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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Berufsvormundschaft als Grgcmisationsform des Rinderschutzes

Bettelkinder und Kinder von Vagabunden gab man in ein Arbeits- und Zucht¬
haus. Welche Fülle von Anstalten haben wir dagegen seit der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts ausgesondert! Die Blinden wurden zuerst ab¬
getrennt, dann die Taubstummen, die Idioten und Epileptiker und später noch
jene mit psychopatischer Konstitution. Noch in der Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts glaubten die meisten deutschen Regierungen, daß man Taubstumme
und den anderen Kindern in der Elementarschule erziehen könne. Der große
Aufschwung der Taubstummenerziehung gründet sich gerade auf diesen Fehlschluß,
durch den so vielen Lehrerbildungsanstalten kleine Taubstummenschulen angegliedert
wurden, aus denen später selbständige Anstalten wurden. Heute wird niemand
mehr taubstumme und normale Kinder im Unterricht zusammenbringen.
Man sieht, daß der Inhalt und die Auffassung der Erziehung sich vollkommen
geändert haben. Diese Beispiele sind ja nun ganz grober Art; die Ent¬
wicklung geht auch im feineren noch heute weiter. Das Wesen der Erziehung
und die Spezialisierung der Erziehung ist in einer fortschreitenden Umwandlung
begriffen. Diese innere Entwicklung des Begriffes Erziehung vor allem führt
dazu, daß heute bei den Anforderungen, welche die Erziehungswahl stellt, die
vormundschaftliche Tätigkeit nicht mehr von einzelnen genügend geleistet werden
kann, sondern daß sie im allgemeinen eine Organisation voraussetzt, die vor
allem die Kenntnisse und die Fähigkeiten besitzt, die Kinder an den richtigen
Platz zu stellen. Wenn man auf Schritt und Tritt erfährt, wie wenig die
gewöhnlichen Vormünder ihre Pflicht erfüllen, wenn man wieder und wieder
sieht, wie ihre Schützlinge drei und viermal so zahlreich unter den Zwangs¬
zöglingen vertreten sind als andere Kinder, so darf man doch die Schuld nicht
den einzelnen Persönlichkeiten in die Schuhe schieben; denn im Grunde ver¬
langen wir Dinge von ihnen, die sie nicht leisten können, so wenig sie ohne
Vorbildung den Unterricht einer beliebigen Schulklasse übernehmen könnten. Das
Versagen der Einzelvormundschaft liegt nicht an den Personen der Vormünder,
da Frauen wie Männer heute etwa ebensoviel Eifer und guten Willen für
ihre Aufgaben mitbringen, wie vor hundert und mehr Jahren, sondern die
Einzelvormundschaft muß versagen, weil die Aufgaben der Vormundschaft andere
geworden sind, weil die Leitung und Auswahl der richtigen Erziehung -- das
eben ist Vormundschaft -- in den letzten hundert Jahren so viel neuen und
schwierigen Inhalt erhielt und unter den heutigen, so verwickelten Zuständen
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur infolgedessen nur von einer Orga¬
nisation mit geeigneten Hilfskräften und Hilfsmitteln, eben der Berufsvormund¬
schaft, geleistet werden kann.

Wenn wir auf die Entwicklung der Berufsvormundschaft sehen, finden wir
diesen Gedankengang bestätigt. Zunächst erscheint die Berufsvormundschaft dort,
wo große Organisationen die Erziehung von Kindern übernehmen, also in erster
Linie in den Waisenhäusern und Findelanstalten. Wenn einer derartigen Ver¬
anstaltung die Fürsorge für ein Kind übertragen ist, wenn sie dieses ernährt


Die Berufsvormundschaft als Grgcmisationsform des Rinderschutzes

Bettelkinder und Kinder von Vagabunden gab man in ein Arbeits- und Zucht¬
haus. Welche Fülle von Anstalten haben wir dagegen seit der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts ausgesondert! Die Blinden wurden zuerst ab¬
getrennt, dann die Taubstummen, die Idioten und Epileptiker und später noch
jene mit psychopatischer Konstitution. Noch in der Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts glaubten die meisten deutschen Regierungen, daß man Taubstumme
und den anderen Kindern in der Elementarschule erziehen könne. Der große
Aufschwung der Taubstummenerziehung gründet sich gerade auf diesen Fehlschluß,
durch den so vielen Lehrerbildungsanstalten kleine Taubstummenschulen angegliedert
wurden, aus denen später selbständige Anstalten wurden. Heute wird niemand
mehr taubstumme und normale Kinder im Unterricht zusammenbringen.
Man sieht, daß der Inhalt und die Auffassung der Erziehung sich vollkommen
geändert haben. Diese Beispiele sind ja nun ganz grober Art; die Ent¬
wicklung geht auch im feineren noch heute weiter. Das Wesen der Erziehung
und die Spezialisierung der Erziehung ist in einer fortschreitenden Umwandlung
begriffen. Diese innere Entwicklung des Begriffes Erziehung vor allem führt
dazu, daß heute bei den Anforderungen, welche die Erziehungswahl stellt, die
vormundschaftliche Tätigkeit nicht mehr von einzelnen genügend geleistet werden
kann, sondern daß sie im allgemeinen eine Organisation voraussetzt, die vor
allem die Kenntnisse und die Fähigkeiten besitzt, die Kinder an den richtigen
Platz zu stellen. Wenn man auf Schritt und Tritt erfährt, wie wenig die
gewöhnlichen Vormünder ihre Pflicht erfüllen, wenn man wieder und wieder
sieht, wie ihre Schützlinge drei und viermal so zahlreich unter den Zwangs¬
zöglingen vertreten sind als andere Kinder, so darf man doch die Schuld nicht
den einzelnen Persönlichkeiten in die Schuhe schieben; denn im Grunde ver¬
langen wir Dinge von ihnen, die sie nicht leisten können, so wenig sie ohne
Vorbildung den Unterricht einer beliebigen Schulklasse übernehmen könnten. Das
Versagen der Einzelvormundschaft liegt nicht an den Personen der Vormünder,
da Frauen wie Männer heute etwa ebensoviel Eifer und guten Willen für
ihre Aufgaben mitbringen, wie vor hundert und mehr Jahren, sondern die
Einzelvormundschaft muß versagen, weil die Aufgaben der Vormundschaft andere
geworden sind, weil die Leitung und Auswahl der richtigen Erziehung — das
eben ist Vormundschaft — in den letzten hundert Jahren so viel neuen und
schwierigen Inhalt erhielt und unter den heutigen, so verwickelten Zuständen
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur infolgedessen nur von einer Orga¬
nisation mit geeigneten Hilfskräften und Hilfsmitteln, eben der Berufsvormund¬
schaft, geleistet werden kann.

Wenn wir auf die Entwicklung der Berufsvormundschaft sehen, finden wir
diesen Gedankengang bestätigt. Zunächst erscheint die Berufsvormundschaft dort,
wo große Organisationen die Erziehung von Kindern übernehmen, also in erster
Linie in den Waisenhäusern und Findelanstalten. Wenn einer derartigen Ver¬
anstaltung die Fürsorge für ein Kind übertragen ist, wenn sie dieses ernährt


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[0274] Die Berufsvormundschaft als Grgcmisationsform des Rinderschutzes Bettelkinder und Kinder von Vagabunden gab man in ein Arbeits- und Zucht¬ haus. Welche Fülle von Anstalten haben wir dagegen seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ausgesondert! Die Blinden wurden zuerst ab¬ getrennt, dann die Taubstummen, die Idioten und Epileptiker und später noch jene mit psychopatischer Konstitution. Noch in der Mitte des vorigen Jahr¬ hunderts glaubten die meisten deutschen Regierungen, daß man Taubstumme und den anderen Kindern in der Elementarschule erziehen könne. Der große Aufschwung der Taubstummenerziehung gründet sich gerade auf diesen Fehlschluß, durch den so vielen Lehrerbildungsanstalten kleine Taubstummenschulen angegliedert wurden, aus denen später selbständige Anstalten wurden. Heute wird niemand mehr taubstumme und normale Kinder im Unterricht zusammenbringen. Man sieht, daß der Inhalt und die Auffassung der Erziehung sich vollkommen geändert haben. Diese Beispiele sind ja nun ganz grober Art; die Ent¬ wicklung geht auch im feineren noch heute weiter. Das Wesen der Erziehung und die Spezialisierung der Erziehung ist in einer fortschreitenden Umwandlung begriffen. Diese innere Entwicklung des Begriffes Erziehung vor allem führt dazu, daß heute bei den Anforderungen, welche die Erziehungswahl stellt, die vormundschaftliche Tätigkeit nicht mehr von einzelnen genügend geleistet werden kann, sondern daß sie im allgemeinen eine Organisation voraussetzt, die vor allem die Kenntnisse und die Fähigkeiten besitzt, die Kinder an den richtigen Platz zu stellen. Wenn man auf Schritt und Tritt erfährt, wie wenig die gewöhnlichen Vormünder ihre Pflicht erfüllen, wenn man wieder und wieder sieht, wie ihre Schützlinge drei und viermal so zahlreich unter den Zwangs¬ zöglingen vertreten sind als andere Kinder, so darf man doch die Schuld nicht den einzelnen Persönlichkeiten in die Schuhe schieben; denn im Grunde ver¬ langen wir Dinge von ihnen, die sie nicht leisten können, so wenig sie ohne Vorbildung den Unterricht einer beliebigen Schulklasse übernehmen könnten. Das Versagen der Einzelvormundschaft liegt nicht an den Personen der Vormünder, da Frauen wie Männer heute etwa ebensoviel Eifer und guten Willen für ihre Aufgaben mitbringen, wie vor hundert und mehr Jahren, sondern die Einzelvormundschaft muß versagen, weil die Aufgaben der Vormundschaft andere geworden sind, weil die Leitung und Auswahl der richtigen Erziehung — das eben ist Vormundschaft — in den letzten hundert Jahren so viel neuen und schwierigen Inhalt erhielt und unter den heutigen, so verwickelten Zuständen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur infolgedessen nur von einer Orga¬ nisation mit geeigneten Hilfskräften und Hilfsmitteln, eben der Berufsvormund¬ schaft, geleistet werden kann. Wenn wir auf die Entwicklung der Berufsvormundschaft sehen, finden wir diesen Gedankengang bestätigt. Zunächst erscheint die Berufsvormundschaft dort, wo große Organisationen die Erziehung von Kindern übernehmen, also in erster Linie in den Waisenhäusern und Findelanstalten. Wenn einer derartigen Ver¬ anstaltung die Fürsorge für ein Kind übertragen ist, wenn sie dieses ernährt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/274>, abgerufen am 24.07.2024.