Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
von einer neuen und anderen Sozialpolitik

und auch solchen Arbeitern, die nur zum Teil Lohnarbeiter sind, und die mit
einem Bruchteil ihrer Existenz Keine Eigenwirte, eigenständige Produzenten sind.
Diesen Charakter sollen besonders die Arbeiter auf dem Lande haben. Für
den kleinen Unternehmer aber ist unsere Sozialversicherung eine sehr schwer zu
tragende Last. So bedrückt sie gerade den Nachwuchs der Unternehmungskraft
am meisten, erschwert den Übergang aus dem Stande des Lohnarbeiters zu
dem des kleinen Unternehmers und läßt es jedem einfachen deutschen Arbeiter
rätlicher erscheinen, im Stande der abhängigen, versicherten Lohnarbeiter aus¬
zuharren, statt sich hinauszuwagen in die schwer belastete Selbständigkeit. Sie
erstickt die Unternehmungskraft des Volkes, die Liebe zur Eigenständigkeit, zur
wirtschaftlichen Selbständigkeit im Keime. Sie wird zu einem Unrecht an dem
besseren Teile des Volkes, an dem Arbeiter selber, demjenigen nämlich, der sich
herausarbeiten will aus dem Stande der Abhängigkeit. Wer weiß nicht, daß
das kostbarste Gut des Arbeiters die Hoffnung, die Aussicht auf Selbständigkeit
für ihn selbst oder seine Kinder ist. Das ist der schwerste Vorwurf gegen
unsere Sozialversicherung, daß sie das Emporkommen aus dem
Stande der Abhängigkeit erschwert. Wie lange wird der gute Kern im
deutschen Volke eine solche Politik aushalten?

Bisher ist diese Sozialpolitik dargestellt als eine Bevorzugung der Ab¬
hängigen auf Kosten der selbständigen; sie bewirkt aber in derselben Weise
auch einen Unterschied von Stadt und Land. Denn auf dem Lande muß auch
der Kleinste einen Bruchteil von Eigenwirtschaft, Eigenständigkeit als kleiner
Produzent behalten, weil es dort nicht immer alles für Geld zu kaufen gibt.
In Städten dagegen wohnt das Ideal der vollkommensten Abhängigkeit, der
feftbesoldeten und ganz und gar versicherten Existenz, mit fixierten Geldlohn,
mit Aussicht auf Arbeitslosenunterstützung und auf mancherlei öffentliche und
private Wohltaten. Nur in den Städten und besonders in der großen Industrie
kann der volle Segen unserer Arbeiterversicherung zur Wirkung kommen. Darum
muß sie wirken als ein Mittel zur Beförderung der Landflucht und zur Ver¬
mehrung des Wachstums der großen Städte, wie einst die Brotverteilungen in
Rom. Auf ganz verkehrten: Wege aber sind diejenigen, welche meinen, daß
die Landflucht sich verringern werde, wenn unsere segensreiche Arbeiterversicherung
auf die ländlichen Arbeiter recht energisch ausgedehnt wird. O nein, diese
brauchen ganz etwas anderes.

Ist es nun zu viel, wenn man diese krankmachende, volksverderbende
Sozialpolitik, welche die Abhängigkeit prämiiert und die Unternehmungskrast
besteuert, als eine römische Sozialpolitik bezeichnet, die genau dieselben
Erfolge haben muß wie einst im alten Rom die Verhätschelung der abhängigen,
großstädtischen Massen? Es ist hohe Zeit, daß wir dieser falschen Sozialpolitik,
welche wir die römische nennen, eine richtige, gesunde Sozialpolitik gegenüber¬
stellen, welche wir als die deutsche Sozialpolitik bezeichnen wollen, welche nicht
den Geist der Abhängigkeit stärkt, sondern auch im Kleinsten das Vertrauen in


von einer neuen und anderen Sozialpolitik

und auch solchen Arbeitern, die nur zum Teil Lohnarbeiter sind, und die mit
einem Bruchteil ihrer Existenz Keine Eigenwirte, eigenständige Produzenten sind.
Diesen Charakter sollen besonders die Arbeiter auf dem Lande haben. Für
den kleinen Unternehmer aber ist unsere Sozialversicherung eine sehr schwer zu
tragende Last. So bedrückt sie gerade den Nachwuchs der Unternehmungskraft
am meisten, erschwert den Übergang aus dem Stande des Lohnarbeiters zu
dem des kleinen Unternehmers und läßt es jedem einfachen deutschen Arbeiter
rätlicher erscheinen, im Stande der abhängigen, versicherten Lohnarbeiter aus¬
zuharren, statt sich hinauszuwagen in die schwer belastete Selbständigkeit. Sie
erstickt die Unternehmungskraft des Volkes, die Liebe zur Eigenständigkeit, zur
wirtschaftlichen Selbständigkeit im Keime. Sie wird zu einem Unrecht an dem
besseren Teile des Volkes, an dem Arbeiter selber, demjenigen nämlich, der sich
herausarbeiten will aus dem Stande der Abhängigkeit. Wer weiß nicht, daß
das kostbarste Gut des Arbeiters die Hoffnung, die Aussicht auf Selbständigkeit
für ihn selbst oder seine Kinder ist. Das ist der schwerste Vorwurf gegen
unsere Sozialversicherung, daß sie das Emporkommen aus dem
Stande der Abhängigkeit erschwert. Wie lange wird der gute Kern im
deutschen Volke eine solche Politik aushalten?

Bisher ist diese Sozialpolitik dargestellt als eine Bevorzugung der Ab¬
hängigen auf Kosten der selbständigen; sie bewirkt aber in derselben Weise
auch einen Unterschied von Stadt und Land. Denn auf dem Lande muß auch
der Kleinste einen Bruchteil von Eigenwirtschaft, Eigenständigkeit als kleiner
Produzent behalten, weil es dort nicht immer alles für Geld zu kaufen gibt.
In Städten dagegen wohnt das Ideal der vollkommensten Abhängigkeit, der
feftbesoldeten und ganz und gar versicherten Existenz, mit fixierten Geldlohn,
mit Aussicht auf Arbeitslosenunterstützung und auf mancherlei öffentliche und
private Wohltaten. Nur in den Städten und besonders in der großen Industrie
kann der volle Segen unserer Arbeiterversicherung zur Wirkung kommen. Darum
muß sie wirken als ein Mittel zur Beförderung der Landflucht und zur Ver¬
mehrung des Wachstums der großen Städte, wie einst die Brotverteilungen in
Rom. Auf ganz verkehrten: Wege aber sind diejenigen, welche meinen, daß
die Landflucht sich verringern werde, wenn unsere segensreiche Arbeiterversicherung
auf die ländlichen Arbeiter recht energisch ausgedehnt wird. O nein, diese
brauchen ganz etwas anderes.

Ist es nun zu viel, wenn man diese krankmachende, volksverderbende
Sozialpolitik, welche die Abhängigkeit prämiiert und die Unternehmungskrast
besteuert, als eine römische Sozialpolitik bezeichnet, die genau dieselben
Erfolge haben muß wie einst im alten Rom die Verhätschelung der abhängigen,
großstädtischen Massen? Es ist hohe Zeit, daß wir dieser falschen Sozialpolitik,
welche wir die römische nennen, eine richtige, gesunde Sozialpolitik gegenüber¬
stellen, welche wir als die deutsche Sozialpolitik bezeichnen wollen, welche nicht
den Geist der Abhängigkeit stärkt, sondern auch im Kleinsten das Vertrauen in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325190"/>
          <fw type="header" place="top"> von einer neuen und anderen Sozialpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1308" prev="#ID_1307"> und auch solchen Arbeitern, die nur zum Teil Lohnarbeiter sind, und die mit<lb/>
einem Bruchteil ihrer Existenz Keine Eigenwirte, eigenständige Produzenten sind.<lb/>
Diesen Charakter sollen besonders die Arbeiter auf dem Lande haben. Für<lb/>
den kleinen Unternehmer aber ist unsere Sozialversicherung eine sehr schwer zu<lb/>
tragende Last. So bedrückt sie gerade den Nachwuchs der Unternehmungskraft<lb/>
am meisten, erschwert den Übergang aus dem Stande des Lohnarbeiters zu<lb/>
dem des kleinen Unternehmers und läßt es jedem einfachen deutschen Arbeiter<lb/>
rätlicher erscheinen, im Stande der abhängigen, versicherten Lohnarbeiter aus¬<lb/>
zuharren, statt sich hinauszuwagen in die schwer belastete Selbständigkeit. Sie<lb/>
erstickt die Unternehmungskraft des Volkes, die Liebe zur Eigenständigkeit, zur<lb/>
wirtschaftlichen Selbständigkeit im Keime. Sie wird zu einem Unrecht an dem<lb/>
besseren Teile des Volkes, an dem Arbeiter selber, demjenigen nämlich, der sich<lb/>
herausarbeiten will aus dem Stande der Abhängigkeit. Wer weiß nicht, daß<lb/>
das kostbarste Gut des Arbeiters die Hoffnung, die Aussicht auf Selbständigkeit<lb/>
für ihn selbst oder seine Kinder ist. Das ist der schwerste Vorwurf gegen<lb/>
unsere Sozialversicherung, daß sie das Emporkommen aus dem<lb/>
Stande der Abhängigkeit erschwert. Wie lange wird der gute Kern im<lb/>
deutschen Volke eine solche Politik aushalten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1309"> Bisher ist diese Sozialpolitik dargestellt als eine Bevorzugung der Ab¬<lb/>
hängigen auf Kosten der selbständigen; sie bewirkt aber in derselben Weise<lb/>
auch einen Unterschied von Stadt und Land. Denn auf dem Lande muß auch<lb/>
der Kleinste einen Bruchteil von Eigenwirtschaft, Eigenständigkeit als kleiner<lb/>
Produzent behalten, weil es dort nicht immer alles für Geld zu kaufen gibt.<lb/>
In Städten dagegen wohnt das Ideal der vollkommensten Abhängigkeit, der<lb/>
feftbesoldeten und ganz und gar versicherten Existenz, mit fixierten Geldlohn,<lb/>
mit Aussicht auf Arbeitslosenunterstützung und auf mancherlei öffentliche und<lb/>
private Wohltaten. Nur in den Städten und besonders in der großen Industrie<lb/>
kann der volle Segen unserer Arbeiterversicherung zur Wirkung kommen. Darum<lb/>
muß sie wirken als ein Mittel zur Beförderung der Landflucht und zur Ver¬<lb/>
mehrung des Wachstums der großen Städte, wie einst die Brotverteilungen in<lb/>
Rom. Auf ganz verkehrten: Wege aber sind diejenigen, welche meinen, daß<lb/>
die Landflucht sich verringern werde, wenn unsere segensreiche Arbeiterversicherung<lb/>
auf die ländlichen Arbeiter recht energisch ausgedehnt wird. O nein, diese<lb/>
brauchen ganz etwas anderes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1310" next="#ID_1311"> Ist es nun zu viel, wenn man diese krankmachende, volksverderbende<lb/>
Sozialpolitik, welche die Abhängigkeit prämiiert und die Unternehmungskrast<lb/>
besteuert, als eine römische Sozialpolitik bezeichnet, die genau dieselben<lb/>
Erfolge haben muß wie einst im alten Rom die Verhätschelung der abhängigen,<lb/>
großstädtischen Massen? Es ist hohe Zeit, daß wir dieser falschen Sozialpolitik,<lb/>
welche wir die römische nennen, eine richtige, gesunde Sozialpolitik gegenüber¬<lb/>
stellen, welche wir als die deutsche Sozialpolitik bezeichnen wollen, welche nicht<lb/>
den Geist der Abhängigkeit stärkt, sondern auch im Kleinsten das Vertrauen in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] von einer neuen und anderen Sozialpolitik und auch solchen Arbeitern, die nur zum Teil Lohnarbeiter sind, und die mit einem Bruchteil ihrer Existenz Keine Eigenwirte, eigenständige Produzenten sind. Diesen Charakter sollen besonders die Arbeiter auf dem Lande haben. Für den kleinen Unternehmer aber ist unsere Sozialversicherung eine sehr schwer zu tragende Last. So bedrückt sie gerade den Nachwuchs der Unternehmungskraft am meisten, erschwert den Übergang aus dem Stande des Lohnarbeiters zu dem des kleinen Unternehmers und läßt es jedem einfachen deutschen Arbeiter rätlicher erscheinen, im Stande der abhängigen, versicherten Lohnarbeiter aus¬ zuharren, statt sich hinauszuwagen in die schwer belastete Selbständigkeit. Sie erstickt die Unternehmungskraft des Volkes, die Liebe zur Eigenständigkeit, zur wirtschaftlichen Selbständigkeit im Keime. Sie wird zu einem Unrecht an dem besseren Teile des Volkes, an dem Arbeiter selber, demjenigen nämlich, der sich herausarbeiten will aus dem Stande der Abhängigkeit. Wer weiß nicht, daß das kostbarste Gut des Arbeiters die Hoffnung, die Aussicht auf Selbständigkeit für ihn selbst oder seine Kinder ist. Das ist der schwerste Vorwurf gegen unsere Sozialversicherung, daß sie das Emporkommen aus dem Stande der Abhängigkeit erschwert. Wie lange wird der gute Kern im deutschen Volke eine solche Politik aushalten? Bisher ist diese Sozialpolitik dargestellt als eine Bevorzugung der Ab¬ hängigen auf Kosten der selbständigen; sie bewirkt aber in derselben Weise auch einen Unterschied von Stadt und Land. Denn auf dem Lande muß auch der Kleinste einen Bruchteil von Eigenwirtschaft, Eigenständigkeit als kleiner Produzent behalten, weil es dort nicht immer alles für Geld zu kaufen gibt. In Städten dagegen wohnt das Ideal der vollkommensten Abhängigkeit, der feftbesoldeten und ganz und gar versicherten Existenz, mit fixierten Geldlohn, mit Aussicht auf Arbeitslosenunterstützung und auf mancherlei öffentliche und private Wohltaten. Nur in den Städten und besonders in der großen Industrie kann der volle Segen unserer Arbeiterversicherung zur Wirkung kommen. Darum muß sie wirken als ein Mittel zur Beförderung der Landflucht und zur Ver¬ mehrung des Wachstums der großen Städte, wie einst die Brotverteilungen in Rom. Auf ganz verkehrten: Wege aber sind diejenigen, welche meinen, daß die Landflucht sich verringern werde, wenn unsere segensreiche Arbeiterversicherung auf die ländlichen Arbeiter recht energisch ausgedehnt wird. O nein, diese brauchen ganz etwas anderes. Ist es nun zu viel, wenn man diese krankmachende, volksverderbende Sozialpolitik, welche die Abhängigkeit prämiiert und die Unternehmungskrast besteuert, als eine römische Sozialpolitik bezeichnet, die genau dieselben Erfolge haben muß wie einst im alten Rom die Verhätschelung der abhängigen, großstädtischen Massen? Es ist hohe Zeit, daß wir dieser falschen Sozialpolitik, welche wir die römische nennen, eine richtige, gesunde Sozialpolitik gegenüber¬ stellen, welche wir als die deutsche Sozialpolitik bezeichnen wollen, welche nicht den Geist der Abhängigkeit stärkt, sondern auch im Kleinsten das Vertrauen in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/320>, abgerufen am 22.07.2024.