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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Beiufsvormundschaft als Grganisationsform des Rinderschutzes

erziehen soll, so setzt dies voraus, daß das elternlose Kind in seine Familie
eintritt. So ging einst die Waise in den Schutz der nächsten Verwandten über.
Die Vermögensverwaltung fiel mit ihrer Person in die Hände des Vormundes.
Wie dieser die Verwaltung des Vermögens zum Nutzen seines Mündels über¬
nahm, so fiel ihm auch seine Ernährung und Erziehung zur Last. Die elter¬
liche Erziehungspflicht wird vom Vormunde heute ganz allgemein nicht mehr
gefordert. Keiner hat die Verpflichtung, ein Mündel zu unterhalten, wenn
dieses kein Vermögen besitzt; ist Vermögen vorhanden, so muß der Vormund
lediglich die Einkünfte daraus für sein Mündel verwenden. Die Erziehung der
Mündel liegt heute in der Hand der Institutionen oder der Pflegefamilien,
in denen sie untergebracht sind, sie ist also dem Vormunde fast vollkommen
abgenommen worden und damit hat sich das Wesen seiner Tätigkeit geändert.
Seine Aufgabe ist, den Erziehungsplatz des Mündels auszuwählen, zu bestimmen,
wo und wie es erzogen werden soll und diese Erziehung zu beaufsichtigen.
Hieraus verstehen wir erst, in welcher Weise sich im letzten Jahrhundert
die vormundschaftliche Tätigkeit verändert hat. Die Auswahl der richtigen
Erziehung für ein Kind hat sich viel schwieriger und verwickelter gestaltet,
als es noch vor hundert Jahren der Fall war; in der Berufswahl für
die Mündel liegt ein vollkommen neues Arbeitsgebiet, das früher nur einen
ganz kleinen Raum eingenommen hat und für den Vormund sehr nebensächlicher
Natur war. Auch die Kontrolle und Beaufsichtigung der Pflege des Säuglings
findet unter ganz anderen Verhältnissen statt, als noch vor zwei oder drei Jahr¬
zehnten. Ich kann mich erinnern, daß Taube in den ersten achtziger Jahren
noch ganz isoliert für sein System kämpfte und die Hauptschnnerigkeit darin
fand, daß man nicht zugeben wollte, daß die Kostkinderaufsicht unter ärztlicher
Leitung erfolgen müsse und hierfür auch geschulte pflegerische Kräfte notwendig
seien -- und doch bilden beide Dinge heute das Abc moderner Säuglings¬
fürsorge. Und noch ein Beispiel, um die innere Entwicklung des Begriffes der
Erziehungsleitung zu zeigen. Vor hundert Jahren war es eines der beliebtesten
Probleme, über das man geschrieben und Kongresse abgehalten hat, ob Anstalts¬
oder Familienerziehung für Kinder richtiger sei. Die ganze Auffassung dieses
Problems hat sich seither geändert, wir streiten heute nicht mehr darüber, ob
Anstalts- oder Familienpflege das Nichtige sei, sondern wir erwägen, bei welchen
Kindern die Anstaltserziehung und bei welchen die Familienerziehung angewendet
werden muß und wie beide organisiert werden müssen, damit jedem Kind die
ihm passende Erziehung zuteil werde. Die Auswahl der Erziehungsform ist
damit in den Mittelpunkt der Vormundschaft gerückt.

Noch ein weiteres Stück der Entwicklung seit hundert Jahren. Wenn vor
hundert oder gar vor zweihundert Jahren eine Anstalt zur Erziehung von Kindern
gegründet wurde, so war es ein Waisenhaus, und alle Versorgungsbedürftigen
kamen hinein. Eine Spezialisierung kannte man kaum, höchstens unterschied
man zwei große Gruppen: die einheimischen Kinder kamen ins Waisenhaus, die


Die Beiufsvormundschaft als Grganisationsform des Rinderschutzes

erziehen soll, so setzt dies voraus, daß das elternlose Kind in seine Familie
eintritt. So ging einst die Waise in den Schutz der nächsten Verwandten über.
Die Vermögensverwaltung fiel mit ihrer Person in die Hände des Vormundes.
Wie dieser die Verwaltung des Vermögens zum Nutzen seines Mündels über¬
nahm, so fiel ihm auch seine Ernährung und Erziehung zur Last. Die elter¬
liche Erziehungspflicht wird vom Vormunde heute ganz allgemein nicht mehr
gefordert. Keiner hat die Verpflichtung, ein Mündel zu unterhalten, wenn
dieses kein Vermögen besitzt; ist Vermögen vorhanden, so muß der Vormund
lediglich die Einkünfte daraus für sein Mündel verwenden. Die Erziehung der
Mündel liegt heute in der Hand der Institutionen oder der Pflegefamilien,
in denen sie untergebracht sind, sie ist also dem Vormunde fast vollkommen
abgenommen worden und damit hat sich das Wesen seiner Tätigkeit geändert.
Seine Aufgabe ist, den Erziehungsplatz des Mündels auszuwählen, zu bestimmen,
wo und wie es erzogen werden soll und diese Erziehung zu beaufsichtigen.
Hieraus verstehen wir erst, in welcher Weise sich im letzten Jahrhundert
die vormundschaftliche Tätigkeit verändert hat. Die Auswahl der richtigen
Erziehung für ein Kind hat sich viel schwieriger und verwickelter gestaltet,
als es noch vor hundert Jahren der Fall war; in der Berufswahl für
die Mündel liegt ein vollkommen neues Arbeitsgebiet, das früher nur einen
ganz kleinen Raum eingenommen hat und für den Vormund sehr nebensächlicher
Natur war. Auch die Kontrolle und Beaufsichtigung der Pflege des Säuglings
findet unter ganz anderen Verhältnissen statt, als noch vor zwei oder drei Jahr¬
zehnten. Ich kann mich erinnern, daß Taube in den ersten achtziger Jahren
noch ganz isoliert für sein System kämpfte und die Hauptschnnerigkeit darin
fand, daß man nicht zugeben wollte, daß die Kostkinderaufsicht unter ärztlicher
Leitung erfolgen müsse und hierfür auch geschulte pflegerische Kräfte notwendig
seien — und doch bilden beide Dinge heute das Abc moderner Säuglings¬
fürsorge. Und noch ein Beispiel, um die innere Entwicklung des Begriffes der
Erziehungsleitung zu zeigen. Vor hundert Jahren war es eines der beliebtesten
Probleme, über das man geschrieben und Kongresse abgehalten hat, ob Anstalts¬
oder Familienerziehung für Kinder richtiger sei. Die ganze Auffassung dieses
Problems hat sich seither geändert, wir streiten heute nicht mehr darüber, ob
Anstalts- oder Familienpflege das Nichtige sei, sondern wir erwägen, bei welchen
Kindern die Anstaltserziehung und bei welchen die Familienerziehung angewendet
werden muß und wie beide organisiert werden müssen, damit jedem Kind die
ihm passende Erziehung zuteil werde. Die Auswahl der Erziehungsform ist
damit in den Mittelpunkt der Vormundschaft gerückt.

Noch ein weiteres Stück der Entwicklung seit hundert Jahren. Wenn vor
hundert oder gar vor zweihundert Jahren eine Anstalt zur Erziehung von Kindern
gegründet wurde, so war es ein Waisenhaus, und alle Versorgungsbedürftigen
kamen hinein. Eine Spezialisierung kannte man kaum, höchstens unterschied
man zwei große Gruppen: die einheimischen Kinder kamen ins Waisenhaus, die


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[0273] Die Beiufsvormundschaft als Grganisationsform des Rinderschutzes erziehen soll, so setzt dies voraus, daß das elternlose Kind in seine Familie eintritt. So ging einst die Waise in den Schutz der nächsten Verwandten über. Die Vermögensverwaltung fiel mit ihrer Person in die Hände des Vormundes. Wie dieser die Verwaltung des Vermögens zum Nutzen seines Mündels über¬ nahm, so fiel ihm auch seine Ernährung und Erziehung zur Last. Die elter¬ liche Erziehungspflicht wird vom Vormunde heute ganz allgemein nicht mehr gefordert. Keiner hat die Verpflichtung, ein Mündel zu unterhalten, wenn dieses kein Vermögen besitzt; ist Vermögen vorhanden, so muß der Vormund lediglich die Einkünfte daraus für sein Mündel verwenden. Die Erziehung der Mündel liegt heute in der Hand der Institutionen oder der Pflegefamilien, in denen sie untergebracht sind, sie ist also dem Vormunde fast vollkommen abgenommen worden und damit hat sich das Wesen seiner Tätigkeit geändert. Seine Aufgabe ist, den Erziehungsplatz des Mündels auszuwählen, zu bestimmen, wo und wie es erzogen werden soll und diese Erziehung zu beaufsichtigen. Hieraus verstehen wir erst, in welcher Weise sich im letzten Jahrhundert die vormundschaftliche Tätigkeit verändert hat. Die Auswahl der richtigen Erziehung für ein Kind hat sich viel schwieriger und verwickelter gestaltet, als es noch vor hundert Jahren der Fall war; in der Berufswahl für die Mündel liegt ein vollkommen neues Arbeitsgebiet, das früher nur einen ganz kleinen Raum eingenommen hat und für den Vormund sehr nebensächlicher Natur war. Auch die Kontrolle und Beaufsichtigung der Pflege des Säuglings findet unter ganz anderen Verhältnissen statt, als noch vor zwei oder drei Jahr¬ zehnten. Ich kann mich erinnern, daß Taube in den ersten achtziger Jahren noch ganz isoliert für sein System kämpfte und die Hauptschnnerigkeit darin fand, daß man nicht zugeben wollte, daß die Kostkinderaufsicht unter ärztlicher Leitung erfolgen müsse und hierfür auch geschulte pflegerische Kräfte notwendig seien — und doch bilden beide Dinge heute das Abc moderner Säuglings¬ fürsorge. Und noch ein Beispiel, um die innere Entwicklung des Begriffes der Erziehungsleitung zu zeigen. Vor hundert Jahren war es eines der beliebtesten Probleme, über das man geschrieben und Kongresse abgehalten hat, ob Anstalts¬ oder Familienerziehung für Kinder richtiger sei. Die ganze Auffassung dieses Problems hat sich seither geändert, wir streiten heute nicht mehr darüber, ob Anstalts- oder Familienpflege das Nichtige sei, sondern wir erwägen, bei welchen Kindern die Anstaltserziehung und bei welchen die Familienerziehung angewendet werden muß und wie beide organisiert werden müssen, damit jedem Kind die ihm passende Erziehung zuteil werde. Die Auswahl der Erziehungsform ist damit in den Mittelpunkt der Vormundschaft gerückt. Noch ein weiteres Stück der Entwicklung seit hundert Jahren. Wenn vor hundert oder gar vor zweihundert Jahren eine Anstalt zur Erziehung von Kindern gegründet wurde, so war es ein Waisenhaus, und alle Versorgungsbedürftigen kamen hinein. Eine Spezialisierung kannte man kaum, höchstens unterschied man zwei große Gruppen: die einheimischen Kinder kamen ins Waisenhaus, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/273>, abgerufen am 22.12.2024.