Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Londoner Brief

berühmten englischen Klubs schlug. Ihre Unbesiegbarkeit bot für den "Mann
auf der Straße" einen viel näher liegenden und aufregenden Gesprächsstoff als
das Schicksal irischer Wünsche oder walliser Kirchenfonds.

Es bedürfte erst wieder einer gründlichen Sensation, um auf die innere
Politik hinzulenken. Dafür forgte die neueste Krise innerhalb der Oppositions¬
partei selbst. Wieder war es die Frage der Tarifreform, die den Anstoß zu
dem jüngsten Zwist im "monistischen Lager gegeben hat. Seit bald zehn Jahren
bildet sie im Grunde das einzige positive Parteiprogramm der Opposition. In
der Zeit einer wirtschaftlichen Depression und noch unter dem Eindruck des
kürzlich überstandenen Burenkrieges hatte Joseph Chamberlain sein großartiges
Programm entwickelt. Dem ganzen britischen Reich sollte durch Schutzzoll nach
außen und durch Vorzugszölle im Innern ein festerer Zusammenhalt, dem
Mutterland aber ein starker wirtschaftlicher Auftrieb gegeben werden. Die Zug¬
kräftigkeit des Chamberlainschen Programms war groß genug, um im Laufe der
nächsten Jahre die unionistische Partei in ihrer großen Mehrheit zum Schutzzoll
zu bekehren, freilich mit dem Opfer des Abfalls zahlreicher freihändlerischer Ele¬
mente. Damals verlor die Partei viele Anhänger in den Industriegebieten von
Manchester und Lancashire. Die Bevölkerung dort ist in erster Linie frei-
händlerisch und wählt bei den allgemeinen Wahlen liberal, um eine Freihandels¬
mehrheit zu sichern. Viele unter diesen liberalen Wählern sind aber im Herzen
unionistisch und namentlich Homerule-Gegner. So geben sie denn bei den
Nachwahlen, wo die Gefahr des Entstehens einer schutzzöllnerischen Mehrheit
nicht vorhanden ist, ihre Stimme dem unionistischen Kandidaten, dessen politische
Stellung in anderen Fragen ihnen mehr zusagt. Auf diese Weise kommen manche
der überraschend glänzenden Erfolge der Opposition bei Nachwahlen zustande.

Mit dieser Bekehrung der unionistischen Partei schien aber auch die Sieg-
haftigkeit der Schutzzollidee erschöpft, denn in ihrem Zeichen ging seit 1906 jede
Wahl verloren.

Die Tarifreformer selbst waren sich über das Maß und die Ausdehnung
des Schutzzolls, den man anstrebte, nie ganz einig. Von Anfang an war die
Frage der Lebensmittelzölle der strittige Punkt. Hier kollidierten die Interessen
der englischen Konsumenten mit den Wünschen der Landwirtschaft, namentlich
der kolonialen Landwirtschaft. Ein Hauptziel der Tarifreform war ja, die
Kolonien enger mit dem Mutterlande zu verknüpfen. Ihre Ausfuhr besteht auf
lange Zeit hinaus hauptsächlich aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen, namentlich
Weizen. Deshalb haben die Kolonien ein lebhaftes Interesse daran, daß der
englische Markt ihnen durch Vorzugszölle leichter zugänglich gemacht wird als
der ausländischen Konkurrenz, die man durch Hochschutzzölle fernhalten solle.
Auch die unbedeutende englische Landwirtschaft erhofft von Zöllen auf Fleisch¬
einfuhr noch eine kleine Besserung ihrer recht kläglichen Lage. Daß durch den
Schutzzoll eine weitere Preissteigerung bedingt sein würde, ist vorauszusehen und
die Schwierigkeit ist groß, dem konsumierenden Wähler diese Aussicht zu verschönen.


14"
Londoner Brief

berühmten englischen Klubs schlug. Ihre Unbesiegbarkeit bot für den „Mann
auf der Straße" einen viel näher liegenden und aufregenden Gesprächsstoff als
das Schicksal irischer Wünsche oder walliser Kirchenfonds.

Es bedürfte erst wieder einer gründlichen Sensation, um auf die innere
Politik hinzulenken. Dafür forgte die neueste Krise innerhalb der Oppositions¬
partei selbst. Wieder war es die Frage der Tarifreform, die den Anstoß zu
dem jüngsten Zwist im »monistischen Lager gegeben hat. Seit bald zehn Jahren
bildet sie im Grunde das einzige positive Parteiprogramm der Opposition. In
der Zeit einer wirtschaftlichen Depression und noch unter dem Eindruck des
kürzlich überstandenen Burenkrieges hatte Joseph Chamberlain sein großartiges
Programm entwickelt. Dem ganzen britischen Reich sollte durch Schutzzoll nach
außen und durch Vorzugszölle im Innern ein festerer Zusammenhalt, dem
Mutterland aber ein starker wirtschaftlicher Auftrieb gegeben werden. Die Zug¬
kräftigkeit des Chamberlainschen Programms war groß genug, um im Laufe der
nächsten Jahre die unionistische Partei in ihrer großen Mehrheit zum Schutzzoll
zu bekehren, freilich mit dem Opfer des Abfalls zahlreicher freihändlerischer Ele¬
mente. Damals verlor die Partei viele Anhänger in den Industriegebieten von
Manchester und Lancashire. Die Bevölkerung dort ist in erster Linie frei-
händlerisch und wählt bei den allgemeinen Wahlen liberal, um eine Freihandels¬
mehrheit zu sichern. Viele unter diesen liberalen Wählern sind aber im Herzen
unionistisch und namentlich Homerule-Gegner. So geben sie denn bei den
Nachwahlen, wo die Gefahr des Entstehens einer schutzzöllnerischen Mehrheit
nicht vorhanden ist, ihre Stimme dem unionistischen Kandidaten, dessen politische
Stellung in anderen Fragen ihnen mehr zusagt. Auf diese Weise kommen manche
der überraschend glänzenden Erfolge der Opposition bei Nachwahlen zustande.

Mit dieser Bekehrung der unionistischen Partei schien aber auch die Sieg-
haftigkeit der Schutzzollidee erschöpft, denn in ihrem Zeichen ging seit 1906 jede
Wahl verloren.

Die Tarifreformer selbst waren sich über das Maß und die Ausdehnung
des Schutzzolls, den man anstrebte, nie ganz einig. Von Anfang an war die
Frage der Lebensmittelzölle der strittige Punkt. Hier kollidierten die Interessen
der englischen Konsumenten mit den Wünschen der Landwirtschaft, namentlich
der kolonialen Landwirtschaft. Ein Hauptziel der Tarifreform war ja, die
Kolonien enger mit dem Mutterlande zu verknüpfen. Ihre Ausfuhr besteht auf
lange Zeit hinaus hauptsächlich aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen, namentlich
Weizen. Deshalb haben die Kolonien ein lebhaftes Interesse daran, daß der
englische Markt ihnen durch Vorzugszölle leichter zugänglich gemacht wird als
der ausländischen Konkurrenz, die man durch Hochschutzzölle fernhalten solle.
Auch die unbedeutende englische Landwirtschaft erhofft von Zöllen auf Fleisch¬
einfuhr noch eine kleine Besserung ihrer recht kläglichen Lage. Daß durch den
Schutzzoll eine weitere Preissteigerung bedingt sein würde, ist vorauszusehen und
die Schwierigkeit ist groß, dem konsumierenden Wähler diese Aussicht zu verschönen.


14"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325085"/>
          <fw type="header" place="top"> Londoner Brief</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_798" prev="#ID_797"> berühmten englischen Klubs schlug. Ihre Unbesiegbarkeit bot für den &#x201E;Mann<lb/>
auf der Straße" einen viel näher liegenden und aufregenden Gesprächsstoff als<lb/>
das Schicksal irischer Wünsche oder walliser Kirchenfonds.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_799"> Es bedürfte erst wieder einer gründlichen Sensation, um auf die innere<lb/>
Politik hinzulenken. Dafür forgte die neueste Krise innerhalb der Oppositions¬<lb/>
partei selbst. Wieder war es die Frage der Tarifreform, die den Anstoß zu<lb/>
dem jüngsten Zwist im »monistischen Lager gegeben hat. Seit bald zehn Jahren<lb/>
bildet sie im Grunde das einzige positive Parteiprogramm der Opposition. In<lb/>
der Zeit einer wirtschaftlichen Depression und noch unter dem Eindruck des<lb/>
kürzlich überstandenen Burenkrieges hatte Joseph Chamberlain sein großartiges<lb/>
Programm entwickelt. Dem ganzen britischen Reich sollte durch Schutzzoll nach<lb/>
außen und durch Vorzugszölle im Innern ein festerer Zusammenhalt, dem<lb/>
Mutterland aber ein starker wirtschaftlicher Auftrieb gegeben werden. Die Zug¬<lb/>
kräftigkeit des Chamberlainschen Programms war groß genug, um im Laufe der<lb/>
nächsten Jahre die unionistische Partei in ihrer großen Mehrheit zum Schutzzoll<lb/>
zu bekehren, freilich mit dem Opfer des Abfalls zahlreicher freihändlerischer Ele¬<lb/>
mente. Damals verlor die Partei viele Anhänger in den Industriegebieten von<lb/>
Manchester und Lancashire. Die Bevölkerung dort ist in erster Linie frei-<lb/>
händlerisch und wählt bei den allgemeinen Wahlen liberal, um eine Freihandels¬<lb/>
mehrheit zu sichern. Viele unter diesen liberalen Wählern sind aber im Herzen<lb/>
unionistisch und namentlich Homerule-Gegner. So geben sie denn bei den<lb/>
Nachwahlen, wo die Gefahr des Entstehens einer schutzzöllnerischen Mehrheit<lb/>
nicht vorhanden ist, ihre Stimme dem unionistischen Kandidaten, dessen politische<lb/>
Stellung in anderen Fragen ihnen mehr zusagt. Auf diese Weise kommen manche<lb/>
der überraschend glänzenden Erfolge der Opposition bei Nachwahlen zustande.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_800"> Mit dieser Bekehrung der unionistischen Partei schien aber auch die Sieg-<lb/>
haftigkeit der Schutzzollidee erschöpft, denn in ihrem Zeichen ging seit 1906 jede<lb/>
Wahl verloren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_801"> Die Tarifreformer selbst waren sich über das Maß und die Ausdehnung<lb/>
des Schutzzolls, den man anstrebte, nie ganz einig. Von Anfang an war die<lb/>
Frage der Lebensmittelzölle der strittige Punkt. Hier kollidierten die Interessen<lb/>
der englischen Konsumenten mit den Wünschen der Landwirtschaft, namentlich<lb/>
der kolonialen Landwirtschaft. Ein Hauptziel der Tarifreform war ja, die<lb/>
Kolonien enger mit dem Mutterlande zu verknüpfen. Ihre Ausfuhr besteht auf<lb/>
lange Zeit hinaus hauptsächlich aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen, namentlich<lb/>
Weizen. Deshalb haben die Kolonien ein lebhaftes Interesse daran, daß der<lb/>
englische Markt ihnen durch Vorzugszölle leichter zugänglich gemacht wird als<lb/>
der ausländischen Konkurrenz, die man durch Hochschutzzölle fernhalten solle.<lb/>
Auch die unbedeutende englische Landwirtschaft erhofft von Zöllen auf Fleisch¬<lb/>
einfuhr noch eine kleine Besserung ihrer recht kläglichen Lage. Daß durch den<lb/>
Schutzzoll eine weitere Preissteigerung bedingt sein würde, ist vorauszusehen und<lb/>
die Schwierigkeit ist groß, dem konsumierenden Wähler diese Aussicht zu verschönen.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 14"</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0215] Londoner Brief berühmten englischen Klubs schlug. Ihre Unbesiegbarkeit bot für den „Mann auf der Straße" einen viel näher liegenden und aufregenden Gesprächsstoff als das Schicksal irischer Wünsche oder walliser Kirchenfonds. Es bedürfte erst wieder einer gründlichen Sensation, um auf die innere Politik hinzulenken. Dafür forgte die neueste Krise innerhalb der Oppositions¬ partei selbst. Wieder war es die Frage der Tarifreform, die den Anstoß zu dem jüngsten Zwist im »monistischen Lager gegeben hat. Seit bald zehn Jahren bildet sie im Grunde das einzige positive Parteiprogramm der Opposition. In der Zeit einer wirtschaftlichen Depression und noch unter dem Eindruck des kürzlich überstandenen Burenkrieges hatte Joseph Chamberlain sein großartiges Programm entwickelt. Dem ganzen britischen Reich sollte durch Schutzzoll nach außen und durch Vorzugszölle im Innern ein festerer Zusammenhalt, dem Mutterland aber ein starker wirtschaftlicher Auftrieb gegeben werden. Die Zug¬ kräftigkeit des Chamberlainschen Programms war groß genug, um im Laufe der nächsten Jahre die unionistische Partei in ihrer großen Mehrheit zum Schutzzoll zu bekehren, freilich mit dem Opfer des Abfalls zahlreicher freihändlerischer Ele¬ mente. Damals verlor die Partei viele Anhänger in den Industriegebieten von Manchester und Lancashire. Die Bevölkerung dort ist in erster Linie frei- händlerisch und wählt bei den allgemeinen Wahlen liberal, um eine Freihandels¬ mehrheit zu sichern. Viele unter diesen liberalen Wählern sind aber im Herzen unionistisch und namentlich Homerule-Gegner. So geben sie denn bei den Nachwahlen, wo die Gefahr des Entstehens einer schutzzöllnerischen Mehrheit nicht vorhanden ist, ihre Stimme dem unionistischen Kandidaten, dessen politische Stellung in anderen Fragen ihnen mehr zusagt. Auf diese Weise kommen manche der überraschend glänzenden Erfolge der Opposition bei Nachwahlen zustande. Mit dieser Bekehrung der unionistischen Partei schien aber auch die Sieg- haftigkeit der Schutzzollidee erschöpft, denn in ihrem Zeichen ging seit 1906 jede Wahl verloren. Die Tarifreformer selbst waren sich über das Maß und die Ausdehnung des Schutzzolls, den man anstrebte, nie ganz einig. Von Anfang an war die Frage der Lebensmittelzölle der strittige Punkt. Hier kollidierten die Interessen der englischen Konsumenten mit den Wünschen der Landwirtschaft, namentlich der kolonialen Landwirtschaft. Ein Hauptziel der Tarifreform war ja, die Kolonien enger mit dem Mutterlande zu verknüpfen. Ihre Ausfuhr besteht auf lange Zeit hinaus hauptsächlich aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen, namentlich Weizen. Deshalb haben die Kolonien ein lebhaftes Interesse daran, daß der englische Markt ihnen durch Vorzugszölle leichter zugänglich gemacht wird als der ausländischen Konkurrenz, die man durch Hochschutzzölle fernhalten solle. Auch die unbedeutende englische Landwirtschaft erhofft von Zöllen auf Fleisch¬ einfuhr noch eine kleine Besserung ihrer recht kläglichen Lage. Daß durch den Schutzzoll eine weitere Preissteigerung bedingt sein würde, ist vorauszusehen und die Schwierigkeit ist groß, dem konsumierenden Wähler diese Aussicht zu verschönen. 14"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/215
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/215>, abgerufen am 22.07.2024.