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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Berufsvormundschaft als Vrganisationsform des Kinderschuhe?

und erzieht oder seine Erziehung in fremden Familien beaufsichtigt, es in Lehre
und Dienst unterbringt, vertritt sie damit Elternstelle an ihm und muß daher
auch rechtlich Elternstelle einnehmen. Gelegentlich wurde dann auch, wie z. B. in
Lübeck, dem Waisenhause unmittelbar die elterliche Gewalt übertragen; im
allgemeinen begnügt man sich aber damit, jene Stellung der öffentlichen Orga¬
nisationen als Vormundschaft zu charakterisieren. Neben den Armenkindern
waren es dann schon vor hundert Jahren die Bettler- und Vagabundenkinder,
die verbrecherischen Kinder, die in besonderen Zwangsanstalten untergebracht
wurden und damit auch unter die Berufsvormundschaft fielen. Wo man diesen
Gedanken klare Rechtsform gab, wie in Frankreich 1796, wurden die armen
Waisenkinder zu Mündeln der öffentlichen Fürsorge. An diese Einrichtung konnte
sich dann später die ganze neuere Ausgestaltung der Fürsorge für gefährdete
und verbrecherische Kinder anschließen, die einfach als Mündel der öffentlichen
Fürsorge (pupilles ä'a88l8t-MLe publiqus) dieser überwiesen wurden. Dies
ist allerdings nur da möglich, wo bereits die Fürsorge für schutzbedürftige Kinder
zu einem selbständigen Zweige des öffentlichen Dienstes geworden ist; wo da¬
gegen, wie im deutschen Sprachgebiet, die Kinderfürsorge meist in enge Ver¬
bindung mit der öffentlichen Armenpflege gebracht war, wurde die Zwangs¬
erziehung vielfach an das Strafgesetz angeschlossen, statt an die natürliche Basis
der Erziehungsleitung, die Vormundschaft. Damit war jene seltsame Verwirrung
in der öffentlichen Kinder- und Jugendfürsorge gegeben, die für Österreich wie
für das Deutsche Reich im letzten Menschenalter so charakteristisch ist.

Allein auch hier zeigt die Berufsvormundschaft dieselbe Tendenz wie in
Frankreich. Ist sie dort zum Mittelpunkt der gesamten öffentlichen Kinder¬
fürsorge geworden, die in ihr die natürliche Rechts- und Verwaltungsbasis
gefunden hat, so strebt die Entwicklung bei uns auch dahin. Schon einfache
wirtschaftliche Gründe sprechen für eine Vereinfachung der Organisation und für
planmäßige Ausgestaltung vorhandener Schutzeinrichtungen. Haben wir erst
eine öffentliche Einrichtung, die Tausende von Kindern zu unterhalten und zu
erziehen hat, sie also auch bevormundet, so liegt es nahe, diese doch recht kost¬
spieligen Einrichtungen auch für andere Kinder, die öffentlich versorgt und
erzogen werden müssen, nutzbar zu machen, statt für genau dieselben Aufgaben
neben der bestehenden Behörde noch eine ähnliche mit viel größeren Kosten neu
zu beschaffen. Daher drängt die Entwicklung dahin, den Schutz armer Waisen¬
kinder, der unehelichen bevormundeten, sowie der gefährdeten und verwahrlosten
Kinder, die in Zwangserziehung kommen, in eine Hand zu legen und in einer
Berufsvormundschaft zu vereinigen. Eine solche Vereinigung ist im Deutschen
Reiche den Landesgesetzen nach möglich. Die erste derartige Einrichtung im
Deutschen Reiche entstand 1901 in Leipzig, 1905 gab es schon 4 und im
Jahre 1910 11 derartige berufsvormundschaftliche Organisationen, von denen
eine 9000, eine andere 3000 und eine über 1000 Kinder versorgt und deren
Erziehung leitet.


Die Berufsvormundschaft als Vrganisationsform des Kinderschuhe?

und erzieht oder seine Erziehung in fremden Familien beaufsichtigt, es in Lehre
und Dienst unterbringt, vertritt sie damit Elternstelle an ihm und muß daher
auch rechtlich Elternstelle einnehmen. Gelegentlich wurde dann auch, wie z. B. in
Lübeck, dem Waisenhause unmittelbar die elterliche Gewalt übertragen; im
allgemeinen begnügt man sich aber damit, jene Stellung der öffentlichen Orga¬
nisationen als Vormundschaft zu charakterisieren. Neben den Armenkindern
waren es dann schon vor hundert Jahren die Bettler- und Vagabundenkinder,
die verbrecherischen Kinder, die in besonderen Zwangsanstalten untergebracht
wurden und damit auch unter die Berufsvormundschaft fielen. Wo man diesen
Gedanken klare Rechtsform gab, wie in Frankreich 1796, wurden die armen
Waisenkinder zu Mündeln der öffentlichen Fürsorge. An diese Einrichtung konnte
sich dann später die ganze neuere Ausgestaltung der Fürsorge für gefährdete
und verbrecherische Kinder anschließen, die einfach als Mündel der öffentlichen
Fürsorge (pupilles ä'a88l8t-MLe publiqus) dieser überwiesen wurden. Dies
ist allerdings nur da möglich, wo bereits die Fürsorge für schutzbedürftige Kinder
zu einem selbständigen Zweige des öffentlichen Dienstes geworden ist; wo da¬
gegen, wie im deutschen Sprachgebiet, die Kinderfürsorge meist in enge Ver¬
bindung mit der öffentlichen Armenpflege gebracht war, wurde die Zwangs¬
erziehung vielfach an das Strafgesetz angeschlossen, statt an die natürliche Basis
der Erziehungsleitung, die Vormundschaft. Damit war jene seltsame Verwirrung
in der öffentlichen Kinder- und Jugendfürsorge gegeben, die für Österreich wie
für das Deutsche Reich im letzten Menschenalter so charakteristisch ist.

Allein auch hier zeigt die Berufsvormundschaft dieselbe Tendenz wie in
Frankreich. Ist sie dort zum Mittelpunkt der gesamten öffentlichen Kinder¬
fürsorge geworden, die in ihr die natürliche Rechts- und Verwaltungsbasis
gefunden hat, so strebt die Entwicklung bei uns auch dahin. Schon einfache
wirtschaftliche Gründe sprechen für eine Vereinfachung der Organisation und für
planmäßige Ausgestaltung vorhandener Schutzeinrichtungen. Haben wir erst
eine öffentliche Einrichtung, die Tausende von Kindern zu unterhalten und zu
erziehen hat, sie also auch bevormundet, so liegt es nahe, diese doch recht kost¬
spieligen Einrichtungen auch für andere Kinder, die öffentlich versorgt und
erzogen werden müssen, nutzbar zu machen, statt für genau dieselben Aufgaben
neben der bestehenden Behörde noch eine ähnliche mit viel größeren Kosten neu
zu beschaffen. Daher drängt die Entwicklung dahin, den Schutz armer Waisen¬
kinder, der unehelichen bevormundeten, sowie der gefährdeten und verwahrlosten
Kinder, die in Zwangserziehung kommen, in eine Hand zu legen und in einer
Berufsvormundschaft zu vereinigen. Eine solche Vereinigung ist im Deutschen
Reiche den Landesgesetzen nach möglich. Die erste derartige Einrichtung im
Deutschen Reiche entstand 1901 in Leipzig, 1905 gab es schon 4 und im
Jahre 1910 11 derartige berufsvormundschaftliche Organisationen, von denen
eine 9000, eine andere 3000 und eine über 1000 Kinder versorgt und deren
Erziehung leitet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/275>, abgerufen am 24.07.2024.