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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

Einen Augenblick völlige Stille. -- Merkwürdig, wie unsicher man sein
kann, gerade bei so ganz einfachen Leuten. -- Ich weiß den Anfang nicht
zu finden.

"Guten Abend," sage ich.

Wieder einen Moment lautloses Schweigen. -- Da plötzlich ein Heller
Freudenschrei aus einer dunklen Nische rechts von der Ofengegend her, in die
meine Augen noch nicht zu dringen vermocht haben: "Herr Korrektor!"

Der kleine Paul ists, dem dort sein Schmerzenslager bereitet steht.

Ich achte der übrigen nicht. Mit drei, vier Schritten bin ich an seinem
Bett und lasse mich auf die Kante nieder. Jubelnd streckt er seine kleinen
Arme in die Höhe, wie um mich zu umschlingen in Dank und heißer Liebe
dafür, daß ich zu ihm gekommen bin. Und er umarmt mich wirklich, dieses
glückliche Naturkind, wie einen Bruder. Auch meine Hände legen sich um
seinen Nacken.

So herzlich bin ich noch in keinem Hause vorgestellt worden.

"Paul!" ruft ihm die Mutter tadelnd zu, "Pauli Jungck Schickt sich das?"

"Lassen Sie den Jungen!" entgegne ich. "Lassen Sie ihn, Frau Ewert.
Er freut sich. Er weiß, daß er mein Bester ist."

Der Vater sagt gar nichts. Er reißt nur vor Staunen den Mund auf.
sowas hat er noch nicht erlebt. Es mag auch wohl nicht alltäglich sein.

Die Tochter lächelt ein feines Lächeln.

"Anna", wendet sich die Mutter an sie, "einen Stuhl sür Herrn Korrektor!"

Ich wäre lieber auf der Bettkante sitzen geblieben. -- Das Mädchen steht
auf und rückt einen Brettstuhl an den Tisch, während ich dem Alten und der
Frau die Hand reiche.

Mein Blick streift die aufrecht stehende Tochter:

Eine prächtige Erscheinung. Das schlichte blaue Kattunkleid mit den
weißen Pünktchen schließt knapp an die voll erblühte gesunde Gestalt von reich¬
licher Mittelgröße.

Ich danke ihr, und sie setzt sich wieder an ihre Arbeit.

Paul ist von allen der einzig geschwätzige. Vom Bett aus erzählt er lebhaft,
wie alles gekommen ist.

Mit Jürgen Koch und August Siewers hat er Kapländer gespielt auf dem
Hofe des Vaters. Da ist er beim Absteigen vom Wagen auf eine Speiche
getreten, und der Wagen ist ins Rollen gekommen. Zugleich hats einen deut¬
lichen Kraals gegeben, und das Bein ist gebrochen gewesen. Doktor Henschel
hat einen Gipsverband angelegt, und das hat sehr weh getan. Sein größter
Kummer ist aber, daß er nun vier Wochen nicht in die Schule kann.

Ab und zu greift die Mutter in seinen Bericht ein. Ich sehe dabei in ihr
freundliches, kluges Gesicht, und die unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Jungen
macht sie mir sofort lieb.


Briefe aus Trebeldorf

Einen Augenblick völlige Stille. — Merkwürdig, wie unsicher man sein
kann, gerade bei so ganz einfachen Leuten. — Ich weiß den Anfang nicht
zu finden.

„Guten Abend," sage ich.

Wieder einen Moment lautloses Schweigen. — Da plötzlich ein Heller
Freudenschrei aus einer dunklen Nische rechts von der Ofengegend her, in die
meine Augen noch nicht zu dringen vermocht haben: „Herr Korrektor!"

Der kleine Paul ists, dem dort sein Schmerzenslager bereitet steht.

Ich achte der übrigen nicht. Mit drei, vier Schritten bin ich an seinem
Bett und lasse mich auf die Kante nieder. Jubelnd streckt er seine kleinen
Arme in die Höhe, wie um mich zu umschlingen in Dank und heißer Liebe
dafür, daß ich zu ihm gekommen bin. Und er umarmt mich wirklich, dieses
glückliche Naturkind, wie einen Bruder. Auch meine Hände legen sich um
seinen Nacken.

So herzlich bin ich noch in keinem Hause vorgestellt worden.

„Paul!" ruft ihm die Mutter tadelnd zu, „Pauli Jungck Schickt sich das?"

„Lassen Sie den Jungen!" entgegne ich. „Lassen Sie ihn, Frau Ewert.
Er freut sich. Er weiß, daß er mein Bester ist."

Der Vater sagt gar nichts. Er reißt nur vor Staunen den Mund auf.
sowas hat er noch nicht erlebt. Es mag auch wohl nicht alltäglich sein.

Die Tochter lächelt ein feines Lächeln.

„Anna", wendet sich die Mutter an sie, „einen Stuhl sür Herrn Korrektor!"

Ich wäre lieber auf der Bettkante sitzen geblieben. — Das Mädchen steht
auf und rückt einen Brettstuhl an den Tisch, während ich dem Alten und der
Frau die Hand reiche.

Mein Blick streift die aufrecht stehende Tochter:

Eine prächtige Erscheinung. Das schlichte blaue Kattunkleid mit den
weißen Pünktchen schließt knapp an die voll erblühte gesunde Gestalt von reich¬
licher Mittelgröße.

Ich danke ihr, und sie setzt sich wieder an ihre Arbeit.

Paul ist von allen der einzig geschwätzige. Vom Bett aus erzählt er lebhaft,
wie alles gekommen ist.

Mit Jürgen Koch und August Siewers hat er Kapländer gespielt auf dem
Hofe des Vaters. Da ist er beim Absteigen vom Wagen auf eine Speiche
getreten, und der Wagen ist ins Rollen gekommen. Zugleich hats einen deut¬
lichen Kraals gegeben, und das Bein ist gebrochen gewesen. Doktor Henschel
hat einen Gipsverband angelegt, und das hat sehr weh getan. Sein größter
Kummer ist aber, daß er nun vier Wochen nicht in die Schule kann.

Ab und zu greift die Mutter in seinen Bericht ein. Ich sehe dabei in ihr
freundliches, kluges Gesicht, und die unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Jungen
macht sie mir sofort lieb.


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[0287] Briefe aus Trebeldorf Einen Augenblick völlige Stille. — Merkwürdig, wie unsicher man sein kann, gerade bei so ganz einfachen Leuten. — Ich weiß den Anfang nicht zu finden. „Guten Abend," sage ich. Wieder einen Moment lautloses Schweigen. — Da plötzlich ein Heller Freudenschrei aus einer dunklen Nische rechts von der Ofengegend her, in die meine Augen noch nicht zu dringen vermocht haben: „Herr Korrektor!" Der kleine Paul ists, dem dort sein Schmerzenslager bereitet steht. Ich achte der übrigen nicht. Mit drei, vier Schritten bin ich an seinem Bett und lasse mich auf die Kante nieder. Jubelnd streckt er seine kleinen Arme in die Höhe, wie um mich zu umschlingen in Dank und heißer Liebe dafür, daß ich zu ihm gekommen bin. Und er umarmt mich wirklich, dieses glückliche Naturkind, wie einen Bruder. Auch meine Hände legen sich um seinen Nacken. So herzlich bin ich noch in keinem Hause vorgestellt worden. „Paul!" ruft ihm die Mutter tadelnd zu, „Pauli Jungck Schickt sich das?" „Lassen Sie den Jungen!" entgegne ich. „Lassen Sie ihn, Frau Ewert. Er freut sich. Er weiß, daß er mein Bester ist." Der Vater sagt gar nichts. Er reißt nur vor Staunen den Mund auf. sowas hat er noch nicht erlebt. Es mag auch wohl nicht alltäglich sein. Die Tochter lächelt ein feines Lächeln. „Anna", wendet sich die Mutter an sie, „einen Stuhl sür Herrn Korrektor!" Ich wäre lieber auf der Bettkante sitzen geblieben. — Das Mädchen steht auf und rückt einen Brettstuhl an den Tisch, während ich dem Alten und der Frau die Hand reiche. Mein Blick streift die aufrecht stehende Tochter: Eine prächtige Erscheinung. Das schlichte blaue Kattunkleid mit den weißen Pünktchen schließt knapp an die voll erblühte gesunde Gestalt von reich¬ licher Mittelgröße. Ich danke ihr, und sie setzt sich wieder an ihre Arbeit. Paul ist von allen der einzig geschwätzige. Vom Bett aus erzählt er lebhaft, wie alles gekommen ist. Mit Jürgen Koch und August Siewers hat er Kapländer gespielt auf dem Hofe des Vaters. Da ist er beim Absteigen vom Wagen auf eine Speiche getreten, und der Wagen ist ins Rollen gekommen. Zugleich hats einen deut¬ lichen Kraals gegeben, und das Bein ist gebrochen gewesen. Doktor Henschel hat einen Gipsverband angelegt, und das hat sehr weh getan. Sein größter Kummer ist aber, daß er nun vier Wochen nicht in die Schule kann. Ab und zu greift die Mutter in seinen Bericht ein. Ich sehe dabei in ihr freundliches, kluges Gesicht, und die unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Jungen macht sie mir sofort lieb.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/287>, abgerufen am 24.07.2024.