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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Von einer neuen und anderen Sozialpolitik

sogenannten Minderbemittelten zugedeckt werden dürfe von Staats wegen durch
einen Beitrag, den man aus den Taschen derjenigen nimmt, die, wie man
meint, es vertragen können, der Unternehmer. Wovon lebt denn aber die
Masse der Unabhängigen sowohl wie das ganze Volk, wenn nicht von der
Unternehmungskrast? Nun ist es schon falsch, daß man meint, allen großen
und kleinen Unternehmungen einen Durch schnittssatz auflegen zu dürfen; denn
im Einzelfalle kann die eine Unternehmung sehr gut eine ansehnliche Last tragen,
die andere aber auch nicht die kleinste. Es besteht aber außerdem die Gefahr,
daß auch die durchschnittliche Unternehmungskraft demnächst stärker belastet wird,
als ihre Elastizität verträgt. Dann geschieht, was Gibbon in seinem großen
Werk über den Untergang des römischen Reiches in folgendem lapidaren Satz
beschreibt: "Als das Verhältnis derjenigen, welche empfingen (der Lohnarbeiter,
Privatangestellten und Beamten), die Kraft derjenigen überstieg, welche abzu¬
geben hatten (der Unternehmer, der Steuerzahler), wurden die Provinzen von
den Lasten der Abgaben erdrückt." So entstand die Verödung des Landes,
der Rückgang der Geburten, endlich die vollkommene Verwüstung der alten
Kulturstätten, so daß nicht mehr Zehntausend ihr Brot fanden, wo früher
Hunderttausend lebten. -- Wodurch? Durch die Erlahmung der Unter¬
nehmungskraft.

Die bisherige Sozialversicherung ist eingerichtet, als wenn das Volk nur
aus Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmern anderseits bestände oder bestehen
müßte, Arbeitgeber, welche zu geben haben und auch geben können und Arbeit¬
nehmern, welche zu empfangen haben und dessen auch immer bedürftig sind.
In den Herzen vieler Gönner unserer Sozialpolitik scheint die geheime Sehnsucht
zu wohnen nach einer Zeit, wo es in Deutschland nur noch Riesenbetriebe,
wie Krupp geben möchte, die so stark sind, daß man ihnen recht viel zumuten
darf und demgegenüber einen Stand zwar abhängiger, aber recht wohlbezahlter,
ganz sicher gestellter, hoch in der Zivilisation stehender Arbeiter. Oh! Du
armes deutsches Volk, wenn es jemals dazu käme, das wäre der Anfang des
Sterbens, wenn es nicht schon das Totsein selbst wäre; es gäbe dann kein
wahres Volksleben mehr.

Das ist nun der dritte große Fehler unserer bisherigen Sozialpolitik, daß
sie eine Einrichtung ist, diese unerwünschte Entwicklung zu solcher Zukunft zu
befördern. Alle Sicherheit nämlich, die sie dem Stande des abhängigen Lohn¬
arbeiters erteilt, alle Wohltaten auf anderer Stände Kosten, mit denen sie seine
Existenz über dessen eigene Kraft hinaushebt, wird zugleich zum Unrecht an
demjenigen kleinen freien Mann, der nichts erhält, weil er nicht in dem Maße
wie jene, oder überhaupt nicht abhängiger Lohnarbeiter ist. Es muß und soll,
wenn ein Volk im gesunden Wachstum und in Unternehmungskraft beharren
will, zwischen jenen großen Arbeitgebern einerseits und jenen gutbezahlter
Arbeitern der großen Unternehmungen anderseits, eine recht breite Masse von
kleinen und kleinsten Unternehmern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden geben


Von einer neuen und anderen Sozialpolitik

sogenannten Minderbemittelten zugedeckt werden dürfe von Staats wegen durch
einen Beitrag, den man aus den Taschen derjenigen nimmt, die, wie man
meint, es vertragen können, der Unternehmer. Wovon lebt denn aber die
Masse der Unabhängigen sowohl wie das ganze Volk, wenn nicht von der
Unternehmungskrast? Nun ist es schon falsch, daß man meint, allen großen
und kleinen Unternehmungen einen Durch schnittssatz auflegen zu dürfen; denn
im Einzelfalle kann die eine Unternehmung sehr gut eine ansehnliche Last tragen,
die andere aber auch nicht die kleinste. Es besteht aber außerdem die Gefahr,
daß auch die durchschnittliche Unternehmungskraft demnächst stärker belastet wird,
als ihre Elastizität verträgt. Dann geschieht, was Gibbon in seinem großen
Werk über den Untergang des römischen Reiches in folgendem lapidaren Satz
beschreibt: „Als das Verhältnis derjenigen, welche empfingen (der Lohnarbeiter,
Privatangestellten und Beamten), die Kraft derjenigen überstieg, welche abzu¬
geben hatten (der Unternehmer, der Steuerzahler), wurden die Provinzen von
den Lasten der Abgaben erdrückt." So entstand die Verödung des Landes,
der Rückgang der Geburten, endlich die vollkommene Verwüstung der alten
Kulturstätten, so daß nicht mehr Zehntausend ihr Brot fanden, wo früher
Hunderttausend lebten. — Wodurch? Durch die Erlahmung der Unter¬
nehmungskraft.

Die bisherige Sozialversicherung ist eingerichtet, als wenn das Volk nur
aus Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmern anderseits bestände oder bestehen
müßte, Arbeitgeber, welche zu geben haben und auch geben können und Arbeit¬
nehmern, welche zu empfangen haben und dessen auch immer bedürftig sind.
In den Herzen vieler Gönner unserer Sozialpolitik scheint die geheime Sehnsucht
zu wohnen nach einer Zeit, wo es in Deutschland nur noch Riesenbetriebe,
wie Krupp geben möchte, die so stark sind, daß man ihnen recht viel zumuten
darf und demgegenüber einen Stand zwar abhängiger, aber recht wohlbezahlter,
ganz sicher gestellter, hoch in der Zivilisation stehender Arbeiter. Oh! Du
armes deutsches Volk, wenn es jemals dazu käme, das wäre der Anfang des
Sterbens, wenn es nicht schon das Totsein selbst wäre; es gäbe dann kein
wahres Volksleben mehr.

Das ist nun der dritte große Fehler unserer bisherigen Sozialpolitik, daß
sie eine Einrichtung ist, diese unerwünschte Entwicklung zu solcher Zukunft zu
befördern. Alle Sicherheit nämlich, die sie dem Stande des abhängigen Lohn¬
arbeiters erteilt, alle Wohltaten auf anderer Stände Kosten, mit denen sie seine
Existenz über dessen eigene Kraft hinaushebt, wird zugleich zum Unrecht an
demjenigen kleinen freien Mann, der nichts erhält, weil er nicht in dem Maße
wie jene, oder überhaupt nicht abhängiger Lohnarbeiter ist. Es muß und soll,
wenn ein Volk im gesunden Wachstum und in Unternehmungskraft beharren
will, zwischen jenen großen Arbeitgebern einerseits und jenen gutbezahlter
Arbeitern der großen Unternehmungen anderseits, eine recht breite Masse von
kleinen und kleinsten Unternehmern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden geben


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[0319] Von einer neuen und anderen Sozialpolitik sogenannten Minderbemittelten zugedeckt werden dürfe von Staats wegen durch einen Beitrag, den man aus den Taschen derjenigen nimmt, die, wie man meint, es vertragen können, der Unternehmer. Wovon lebt denn aber die Masse der Unabhängigen sowohl wie das ganze Volk, wenn nicht von der Unternehmungskrast? Nun ist es schon falsch, daß man meint, allen großen und kleinen Unternehmungen einen Durch schnittssatz auflegen zu dürfen; denn im Einzelfalle kann die eine Unternehmung sehr gut eine ansehnliche Last tragen, die andere aber auch nicht die kleinste. Es besteht aber außerdem die Gefahr, daß auch die durchschnittliche Unternehmungskraft demnächst stärker belastet wird, als ihre Elastizität verträgt. Dann geschieht, was Gibbon in seinem großen Werk über den Untergang des römischen Reiches in folgendem lapidaren Satz beschreibt: „Als das Verhältnis derjenigen, welche empfingen (der Lohnarbeiter, Privatangestellten und Beamten), die Kraft derjenigen überstieg, welche abzu¬ geben hatten (der Unternehmer, der Steuerzahler), wurden die Provinzen von den Lasten der Abgaben erdrückt." So entstand die Verödung des Landes, der Rückgang der Geburten, endlich die vollkommene Verwüstung der alten Kulturstätten, so daß nicht mehr Zehntausend ihr Brot fanden, wo früher Hunderttausend lebten. — Wodurch? Durch die Erlahmung der Unter¬ nehmungskraft. Die bisherige Sozialversicherung ist eingerichtet, als wenn das Volk nur aus Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmern anderseits bestände oder bestehen müßte, Arbeitgeber, welche zu geben haben und auch geben können und Arbeit¬ nehmern, welche zu empfangen haben und dessen auch immer bedürftig sind. In den Herzen vieler Gönner unserer Sozialpolitik scheint die geheime Sehnsucht zu wohnen nach einer Zeit, wo es in Deutschland nur noch Riesenbetriebe, wie Krupp geben möchte, die so stark sind, daß man ihnen recht viel zumuten darf und demgegenüber einen Stand zwar abhängiger, aber recht wohlbezahlter, ganz sicher gestellter, hoch in der Zivilisation stehender Arbeiter. Oh! Du armes deutsches Volk, wenn es jemals dazu käme, das wäre der Anfang des Sterbens, wenn es nicht schon das Totsein selbst wäre; es gäbe dann kein wahres Volksleben mehr. Das ist nun der dritte große Fehler unserer bisherigen Sozialpolitik, daß sie eine Einrichtung ist, diese unerwünschte Entwicklung zu solcher Zukunft zu befördern. Alle Sicherheit nämlich, die sie dem Stande des abhängigen Lohn¬ arbeiters erteilt, alle Wohltaten auf anderer Stände Kosten, mit denen sie seine Existenz über dessen eigene Kraft hinaushebt, wird zugleich zum Unrecht an demjenigen kleinen freien Mann, der nichts erhält, weil er nicht in dem Maße wie jene, oder überhaupt nicht abhängiger Lohnarbeiter ist. Es muß und soll, wenn ein Volk im gesunden Wachstum und in Unternehmungskraft beharren will, zwischen jenen großen Arbeitgebern einerseits und jenen gutbezahlter Arbeitern der großen Unternehmungen anderseits, eine recht breite Masse von kleinen und kleinsten Unternehmern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden geben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/319>, abgerufen am 22.07.2024.