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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Londoner Brief

englischen Erziehungswesens als die kommende Aufgabe der Regierung. Das
ist ein Ziel das nicht nur die Liberalen geschlossen, sondern auch viele
"Konservative anstreben. Ob man sich über die Wege einigen kann, ist eine
andere Frage.

Vorher noch wird die Stimmrechtsreform zur Erledigung kommen. Durch
sie soll das bestehende Pluralwahlrecht abgeschafft werden, d. h. die Möglichkeit
bei-mehreren Wohnsitzen oder Geschäftsräumen von bestimmter Mietshöhe in
verschiedenen Wahlkreisen abstimmen zu können. Durch diese Änderung fällt
die Vorzugsstellung der City. Sie hat bis jetzt 31 000 Wähler, die zwei Ab¬
geordnete in das Unterhaus entsenden (einer der beiden ist Balfour). Künftig
werden in der City nunmehr die tatsächlich dort wohnenden Wähler registriert
werden. Auf diese Weise bleiben nicht einmal 3000 übrig, die sich mit einem
Abgeordneten zu begnügen haben. Ferner schwindet so das Vorrecht der alten
Universitäten Oxford, Cambridge und Trinity College zu Dublin, die durch je
zwei, Edinburgh, Glasgow und London, die durch je einen Abgeordneten in
dem Parlament von Westminster vertreten sind. Durch diese Vorlage der
liberalen Regierung werden zehn sichere "monistische Mandate gelöscht. Eine
weitere vom historischen Standpunkt aus bedeutsame Änderung enthält die
Reformvorlage: die Peers sollen künftighin zum House of Commons wahl¬
berechtigt sein. Das Hauptinteresse des Publikums wird sich während der
Wahlrechtsdebatte der Beratung der Amendements zuwenden, die von ver¬
schiedener Seite gestellt wurden. Sie haben das Ziel in mehr oder minder
großer Ausdehnung den Frauen das Stimmrecht zu gewähren. Der erste
dahingehende Zusatzantrag ist von Sir Edward Grey eingebracht. Das
Kabinett selbst ist bezüglich dieses Problems geteilter Meinung. Frauenstimmrecht
wird also nicht als Parteifrage behandelt werden und hat auf beiden Seiten
Freunde und Feinde. Den Greyschen Antrag haben Unionisten, z. B. Lord
Robert Cecil, ein Sohn des alten Marquis von Salisbury mit unterzeichnet.
Aller Voraussicht nach wird die Wahlrechtsreform in der Regierungsfassung
ohne Frauenstimmrecht angenommen werden.

Was in erster Linie die Stellung der Regierung in dieser wie in anderen
Kämpfen gesichert erscheinen läßt, ist das Fehlen geeigneter staatsmännischer
und agitatorischer Persönlichkeiten in den Reihen der Opposition. Sollte es je
in naher Zukunft doch zu einem Wechsel in der Parlamentsmehrheit kommen,
so würde auch wohl nicht Herr Bonar Law, sondern der freilich schon 68jährige
Marquis von Lansdowne an die Spitze des Kabinetts treten.




Londoner Brief

englischen Erziehungswesens als die kommende Aufgabe der Regierung. Das
ist ein Ziel das nicht nur die Liberalen geschlossen, sondern auch viele
»Konservative anstreben. Ob man sich über die Wege einigen kann, ist eine
andere Frage.

Vorher noch wird die Stimmrechtsreform zur Erledigung kommen. Durch
sie soll das bestehende Pluralwahlrecht abgeschafft werden, d. h. die Möglichkeit
bei-mehreren Wohnsitzen oder Geschäftsräumen von bestimmter Mietshöhe in
verschiedenen Wahlkreisen abstimmen zu können. Durch diese Änderung fällt
die Vorzugsstellung der City. Sie hat bis jetzt 31 000 Wähler, die zwei Ab¬
geordnete in das Unterhaus entsenden (einer der beiden ist Balfour). Künftig
werden in der City nunmehr die tatsächlich dort wohnenden Wähler registriert
werden. Auf diese Weise bleiben nicht einmal 3000 übrig, die sich mit einem
Abgeordneten zu begnügen haben. Ferner schwindet so das Vorrecht der alten
Universitäten Oxford, Cambridge und Trinity College zu Dublin, die durch je
zwei, Edinburgh, Glasgow und London, die durch je einen Abgeordneten in
dem Parlament von Westminster vertreten sind. Durch diese Vorlage der
liberalen Regierung werden zehn sichere »monistische Mandate gelöscht. Eine
weitere vom historischen Standpunkt aus bedeutsame Änderung enthält die
Reformvorlage: die Peers sollen künftighin zum House of Commons wahl¬
berechtigt sein. Das Hauptinteresse des Publikums wird sich während der
Wahlrechtsdebatte der Beratung der Amendements zuwenden, die von ver¬
schiedener Seite gestellt wurden. Sie haben das Ziel in mehr oder minder
großer Ausdehnung den Frauen das Stimmrecht zu gewähren. Der erste
dahingehende Zusatzantrag ist von Sir Edward Grey eingebracht. Das
Kabinett selbst ist bezüglich dieses Problems geteilter Meinung. Frauenstimmrecht
wird also nicht als Parteifrage behandelt werden und hat auf beiden Seiten
Freunde und Feinde. Den Greyschen Antrag haben Unionisten, z. B. Lord
Robert Cecil, ein Sohn des alten Marquis von Salisbury mit unterzeichnet.
Aller Voraussicht nach wird die Wahlrechtsreform in der Regierungsfassung
ohne Frauenstimmrecht angenommen werden.

Was in erster Linie die Stellung der Regierung in dieser wie in anderen
Kämpfen gesichert erscheinen läßt, ist das Fehlen geeigneter staatsmännischer
und agitatorischer Persönlichkeiten in den Reihen der Opposition. Sollte es je
in naher Zukunft doch zu einem Wechsel in der Parlamentsmehrheit kommen,
so würde auch wohl nicht Herr Bonar Law, sondern der freilich schon 68jährige
Marquis von Lansdowne an die Spitze des Kabinetts treten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/219>, abgerufen am 24.08.2024.