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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Aunsterziehung

ein charakteristisches Beispiel dieser Richtung, willkommenen Anlaß zur Betrachtung
geben mag. Die Einleitung gibt zu, daß für die Volksschulen vielleicht der
gegnerische, in erster Linie von Lichtwark und den Hamburgern eingeschlagene
Weg gangbarer ist. Diesen ist es weniger um das Lehren von Wissenswertem
als um das Ausbilden einer natürlichen Fähigkeit zu tun. Völlig voraus-
setzungslos treten sie mit den Kindern vor ein Bild, an dem diese ein natür¬
liches Interesse nehmen, ein Bild also aus der heimatlichen Natur, aus dem
täglichen Leben. Sie suchen dieses Interesse zu konzentrieren, zu entwickeln
und zu lenken. Das erste bleibt immer die Anleitung zum Verstehen, d. h. zum
genauen Aufnehmen des sachlich Dargestellten, Vorgeschrittenere werden durch
Vergleiche auf Eigenarten verschiedener Meister hingewiesen. Mit Geduld und
zäher, entsagungsvoller Arbeit kann auf diese Weise viel erreicht werden: das
genaue Eingehen auf jede Einzelheit des Kunstwerks, das notwendige Ver¬
gleichen mit der Natur schärft die Beobachtung. Die Auswahl der Kunstwerke
regt an, in der heimischen Natur, im täglichen Leben neue Werte zu suchen.
Der Beschauer tritt voraussetzungslos, also naiv an das Kunstwerk heran, da
ihm historische oder ästhetisch-dogmatische Gedankengänge fernliegen. Reichhold
setzt in seiner Schrift voraus, daß die "Freude am Schönen", wie er sich etwas
vage ausdrückt, bereits geweckt ist, und will nun einen Lehrplan für die vier
oberen Klassen von Vollanstalten aufstellen. Ein besonderes Fach "Kunstgeschicht¬
licher Unterricht" wird zunächst, in Übereinstimmung mit fast allen, die sich zu
der Frage geäußert haben, und durchaus mit Recht, verworfen. Wer durch eine
Hintertür kommt das neue Fach doch herein. Es heißt da: "Es wird auch
darauf ankommen, die Entwicklung künstlerischer Ideen zu verfolgen, dem
historischen Bildungsgang entsprechend ein Kunstwerk auch aus seiner Zeit heraus
verstehen zu lernen." Kann es wirklich darauf ankommen? Gewiß, die
gelungene Lösung einer künstlerischen Aufgabe kann unter Umständen deutlicher
hervortreten durch Gegenüberstellung von unvollkommenen Lösungen, doch eben
nur unter Umständen, denn frühere Zeiten, die "vorbereitende" Lösungen
unbeachtet ließen, haben z. B. an Raffael mindestens ebensoviel Genuß und
Bereicherung gefunden wie wir, die wir alle vorhergehenden Versuche der Früh¬
renaissance am Schnürchen herzählen können. Aber was heißt nun vor allem
"aus seiner Zeit heraus verstehen zu lernen"? Der heute allerdings sehr
beliebte Satz stammt ja letzten Endes von Taine, doch fängt Taine in letzter
Zeit an. erschreckend unmodern zu werden. In zwanzig Jahren wird niemand
mehr an Taine glauben. Denn in letzter Linie handelt es sich doch bei dieser
Art von Kunstbetrachtung um nichts anderes als ein höchst künstliches Zurück¬
schrauben in eine fremde Zeit, um ein gänzlich unnaives und ausschließlich
gelehrtes Verfahren, das wohl einige Eigenheiten erläutern kann, aber aus¬
schließlich am Rohstoff hängen bleibt und niemals zu erklären vermag, weshalb
eine gothische Madonna qualitativ gut wurde, und eine andere mittelmäßig
oder schlecht. Bereicherung an Rohstoff aber brauchen wir nicht, wir brauchen


Schule und Aunsterziehung

ein charakteristisches Beispiel dieser Richtung, willkommenen Anlaß zur Betrachtung
geben mag. Die Einleitung gibt zu, daß für die Volksschulen vielleicht der
gegnerische, in erster Linie von Lichtwark und den Hamburgern eingeschlagene
Weg gangbarer ist. Diesen ist es weniger um das Lehren von Wissenswertem
als um das Ausbilden einer natürlichen Fähigkeit zu tun. Völlig voraus-
setzungslos treten sie mit den Kindern vor ein Bild, an dem diese ein natür¬
liches Interesse nehmen, ein Bild also aus der heimatlichen Natur, aus dem
täglichen Leben. Sie suchen dieses Interesse zu konzentrieren, zu entwickeln
und zu lenken. Das erste bleibt immer die Anleitung zum Verstehen, d. h. zum
genauen Aufnehmen des sachlich Dargestellten, Vorgeschrittenere werden durch
Vergleiche auf Eigenarten verschiedener Meister hingewiesen. Mit Geduld und
zäher, entsagungsvoller Arbeit kann auf diese Weise viel erreicht werden: das
genaue Eingehen auf jede Einzelheit des Kunstwerks, das notwendige Ver¬
gleichen mit der Natur schärft die Beobachtung. Die Auswahl der Kunstwerke
regt an, in der heimischen Natur, im täglichen Leben neue Werte zu suchen.
Der Beschauer tritt voraussetzungslos, also naiv an das Kunstwerk heran, da
ihm historische oder ästhetisch-dogmatische Gedankengänge fernliegen. Reichhold
setzt in seiner Schrift voraus, daß die „Freude am Schönen", wie er sich etwas
vage ausdrückt, bereits geweckt ist, und will nun einen Lehrplan für die vier
oberen Klassen von Vollanstalten aufstellen. Ein besonderes Fach „Kunstgeschicht¬
licher Unterricht" wird zunächst, in Übereinstimmung mit fast allen, die sich zu
der Frage geäußert haben, und durchaus mit Recht, verworfen. Wer durch eine
Hintertür kommt das neue Fach doch herein. Es heißt da: „Es wird auch
darauf ankommen, die Entwicklung künstlerischer Ideen zu verfolgen, dem
historischen Bildungsgang entsprechend ein Kunstwerk auch aus seiner Zeit heraus
verstehen zu lernen." Kann es wirklich darauf ankommen? Gewiß, die
gelungene Lösung einer künstlerischen Aufgabe kann unter Umständen deutlicher
hervortreten durch Gegenüberstellung von unvollkommenen Lösungen, doch eben
nur unter Umständen, denn frühere Zeiten, die „vorbereitende" Lösungen
unbeachtet ließen, haben z. B. an Raffael mindestens ebensoviel Genuß und
Bereicherung gefunden wie wir, die wir alle vorhergehenden Versuche der Früh¬
renaissance am Schnürchen herzählen können. Aber was heißt nun vor allem
„aus seiner Zeit heraus verstehen zu lernen"? Der heute allerdings sehr
beliebte Satz stammt ja letzten Endes von Taine, doch fängt Taine in letzter
Zeit an. erschreckend unmodern zu werden. In zwanzig Jahren wird niemand
mehr an Taine glauben. Denn in letzter Linie handelt es sich doch bei dieser
Art von Kunstbetrachtung um nichts anderes als ein höchst künstliches Zurück¬
schrauben in eine fremde Zeit, um ein gänzlich unnaives und ausschließlich
gelehrtes Verfahren, das wohl einige Eigenheiten erläutern kann, aber aus¬
schließlich am Rohstoff hängen bleibt und niemals zu erklären vermag, weshalb
eine gothische Madonna qualitativ gut wurde, und eine andere mittelmäßig
oder schlecht. Bereicherung an Rohstoff aber brauchen wir nicht, wir brauchen


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[0367] Schule und Aunsterziehung ein charakteristisches Beispiel dieser Richtung, willkommenen Anlaß zur Betrachtung geben mag. Die Einleitung gibt zu, daß für die Volksschulen vielleicht der gegnerische, in erster Linie von Lichtwark und den Hamburgern eingeschlagene Weg gangbarer ist. Diesen ist es weniger um das Lehren von Wissenswertem als um das Ausbilden einer natürlichen Fähigkeit zu tun. Völlig voraus- setzungslos treten sie mit den Kindern vor ein Bild, an dem diese ein natür¬ liches Interesse nehmen, ein Bild also aus der heimatlichen Natur, aus dem täglichen Leben. Sie suchen dieses Interesse zu konzentrieren, zu entwickeln und zu lenken. Das erste bleibt immer die Anleitung zum Verstehen, d. h. zum genauen Aufnehmen des sachlich Dargestellten, Vorgeschrittenere werden durch Vergleiche auf Eigenarten verschiedener Meister hingewiesen. Mit Geduld und zäher, entsagungsvoller Arbeit kann auf diese Weise viel erreicht werden: das genaue Eingehen auf jede Einzelheit des Kunstwerks, das notwendige Ver¬ gleichen mit der Natur schärft die Beobachtung. Die Auswahl der Kunstwerke regt an, in der heimischen Natur, im täglichen Leben neue Werte zu suchen. Der Beschauer tritt voraussetzungslos, also naiv an das Kunstwerk heran, da ihm historische oder ästhetisch-dogmatische Gedankengänge fernliegen. Reichhold setzt in seiner Schrift voraus, daß die „Freude am Schönen", wie er sich etwas vage ausdrückt, bereits geweckt ist, und will nun einen Lehrplan für die vier oberen Klassen von Vollanstalten aufstellen. Ein besonderes Fach „Kunstgeschicht¬ licher Unterricht" wird zunächst, in Übereinstimmung mit fast allen, die sich zu der Frage geäußert haben, und durchaus mit Recht, verworfen. Wer durch eine Hintertür kommt das neue Fach doch herein. Es heißt da: „Es wird auch darauf ankommen, die Entwicklung künstlerischer Ideen zu verfolgen, dem historischen Bildungsgang entsprechend ein Kunstwerk auch aus seiner Zeit heraus verstehen zu lernen." Kann es wirklich darauf ankommen? Gewiß, die gelungene Lösung einer künstlerischen Aufgabe kann unter Umständen deutlicher hervortreten durch Gegenüberstellung von unvollkommenen Lösungen, doch eben nur unter Umständen, denn frühere Zeiten, die „vorbereitende" Lösungen unbeachtet ließen, haben z. B. an Raffael mindestens ebensoviel Genuß und Bereicherung gefunden wie wir, die wir alle vorhergehenden Versuche der Früh¬ renaissance am Schnürchen herzählen können. Aber was heißt nun vor allem „aus seiner Zeit heraus verstehen zu lernen"? Der heute allerdings sehr beliebte Satz stammt ja letzten Endes von Taine, doch fängt Taine in letzter Zeit an. erschreckend unmodern zu werden. In zwanzig Jahren wird niemand mehr an Taine glauben. Denn in letzter Linie handelt es sich doch bei dieser Art von Kunstbetrachtung um nichts anderes als ein höchst künstliches Zurück¬ schrauben in eine fremde Zeit, um ein gänzlich unnaives und ausschließlich gelehrtes Verfahren, das wohl einige Eigenheiten erläutern kann, aber aus¬ schließlich am Rohstoff hängen bleibt und niemals zu erklären vermag, weshalb eine gothische Madonna qualitativ gut wurde, und eine andere mittelmäßig oder schlecht. Bereicherung an Rohstoff aber brauchen wir nicht, wir brauchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/367>, abgerufen am 22.12.2024.