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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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von einer neuen und anderen Sozialpolitik

Wird das Experiment glücken? Das ist eine Frage, deren Beantwortung
noch von der Zukunft verhüllt ist. Man versteht, daß sich die radikalen Führer
des alten Systems mit Händen und Füßen dagegen wehren und daß sie sich
anstellen, als ob die Unterstützung der Rechten, deren sich Poincarö bei seiner
Wahl erfreut hat, der erste Spatenstich für das Grab der Republik ist. So
schlimm wird es nun freilich nicht werden. Aber Herr Poincarö wird gegenüber
dieser heftigen, durch die bisherige Entwicklung verwöhnten Gegnerschaft sehr,
sehr vorsichtig sein müssen. Man hat gesagt, es sei mit der Präsidentschaft der
französischen Republik ähnlich wie mit dem englischen Königtum, wo das Beispiel
Eduards des Siebenten gezeigt habe, wieviel sich trotz der Beschränkungen der
Verfassung daraas machen lasse, wenn der Träger der Krone der Mann dazu
sei. Ganz stimmt der Vergleich nicht. Was dem König von England gestattet,
sich trotz der Verfassung zur Geltung zu bringen, ist etwas ganz anderes, als
dem Präsidenten der Republik zu Gebote steht. Der hat doch sehr viel gefähr¬
lichere Klippen zu umschiffen. Aber richtig ist, daß der Präsident nach dem
Buchstaben der Verfassung erheblich mehr kann und darf, als in der praktischen
Entwicklung dieser achtunddreißig Jahre zum Ausdruck gekommen ist. Und
vielleicht ist Herr Poincar6 von einem guten Genius geleitet, der ihm den
Zauber des Elvsöe lösen hilft.




Von einer neuen und anderen Sozialpolitik
v G. to. Schiele onin

MM
ZDWNückgang der Geburten, -- Menschenmangel bei wachsendem Wohl¬
stand, -- Anschwellen der großen Städte, Verödung des Landes;
-- Hereinbrechen ausländischer Arbeitermassen, -- Vorrücken der
Sprachgrenze der kulturärmeren Nachbarvölker, während das
^Kulturvolk zurückebbt, wie ein See, dessen Spiegel sinkt; --
Überschätzung des Wirtschaftlichen, -- Mißachtung der Welt des Geistes und
Gewissens; -- wachsende politische Ansprüche der in den Großstädten zusammen¬
gedrängten, abhängigen Massen (das bedeutet Scheindemokratie), -- Wohl-
fahrts- und Wohltätigkeitspolitik zugunsten dieser abhängigen Massen auf Kosten
anderer Volksklassen und aus politischen Gründen (was man mit dem Namen
Sozialpolitik belegt), -- ist das alles nicht schon einmal dagewesen? War es
nicht die kacies Kippoeratica der alten Kultur schon in den Tagen der Macht
und des Reichtums? Scharfsehende Politiker jener Zeiten haben diese Züge der


von einer neuen und anderen Sozialpolitik

Wird das Experiment glücken? Das ist eine Frage, deren Beantwortung
noch von der Zukunft verhüllt ist. Man versteht, daß sich die radikalen Führer
des alten Systems mit Händen und Füßen dagegen wehren und daß sie sich
anstellen, als ob die Unterstützung der Rechten, deren sich Poincarö bei seiner
Wahl erfreut hat, der erste Spatenstich für das Grab der Republik ist. So
schlimm wird es nun freilich nicht werden. Aber Herr Poincarö wird gegenüber
dieser heftigen, durch die bisherige Entwicklung verwöhnten Gegnerschaft sehr,
sehr vorsichtig sein müssen. Man hat gesagt, es sei mit der Präsidentschaft der
französischen Republik ähnlich wie mit dem englischen Königtum, wo das Beispiel
Eduards des Siebenten gezeigt habe, wieviel sich trotz der Beschränkungen der
Verfassung daraas machen lasse, wenn der Träger der Krone der Mann dazu
sei. Ganz stimmt der Vergleich nicht. Was dem König von England gestattet,
sich trotz der Verfassung zur Geltung zu bringen, ist etwas ganz anderes, als
dem Präsidenten der Republik zu Gebote steht. Der hat doch sehr viel gefähr¬
lichere Klippen zu umschiffen. Aber richtig ist, daß der Präsident nach dem
Buchstaben der Verfassung erheblich mehr kann und darf, als in der praktischen
Entwicklung dieser achtunddreißig Jahre zum Ausdruck gekommen ist. Und
vielleicht ist Herr Poincar6 von einem guten Genius geleitet, der ihm den
Zauber des Elvsöe lösen hilft.




Von einer neuen und anderen Sozialpolitik
v G. to. Schiele onin

MM
ZDWNückgang der Geburten, — Menschenmangel bei wachsendem Wohl¬
stand, — Anschwellen der großen Städte, Verödung des Landes;
— Hereinbrechen ausländischer Arbeitermassen, — Vorrücken der
Sprachgrenze der kulturärmeren Nachbarvölker, während das
^Kulturvolk zurückebbt, wie ein See, dessen Spiegel sinkt; —
Überschätzung des Wirtschaftlichen, — Mißachtung der Welt des Geistes und
Gewissens; — wachsende politische Ansprüche der in den Großstädten zusammen¬
gedrängten, abhängigen Massen (das bedeutet Scheindemokratie), — Wohl-
fahrts- und Wohltätigkeitspolitik zugunsten dieser abhängigen Massen auf Kosten
anderer Volksklassen und aus politischen Gründen (was man mit dem Namen
Sozialpolitik belegt), — ist das alles nicht schon einmal dagewesen? War es
nicht die kacies Kippoeratica der alten Kultur schon in den Tagen der Macht
und des Reichtums? Scharfsehende Politiker jener Zeiten haben diese Züge der


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[0316] von einer neuen und anderen Sozialpolitik Wird das Experiment glücken? Das ist eine Frage, deren Beantwortung noch von der Zukunft verhüllt ist. Man versteht, daß sich die radikalen Führer des alten Systems mit Händen und Füßen dagegen wehren und daß sie sich anstellen, als ob die Unterstützung der Rechten, deren sich Poincarö bei seiner Wahl erfreut hat, der erste Spatenstich für das Grab der Republik ist. So schlimm wird es nun freilich nicht werden. Aber Herr Poincarö wird gegenüber dieser heftigen, durch die bisherige Entwicklung verwöhnten Gegnerschaft sehr, sehr vorsichtig sein müssen. Man hat gesagt, es sei mit der Präsidentschaft der französischen Republik ähnlich wie mit dem englischen Königtum, wo das Beispiel Eduards des Siebenten gezeigt habe, wieviel sich trotz der Beschränkungen der Verfassung daraas machen lasse, wenn der Träger der Krone der Mann dazu sei. Ganz stimmt der Vergleich nicht. Was dem König von England gestattet, sich trotz der Verfassung zur Geltung zu bringen, ist etwas ganz anderes, als dem Präsidenten der Republik zu Gebote steht. Der hat doch sehr viel gefähr¬ lichere Klippen zu umschiffen. Aber richtig ist, daß der Präsident nach dem Buchstaben der Verfassung erheblich mehr kann und darf, als in der praktischen Entwicklung dieser achtunddreißig Jahre zum Ausdruck gekommen ist. Und vielleicht ist Herr Poincar6 von einem guten Genius geleitet, der ihm den Zauber des Elvsöe lösen hilft. Von einer neuen und anderen Sozialpolitik v G. to. Schiele onin MM ZDWNückgang der Geburten, — Menschenmangel bei wachsendem Wohl¬ stand, — Anschwellen der großen Städte, Verödung des Landes; — Hereinbrechen ausländischer Arbeitermassen, — Vorrücken der Sprachgrenze der kulturärmeren Nachbarvölker, während das ^Kulturvolk zurückebbt, wie ein See, dessen Spiegel sinkt; — Überschätzung des Wirtschaftlichen, — Mißachtung der Welt des Geistes und Gewissens; — wachsende politische Ansprüche der in den Großstädten zusammen¬ gedrängten, abhängigen Massen (das bedeutet Scheindemokratie), — Wohl- fahrts- und Wohltätigkeitspolitik zugunsten dieser abhängigen Massen auf Kosten anderer Volksklassen und aus politischen Gründen (was man mit dem Namen Sozialpolitik belegt), — ist das alles nicht schon einmal dagewesen? War es nicht die kacies Kippoeratica der alten Kultur schon in den Tagen der Macht und des Reichtums? Scharfsehende Politiker jener Zeiten haben diese Züge der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/316>, abgerufen am 22.07.2024.