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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trcbeldorf

von Verstand und Seele in ihr. Sie hat denselben Hunger nach Höherem wie
Paul. Darum verstehen sich auch die zwei so gut und halten viel voneinander.

Gestern sind wir mit unserer Phantasie hübsch unten geblieben auf Mutter
Erde und haben Berlin und andere große Städte durchstreift. Da war nun
des Wunderns und Fragens kein Ende. Paul hatte zwar durch seine Bücher
schon allerlei Kenntnis von der Hauptstadt, fand es aber besonders anziehend,
gerade von mir darüber zu hören, weil ich dagewesen sei.

Anna wurde zuletzt ganz schweigsam und nachdenklich. Es war, als trüge
sie einen stillen Kummer im Herzen, dem ich vergeblich nachspürte. Ich ließ
aber nicht locker, und nach und nach kam es heraus, daß sie am Fernweh und
noch etwas litt. Das Elternhaus ist ihr zu enge geworden, und sie möchte
auch dahinaus in die weite Welt, wo das Leben hurtiger durch die Adern
kreist. "Paul," sagte sie, "ist ganz gewiß nicht lange mehr hier. In zwei
Jahren wird er konfirmiert, und dann geht er bald fort von Hause. Ich weiß
das. Nicht wahr, mein Jung?"

Sie reichte ihm die Hand, und in heimlicher Zustimmung schlug er ein.

"Und dann bin ich ganz einsam," fuhr sie fort. "Das, was ich hier schaffe,
kann jede Dienstmagd tun."

"Ja, aber, Anna," fragte ich, "wohin möchten Sie denn?"

"Nach Berlin oder nach Hamburg oder nach Wien, oder -- irgendwohin,
wo es recht weit und groß und schön ist."

"Wie alt sind Sie?"

"Ostern bin ich einundzwanzig geworden. Noch ist es Zeit. Nachher dann --"

"Was dann, Anna?"

Sie wurde verlegen, und die Röte stieg ihr in das liebliche Gesicht.

"Darf ichs nicht wissen?"

"Der Fritze Adlers I" stieß sie hervor. "Der läuft mir nach. Und ich
will ihn nicht!"

"Warum nicht, Anna?"

"Ich mag ihn nicht, und ich will nicht, und ich tus nicht!"

Wie schön dieser Zorn war! -- "Nun, dann lassen Sie ihn," begütigte ich.

"Aber der Vater wills, und die Mutter wills auch."

Aha! Also so stand es hier. Die alte Geschichte!--Ich fühlte
Erbarmen mit dem jungen Dinge, konnte aber nicht unterlassen, ihr vorzustellen,
daß sich am Ende doch gut haben würde mit dem Fritze Adlers; und ich
schilderte ihr die Enttäuschungen, die auf so viele Menschen lauern in der großen
weiten Welt, die sie sich immer nur schön denken. Ich wies sie auf die
tausenderlei Gefahren hin, die dort gerade den Unschuldigen umdräuen. Sie
lächelte dazu und blieb fest. Sie ist wohl auch gefeit gegen alles.

"Und darum wollen Sie fort von hier, Anna?" forschte ich weiter.

"Darum auch, ja, -- und dann überhaupt --, es ist so eng hier."


Briefe aus Trcbeldorf

von Verstand und Seele in ihr. Sie hat denselben Hunger nach Höherem wie
Paul. Darum verstehen sich auch die zwei so gut und halten viel voneinander.

Gestern sind wir mit unserer Phantasie hübsch unten geblieben auf Mutter
Erde und haben Berlin und andere große Städte durchstreift. Da war nun
des Wunderns und Fragens kein Ende. Paul hatte zwar durch seine Bücher
schon allerlei Kenntnis von der Hauptstadt, fand es aber besonders anziehend,
gerade von mir darüber zu hören, weil ich dagewesen sei.

Anna wurde zuletzt ganz schweigsam und nachdenklich. Es war, als trüge
sie einen stillen Kummer im Herzen, dem ich vergeblich nachspürte. Ich ließ
aber nicht locker, und nach und nach kam es heraus, daß sie am Fernweh und
noch etwas litt. Das Elternhaus ist ihr zu enge geworden, und sie möchte
auch dahinaus in die weite Welt, wo das Leben hurtiger durch die Adern
kreist. „Paul," sagte sie, „ist ganz gewiß nicht lange mehr hier. In zwei
Jahren wird er konfirmiert, und dann geht er bald fort von Hause. Ich weiß
das. Nicht wahr, mein Jung?"

Sie reichte ihm die Hand, und in heimlicher Zustimmung schlug er ein.

„Und dann bin ich ganz einsam," fuhr sie fort. „Das, was ich hier schaffe,
kann jede Dienstmagd tun."

„Ja, aber, Anna," fragte ich, „wohin möchten Sie denn?"

„Nach Berlin oder nach Hamburg oder nach Wien, oder — irgendwohin,
wo es recht weit und groß und schön ist."

„Wie alt sind Sie?"

„Ostern bin ich einundzwanzig geworden. Noch ist es Zeit. Nachher dann —"

„Was dann, Anna?"

Sie wurde verlegen, und die Röte stieg ihr in das liebliche Gesicht.

„Darf ichs nicht wissen?"

„Der Fritze Adlers I" stieß sie hervor. „Der läuft mir nach. Und ich
will ihn nicht!"

„Warum nicht, Anna?"

„Ich mag ihn nicht, und ich will nicht, und ich tus nicht!"

Wie schön dieser Zorn war! — „Nun, dann lassen Sie ihn," begütigte ich.

„Aber der Vater wills, und die Mutter wills auch."

Aha! Also so stand es hier. Die alte Geschichte!--Ich fühlte
Erbarmen mit dem jungen Dinge, konnte aber nicht unterlassen, ihr vorzustellen,
daß sich am Ende doch gut haben würde mit dem Fritze Adlers; und ich
schilderte ihr die Enttäuschungen, die auf so viele Menschen lauern in der großen
weiten Welt, die sie sich immer nur schön denken. Ich wies sie auf die
tausenderlei Gefahren hin, die dort gerade den Unschuldigen umdräuen. Sie
lächelte dazu und blieb fest. Sie ist wohl auch gefeit gegen alles.

„Und darum wollen Sie fort von hier, Anna?" forschte ich weiter.

„Darum auch, ja, — und dann überhaupt —, es ist so eng hier."


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[0385] Briefe aus Trcbeldorf von Verstand und Seele in ihr. Sie hat denselben Hunger nach Höherem wie Paul. Darum verstehen sich auch die zwei so gut und halten viel voneinander. Gestern sind wir mit unserer Phantasie hübsch unten geblieben auf Mutter Erde und haben Berlin und andere große Städte durchstreift. Da war nun des Wunderns und Fragens kein Ende. Paul hatte zwar durch seine Bücher schon allerlei Kenntnis von der Hauptstadt, fand es aber besonders anziehend, gerade von mir darüber zu hören, weil ich dagewesen sei. Anna wurde zuletzt ganz schweigsam und nachdenklich. Es war, als trüge sie einen stillen Kummer im Herzen, dem ich vergeblich nachspürte. Ich ließ aber nicht locker, und nach und nach kam es heraus, daß sie am Fernweh und noch etwas litt. Das Elternhaus ist ihr zu enge geworden, und sie möchte auch dahinaus in die weite Welt, wo das Leben hurtiger durch die Adern kreist. „Paul," sagte sie, „ist ganz gewiß nicht lange mehr hier. In zwei Jahren wird er konfirmiert, und dann geht er bald fort von Hause. Ich weiß das. Nicht wahr, mein Jung?" Sie reichte ihm die Hand, und in heimlicher Zustimmung schlug er ein. „Und dann bin ich ganz einsam," fuhr sie fort. „Das, was ich hier schaffe, kann jede Dienstmagd tun." „Ja, aber, Anna," fragte ich, „wohin möchten Sie denn?" „Nach Berlin oder nach Hamburg oder nach Wien, oder — irgendwohin, wo es recht weit und groß und schön ist." „Wie alt sind Sie?" „Ostern bin ich einundzwanzig geworden. Noch ist es Zeit. Nachher dann —" „Was dann, Anna?" Sie wurde verlegen, und die Röte stieg ihr in das liebliche Gesicht. „Darf ichs nicht wissen?" „Der Fritze Adlers I" stieß sie hervor. „Der läuft mir nach. Und ich will ihn nicht!" „Warum nicht, Anna?" „Ich mag ihn nicht, und ich will nicht, und ich tus nicht!" Wie schön dieser Zorn war! — „Nun, dann lassen Sie ihn," begütigte ich. „Aber der Vater wills, und die Mutter wills auch." Aha! Also so stand es hier. Die alte Geschichte!--Ich fühlte Erbarmen mit dem jungen Dinge, konnte aber nicht unterlassen, ihr vorzustellen, daß sich am Ende doch gut haben würde mit dem Fritze Adlers; und ich schilderte ihr die Enttäuschungen, die auf so viele Menschen lauern in der großen weiten Welt, die sie sich immer nur schön denken. Ich wies sie auf die tausenderlei Gefahren hin, die dort gerade den Unschuldigen umdräuen. Sie lächelte dazu und blieb fest. Sie ist wohl auch gefeit gegen alles. „Und darum wollen Sie fort von hier, Anna?" forschte ich weiter. „Darum auch, ja, — und dann überhaupt —, es ist so eng hier."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/385>, abgerufen am 23.12.2024.