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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Arbeiter als literarische Kritiker

Das deutsche Studententum hat erst ziemlich spät begonnen, sich mit sozialen
Aufgaben zu beschäftigen; aber dauernd konnte sich die Jugend, wenn sie in der
Freiheit des Universitätslebens von dem Bann traditioneller Anschauungen in
Schule und Haus sich zu lösen und selbständig mit den Fragen des Lebens aus¬
einanderzusetzen begann, auch nicht vor diesem großen Problem der Zeit ver¬
schließen, sondern mußte endlich den Wunsch empfinden, irgendwie im Kampf der
Meinung Stellung zu nehmen, und zwar nicht nur nach theoretischen Erwägungen,
sondern auf Grund persönlicher Bekanntschaft mit dem von ihr durch eine fast
unüberbrückbare Kluft getrennten Volksteil, um den jener Kampf tobte.

Es ist ganz natürlich, daß diese Wünsche zuerst in Berlin in die Praxis
umgesetzt wurden, an dessen Universität Gustav Schmoller lehrte, wo die Frage
besonders brennend war und am lebhaftesten erörtert wurde. Im Jahre 1902
wurden von der Wildenschaft der Charlottenburger technischen Hochschule die
ersten akademischen Unterrichtskurse für Arbeiter gegründet. Nach diesem Vor¬
bild entstanden sehr rasch ähnliche Kurse in vielen anderen Städten, die sich im
Verband der akademischen Arbeiterunterrichtskurse Deutschlands zusammenschlossen.
Diese Unternehmungen sind nicht alle gleichartig, sondern unterscheiden sich oft
recht wesentlich voneinander in bezug auf die Zahl von Lehrern und Hörern
und die Unterrichtsfächer; gemeinsam ist ihnen die Neutralität in allen politischen
und religiösen Fragen, im Gegensatz zu den "westdeutschen" auf katholisch-
konfessioneller Grundlage ruhenden Kursen, die von Dr. Sonnenschein in
München-Gladbach geleitet werden.

Ihrem Zweck, eine Brücke zwischen dem Proletariat und der akademischen
Jugend zu bilden, genügen natürlich am besten die Kurse in den Großstädten,
wo sonst die Trennung der Klassen schon durch die verschiedenen Wohngegenden
besonders schroff und kaum eine andere Möglichkeit vorhanden ist, den Arbeiter
auf einem neutralen Gebiet kennen zu lernen. Auch sonst verdienen die
Berliner Kurse besonderes Interesse, weil sie nämlich seit ihrer Gründung an
dem Programm festgehalten haben, nur das Wissen in den Unterrichtsfächern
der Volksschule zu vertiefen und grundsätzlich auf die von anderen Kursen des
Verbandes besonders gepflegten fremden Sprachen und Gegenstände der praktischen
Berufsbildung verzichten.

Die Hörer sind zum größten Teil Fabrikarbeiter, zum kleineren Hand¬
werker und Angestellte, die Hörerinnen meist Heim- und Fabrikarbeiterinnen.

Im folgenden möchte ich nun über die recht interessanten Ergebnisse eines
sogenannten Ferienkurses berichten, der auf Wunsch der Teilnehmer des obersten
Deutschkurses in den Universitätsferien ganz wie ein regulärer Kurs einmal wöchentlich
abends von 8 bis 10 Uhr in einer Schulklasse im Zentrum Berlins abgehalten wurde.

Die Wahl des Themas für diesen Deutschkurs machte ziemliche Schwierig¬
keiten; es sollte ein Buch sein, das in einer billigen Ausgabe erschienen war,
keinerlei Anlaß zu politischen oder religiösen Debatten gab und zu der Richtung
des letzten Kurses paßte, in dem vor allem die literarische Urteilsfähigkeit geübt


Arbeiter als literarische Kritiker

Das deutsche Studententum hat erst ziemlich spät begonnen, sich mit sozialen
Aufgaben zu beschäftigen; aber dauernd konnte sich die Jugend, wenn sie in der
Freiheit des Universitätslebens von dem Bann traditioneller Anschauungen in
Schule und Haus sich zu lösen und selbständig mit den Fragen des Lebens aus¬
einanderzusetzen begann, auch nicht vor diesem großen Problem der Zeit ver¬
schließen, sondern mußte endlich den Wunsch empfinden, irgendwie im Kampf der
Meinung Stellung zu nehmen, und zwar nicht nur nach theoretischen Erwägungen,
sondern auf Grund persönlicher Bekanntschaft mit dem von ihr durch eine fast
unüberbrückbare Kluft getrennten Volksteil, um den jener Kampf tobte.

Es ist ganz natürlich, daß diese Wünsche zuerst in Berlin in die Praxis
umgesetzt wurden, an dessen Universität Gustav Schmoller lehrte, wo die Frage
besonders brennend war und am lebhaftesten erörtert wurde. Im Jahre 1902
wurden von der Wildenschaft der Charlottenburger technischen Hochschule die
ersten akademischen Unterrichtskurse für Arbeiter gegründet. Nach diesem Vor¬
bild entstanden sehr rasch ähnliche Kurse in vielen anderen Städten, die sich im
Verband der akademischen Arbeiterunterrichtskurse Deutschlands zusammenschlossen.
Diese Unternehmungen sind nicht alle gleichartig, sondern unterscheiden sich oft
recht wesentlich voneinander in bezug auf die Zahl von Lehrern und Hörern
und die Unterrichtsfächer; gemeinsam ist ihnen die Neutralität in allen politischen
und religiösen Fragen, im Gegensatz zu den „westdeutschen" auf katholisch-
konfessioneller Grundlage ruhenden Kursen, die von Dr. Sonnenschein in
München-Gladbach geleitet werden.

Ihrem Zweck, eine Brücke zwischen dem Proletariat und der akademischen
Jugend zu bilden, genügen natürlich am besten die Kurse in den Großstädten,
wo sonst die Trennung der Klassen schon durch die verschiedenen Wohngegenden
besonders schroff und kaum eine andere Möglichkeit vorhanden ist, den Arbeiter
auf einem neutralen Gebiet kennen zu lernen. Auch sonst verdienen die
Berliner Kurse besonderes Interesse, weil sie nämlich seit ihrer Gründung an
dem Programm festgehalten haben, nur das Wissen in den Unterrichtsfächern
der Volksschule zu vertiefen und grundsätzlich auf die von anderen Kursen des
Verbandes besonders gepflegten fremden Sprachen und Gegenstände der praktischen
Berufsbildung verzichten.

Die Hörer sind zum größten Teil Fabrikarbeiter, zum kleineren Hand¬
werker und Angestellte, die Hörerinnen meist Heim- und Fabrikarbeiterinnen.

Im folgenden möchte ich nun über die recht interessanten Ergebnisse eines
sogenannten Ferienkurses berichten, der auf Wunsch der Teilnehmer des obersten
Deutschkurses in den Universitätsferien ganz wie ein regulärer Kurs einmal wöchentlich
abends von 8 bis 10 Uhr in einer Schulklasse im Zentrum Berlins abgehalten wurde.

Die Wahl des Themas für diesen Deutschkurs machte ziemliche Schwierig¬
keiten; es sollte ein Buch sein, das in einer billigen Ausgabe erschienen war,
keinerlei Anlaß zu politischen oder religiösen Debatten gab und zu der Richtung
des letzten Kurses paßte, in dem vor allem die literarische Urteilsfähigkeit geübt


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[0326] Arbeiter als literarische Kritiker Das deutsche Studententum hat erst ziemlich spät begonnen, sich mit sozialen Aufgaben zu beschäftigen; aber dauernd konnte sich die Jugend, wenn sie in der Freiheit des Universitätslebens von dem Bann traditioneller Anschauungen in Schule und Haus sich zu lösen und selbständig mit den Fragen des Lebens aus¬ einanderzusetzen begann, auch nicht vor diesem großen Problem der Zeit ver¬ schließen, sondern mußte endlich den Wunsch empfinden, irgendwie im Kampf der Meinung Stellung zu nehmen, und zwar nicht nur nach theoretischen Erwägungen, sondern auf Grund persönlicher Bekanntschaft mit dem von ihr durch eine fast unüberbrückbare Kluft getrennten Volksteil, um den jener Kampf tobte. Es ist ganz natürlich, daß diese Wünsche zuerst in Berlin in die Praxis umgesetzt wurden, an dessen Universität Gustav Schmoller lehrte, wo die Frage besonders brennend war und am lebhaftesten erörtert wurde. Im Jahre 1902 wurden von der Wildenschaft der Charlottenburger technischen Hochschule die ersten akademischen Unterrichtskurse für Arbeiter gegründet. Nach diesem Vor¬ bild entstanden sehr rasch ähnliche Kurse in vielen anderen Städten, die sich im Verband der akademischen Arbeiterunterrichtskurse Deutschlands zusammenschlossen. Diese Unternehmungen sind nicht alle gleichartig, sondern unterscheiden sich oft recht wesentlich voneinander in bezug auf die Zahl von Lehrern und Hörern und die Unterrichtsfächer; gemeinsam ist ihnen die Neutralität in allen politischen und religiösen Fragen, im Gegensatz zu den „westdeutschen" auf katholisch- konfessioneller Grundlage ruhenden Kursen, die von Dr. Sonnenschein in München-Gladbach geleitet werden. Ihrem Zweck, eine Brücke zwischen dem Proletariat und der akademischen Jugend zu bilden, genügen natürlich am besten die Kurse in den Großstädten, wo sonst die Trennung der Klassen schon durch die verschiedenen Wohngegenden besonders schroff und kaum eine andere Möglichkeit vorhanden ist, den Arbeiter auf einem neutralen Gebiet kennen zu lernen. Auch sonst verdienen die Berliner Kurse besonderes Interesse, weil sie nämlich seit ihrer Gründung an dem Programm festgehalten haben, nur das Wissen in den Unterrichtsfächern der Volksschule zu vertiefen und grundsätzlich auf die von anderen Kursen des Verbandes besonders gepflegten fremden Sprachen und Gegenstände der praktischen Berufsbildung verzichten. Die Hörer sind zum größten Teil Fabrikarbeiter, zum kleineren Hand¬ werker und Angestellte, die Hörerinnen meist Heim- und Fabrikarbeiterinnen. Im folgenden möchte ich nun über die recht interessanten Ergebnisse eines sogenannten Ferienkurses berichten, der auf Wunsch der Teilnehmer des obersten Deutschkurses in den Universitätsferien ganz wie ein regulärer Kurs einmal wöchentlich abends von 8 bis 10 Uhr in einer Schulklasse im Zentrum Berlins abgehalten wurde. Die Wahl des Themas für diesen Deutschkurs machte ziemliche Schwierig¬ keiten; es sollte ein Buch sein, das in einer billigen Ausgabe erschienen war, keinerlei Anlaß zu politischen oder religiösen Debatten gab und zu der Richtung des letzten Kurses paßte, in dem vor allem die literarische Urteilsfähigkeit geübt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/326>, abgerufen am 22.12.2024.