniger „weiß" er doch von Vaterländischen als so mancher, der bei drohender Kriegs¬ gefahr schleunigst die Papiere seines Vaterlandes verkauft. Jeder von beiden handelt aus einer bestimmten Gesinnung, der eine aus vaterländischer, der andere aus vaterlandsloser. Eine Gesinnung aber kann man niemals lediglich von außen in einen Menschen hineinpumpen. Die schönsten Gedanken und die längsten Predigten können keine „Urzeugung" einer Gesinnung hervorbringen. Sie muß im Keim bereits vorhanden sein, der Lehrer kann sie von außen her nur frei machen, nähren und entwickeln. Die vaterländische Gesinnung nun scheint mir hauptsächlich zwei Wurzeln zu haben: den Instinkt des Volkstums und die Verflechtung des Gemütes mit der Heimat. Daß es ein unmittelbares Gefühl gibt nicht nur für das, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/415>, abgerufen am 22.12.2024.