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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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von einer neuen und anderen Sozialpolitik

Ermüdung so beschrieben, daß man ihre Worte heute als modern in jeder
Zeitung drucken könnte. Man kann darüber in Eduard Meyers Vortrag über
die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, Jena 1895, höchst interessante
Belege finden. Unsere Zeit hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit jener alten
Kultur. Das Menschenleben ist eben immer wieder dasselbe, und gleiche
Ursachen haben gleiche Wirkung. Ob es nicht möglich ist, aus der Vergangenheit
zu lernen?

Zwar dünken wir uns noch weit von jener Verderbtheit entfernt. Es
erscheint uns unbegreiflich, daß so kluge und starke Männer wie Cäsar und
Augustus die volksverderbende Wirkung der öffentlichen Brotverteilungen er¬
kannten und doch verzweifelten sie abzustellen; sie werden wohl ihre Gründe
der Ohnmacht gehabt haben. Sind denn aber unsere Fleischverteilungen in
den großen Städten nicht, wenn auch schüchtern und klein gegenüber dem antiken
Vorbild, so doch im Prinzip dasselbe? Am Ende dieser Verteilungen, falls sie
ein Ende finden, wird man sehen, daß mit unverhältnismäßigen Opfern wenig
erreicht ist: einige Volksklassen sind bevorteilt auf Kosten anderer, einige Mittel¬
standsexistenzen sind ruiniert, einige Großhändler sind reich geworden, der
städtische Steuerzahler hat viel geopfert, der Bedürftige hat nicht viel erhalten,
Konsumentendemokratie ist gepflegt, produktiver Stand ist geschädigt, die Gro߬
städte sind beschenkt, die kleine Stadt der Provinz und das Land geht leer aus;
eine höchst gefährliche Idee ist in die politische Praxis eingeführt; aus welchem
anderen Grunde, als aus dem der Angst vor der Unzufriedenheit der gro߬
städtischen Massen. Schlimmer aber ist, daß unsere vielgerühmte Sozialpolitik
auf die Dauer eine lähmende, krankmachende Wirkung auf das Volk haben
muß. Die darin umgehende Idee wird, wenn ihr nicht bald Grenzen gesteckt
werden, noch jeden deutschen Mann zum Staatspensionär machen. Das ist
dann dasselbe wie die Brotverteilungen im alten Rom, geschieht aus denselben
politischen Gründen und führt zu demselben Ende. Weil aber dies harte Urteil
viele verletzen wird, und weil fast alle Deutschen auf diese unsere Sozialpolitik
sehr stolz sind -- auch die alten Römer waren gewiß stolz, mit ebensoviel
Recht stolz auf ihre Sozialpolitik und Sozialhygiene -- weil unsere Sozial¬
politik noch als ein heiliges Vermächtnis des alten großen Kaisers gilt, obwohl
sie längst nicht mehr ist, was sie war, so besteht die Pflicht, dies Urteil näher
zu begründen.

Worin steckt das Gefährliche unserer Sozialversicherung?

Da ist erstens die Unklarheit und Unsicherheit des Falles auf welchen hin
versichert wird. Wer ist denn invalide? "Derjenige, welcher nicht mehr imstande
ist durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihm
unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes
zugemutet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich und
geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben
Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen." Das ist nun aber im Einzelfalle


von einer neuen und anderen Sozialpolitik

Ermüdung so beschrieben, daß man ihre Worte heute als modern in jeder
Zeitung drucken könnte. Man kann darüber in Eduard Meyers Vortrag über
die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, Jena 1895, höchst interessante
Belege finden. Unsere Zeit hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit jener alten
Kultur. Das Menschenleben ist eben immer wieder dasselbe, und gleiche
Ursachen haben gleiche Wirkung. Ob es nicht möglich ist, aus der Vergangenheit
zu lernen?

Zwar dünken wir uns noch weit von jener Verderbtheit entfernt. Es
erscheint uns unbegreiflich, daß so kluge und starke Männer wie Cäsar und
Augustus die volksverderbende Wirkung der öffentlichen Brotverteilungen er¬
kannten und doch verzweifelten sie abzustellen; sie werden wohl ihre Gründe
der Ohnmacht gehabt haben. Sind denn aber unsere Fleischverteilungen in
den großen Städten nicht, wenn auch schüchtern und klein gegenüber dem antiken
Vorbild, so doch im Prinzip dasselbe? Am Ende dieser Verteilungen, falls sie
ein Ende finden, wird man sehen, daß mit unverhältnismäßigen Opfern wenig
erreicht ist: einige Volksklassen sind bevorteilt auf Kosten anderer, einige Mittel¬
standsexistenzen sind ruiniert, einige Großhändler sind reich geworden, der
städtische Steuerzahler hat viel geopfert, der Bedürftige hat nicht viel erhalten,
Konsumentendemokratie ist gepflegt, produktiver Stand ist geschädigt, die Gro߬
städte sind beschenkt, die kleine Stadt der Provinz und das Land geht leer aus;
eine höchst gefährliche Idee ist in die politische Praxis eingeführt; aus welchem
anderen Grunde, als aus dem der Angst vor der Unzufriedenheit der gro߬
städtischen Massen. Schlimmer aber ist, daß unsere vielgerühmte Sozialpolitik
auf die Dauer eine lähmende, krankmachende Wirkung auf das Volk haben
muß. Die darin umgehende Idee wird, wenn ihr nicht bald Grenzen gesteckt
werden, noch jeden deutschen Mann zum Staatspensionär machen. Das ist
dann dasselbe wie die Brotverteilungen im alten Rom, geschieht aus denselben
politischen Gründen und führt zu demselben Ende. Weil aber dies harte Urteil
viele verletzen wird, und weil fast alle Deutschen auf diese unsere Sozialpolitik
sehr stolz sind — auch die alten Römer waren gewiß stolz, mit ebensoviel
Recht stolz auf ihre Sozialpolitik und Sozialhygiene — weil unsere Sozial¬
politik noch als ein heiliges Vermächtnis des alten großen Kaisers gilt, obwohl
sie längst nicht mehr ist, was sie war, so besteht die Pflicht, dies Urteil näher
zu begründen.

Worin steckt das Gefährliche unserer Sozialversicherung?

Da ist erstens die Unklarheit und Unsicherheit des Falles auf welchen hin
versichert wird. Wer ist denn invalide? „Derjenige, welcher nicht mehr imstande
ist durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihm
unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes
zugemutet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich und
geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben
Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen." Das ist nun aber im Einzelfalle


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[0317] von einer neuen und anderen Sozialpolitik Ermüdung so beschrieben, daß man ihre Worte heute als modern in jeder Zeitung drucken könnte. Man kann darüber in Eduard Meyers Vortrag über die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, Jena 1895, höchst interessante Belege finden. Unsere Zeit hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit jener alten Kultur. Das Menschenleben ist eben immer wieder dasselbe, und gleiche Ursachen haben gleiche Wirkung. Ob es nicht möglich ist, aus der Vergangenheit zu lernen? Zwar dünken wir uns noch weit von jener Verderbtheit entfernt. Es erscheint uns unbegreiflich, daß so kluge und starke Männer wie Cäsar und Augustus die volksverderbende Wirkung der öffentlichen Brotverteilungen er¬ kannten und doch verzweifelten sie abzustellen; sie werden wohl ihre Gründe der Ohnmacht gehabt haben. Sind denn aber unsere Fleischverteilungen in den großen Städten nicht, wenn auch schüchtern und klein gegenüber dem antiken Vorbild, so doch im Prinzip dasselbe? Am Ende dieser Verteilungen, falls sie ein Ende finden, wird man sehen, daß mit unverhältnismäßigen Opfern wenig erreicht ist: einige Volksklassen sind bevorteilt auf Kosten anderer, einige Mittel¬ standsexistenzen sind ruiniert, einige Großhändler sind reich geworden, der städtische Steuerzahler hat viel geopfert, der Bedürftige hat nicht viel erhalten, Konsumentendemokratie ist gepflegt, produktiver Stand ist geschädigt, die Gro߬ städte sind beschenkt, die kleine Stadt der Provinz und das Land geht leer aus; eine höchst gefährliche Idee ist in die politische Praxis eingeführt; aus welchem anderen Grunde, als aus dem der Angst vor der Unzufriedenheit der gro߬ städtischen Massen. Schlimmer aber ist, daß unsere vielgerühmte Sozialpolitik auf die Dauer eine lähmende, krankmachende Wirkung auf das Volk haben muß. Die darin umgehende Idee wird, wenn ihr nicht bald Grenzen gesteckt werden, noch jeden deutschen Mann zum Staatspensionär machen. Das ist dann dasselbe wie die Brotverteilungen im alten Rom, geschieht aus denselben politischen Gründen und führt zu demselben Ende. Weil aber dies harte Urteil viele verletzen wird, und weil fast alle Deutschen auf diese unsere Sozialpolitik sehr stolz sind — auch die alten Römer waren gewiß stolz, mit ebensoviel Recht stolz auf ihre Sozialpolitik und Sozialhygiene — weil unsere Sozial¬ politik noch als ein heiliges Vermächtnis des alten großen Kaisers gilt, obwohl sie längst nicht mehr ist, was sie war, so besteht die Pflicht, dies Urteil näher zu begründen. Worin steckt das Gefährliche unserer Sozialversicherung? Da ist erstens die Unklarheit und Unsicherheit des Falles auf welchen hin versichert wird. Wer ist denn invalide? „Derjenige, welcher nicht mehr imstande ist durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes zugemutet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen." Das ist nun aber im Einzelfalle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/317>, abgerufen am 22.12.2024.