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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

die Schweizer sehr gesund und etwas naiv
sein müßten," begann Madame Ch> wieder. >,
"Man denkt sich das so mit den Bergen zu¬
sammen, ist es nicht wahr?"

"Ich weiß nicht...," sagte Bernard. "Die
Schweizer sind vielleicht bieder und manche
haben komische Ansichten über die Dinge der
großen Welt, aber naiv... ich weiß nicht."

"Ich meine vielleicht eher: unmittelbar im
Ausdruck der Gefühle..."

"Gewiß ... sehr wenig diplomatisch, oft
sehr . . . grob . . ."

"Aber Sie sehen nicht so aus..." Ma¬
dame de Ch. hatte sich etwas vorgeneigt und
schaute ihm Prüfend ins Gesicht.

"Wir haben vielerlei Menschen in unserem
Land.". ..

Nun in Castell haben wir eine Spezies,
die hierzulande nicht allzuhäufig vorkommt,
aber immerhin zu finden ist; im Ausland
aber unter der Marke "msäe in sol^ser-
Isncl" so gut wie ganz unbekannt ist: den
schweizerischen LebemannI Ich identifiziere,
wie ich eben merke, etwas leichtsinnig
den Helden mit seinem Schöpfer, ver¬
zeihe mir es der von beiden, dem ich
unrecht tue. Was geschieht übrigens in diesem
recht amüsanten Roman? Bernard kommt
nach Paris -- um sich zu amüsieren. Und
er erfüllt sein Programm. Und gründlich!
Und wir sehen zu: Abenteuer, Flirt, Liebe,
Ausschweifung, Kunst, Balzac und Stendhal,
Straßenrevolution und -Wettrennen, hin¬
geworfen mit aller Grazie, allem Charme
der Caprice -- ich hätte Lust und Grund,
die Fremdworte noch weiter zu häufen --,
mal banal, mal nachlässig, zuweilen gar er¬
müdend und ärgerlich, alles in allem aber
so reizvoll, aufregend, unüberwindlich, wie
das eine Wort: Paris! Die Frau zu kleiden
und zu entkleiden, die Wirkung flutender
Stoffe, auserlesener Parfüms fühlbar wieder¬
zugeben, ist "Lpecialite cle la msison" bei
Castell. Schöne Frauen schreiten der Reihe nach
ini Buch heran. Ihr Kommen mag ja zuweilen
schlecht begründet, lose verknüpft sein, aber
sie sind wirklich da, sie duften und leuchten vor
mondainer Schönheit, lassen die Luft und die
Nerven um sich erzittern, jede anders, jede
so ganz verschieden. Dann steigt auch einmal
aus dieser eleganten Müdigkeit eine apsssio-

[Spaltenumbruch]

nsta der Sinne auf,' in unschuldsvoller,
selbstverständlicher Lüsternheit, oder eS er¬
stöhnt inmitten all der Leichtlebigkeit das
tiefe, melancholische Lied des unvermeidlich
brüchigen Lebens.

"Liebling . . . raunte sie mit erlöschenden
Augen und zog ihn an sich mit ihren schmalen
Händen; sie ruhten beide wie auf einem
feurigen Teppich, der sie aufjagte, daß sie in
ihrer Wildheit stöhnten und ihre Sinne
kreisten wie in einem grausam verglühenden
Tanz.

Dann sah er sie wieder wie einen Schatten
durch das Zimmer gleiten, gleich einem
Phantom, von dein er nichts wußte, als daß
es seine Nerven auf eine furchtbare Höhe
spannte.

Und wieder kam sie näher, umschloß ihn
mit spielerischer Hingabe, daß er auf eine
neue, fast ungekannte Art glücklich wurde.

Dies waren die Augenblicke, wo er sie im
Tiefsten seines Herzens zu lieben glaubte."

Aus alle dem strebt aber der Held --
oder der Verfasser? -- eilig heraus, es ist
schließlich für die Dauer nicht elegant genug,
und dann liest er wieder Stendhal oder Balzac,
oder langweilt sich sonst ein wenig, aber
immer sich, nie den Leser, nie den Leser, dem
Eleganz an sich Freude macht, der am An¬
schauen eleganter Lebensform dieselbe harm¬
lose Freude hat, wie an der Landschaft.
Line ira et stuclio.

Dr. Richard Mcszleny
Aufsätze und Vortrüge von Dr. S. Singer,
ort. Professor an der Universität Bern. Tü¬
bingen, Verlag von I. C. B. Mohr (Paul
Siebeck). 1912. VII. 280 S. gr. 8°. Geheftet
9 M, kartoniert 10,50 M.

Es wird immer mehr Sitte, daß die
Gelehrten ihre verstreuten Aufsätze in Buch¬
form gesammelt dem Publikum darbieten,
eine Sitte, die nur freudig zu begrüßen ist,
denn viele derartige Aufsätze gehen in ihrer
Wirkung verloren, da sie an entlegenen Orten
veröffentlicht sind und einem größeren Kreise
daher unbekannt bleiben müssen.

Auch der Laie, der die Fachliteratur sonst
nicht verfolgt, wird an diesen Aufsätzen des
Berner Germanisten nicht ungestraft vorüber¬
gehen. Da ist besonders der anregende

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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die Schweizer sehr gesund und etwas naiv
sein müßten," begann Madame Ch> wieder. >,
„Man denkt sich das so mit den Bergen zu¬
sammen, ist es nicht wahr?"

„Ich weiß nicht...," sagte Bernard. „Die
Schweizer sind vielleicht bieder und manche
haben komische Ansichten über die Dinge der
großen Welt, aber naiv... ich weiß nicht."

„Ich meine vielleicht eher: unmittelbar im
Ausdruck der Gefühle..."

„Gewiß ... sehr wenig diplomatisch, oft
sehr . . . grob . . ."

„Aber Sie sehen nicht so aus..." Ma¬
dame de Ch. hatte sich etwas vorgeneigt und
schaute ihm Prüfend ins Gesicht.

„Wir haben vielerlei Menschen in unserem
Land.". ..

Nun in Castell haben wir eine Spezies,
die hierzulande nicht allzuhäufig vorkommt,
aber immerhin zu finden ist; im Ausland
aber unter der Marke „msäe in sol^ser-
Isncl" so gut wie ganz unbekannt ist: den
schweizerischen LebemannI Ich identifiziere,
wie ich eben merke, etwas leichtsinnig
den Helden mit seinem Schöpfer, ver¬
zeihe mir es der von beiden, dem ich
unrecht tue. Was geschieht übrigens in diesem
recht amüsanten Roman? Bernard kommt
nach Paris — um sich zu amüsieren. Und
er erfüllt sein Programm. Und gründlich!
Und wir sehen zu: Abenteuer, Flirt, Liebe,
Ausschweifung, Kunst, Balzac und Stendhal,
Straßenrevolution und -Wettrennen, hin¬
geworfen mit aller Grazie, allem Charme
der Caprice — ich hätte Lust und Grund,
die Fremdworte noch weiter zu häufen —,
mal banal, mal nachlässig, zuweilen gar er¬
müdend und ärgerlich, alles in allem aber
so reizvoll, aufregend, unüberwindlich, wie
das eine Wort: Paris! Die Frau zu kleiden
und zu entkleiden, die Wirkung flutender
Stoffe, auserlesener Parfüms fühlbar wieder¬
zugeben, ist „Lpecialite cle la msison" bei
Castell. Schöne Frauen schreiten der Reihe nach
ini Buch heran. Ihr Kommen mag ja zuweilen
schlecht begründet, lose verknüpft sein, aber
sie sind wirklich da, sie duften und leuchten vor
mondainer Schönheit, lassen die Luft und die
Nerven um sich erzittern, jede anders, jede
so ganz verschieden. Dann steigt auch einmal
aus dieser eleganten Müdigkeit eine apsssio-

[Spaltenumbruch]

nsta der Sinne auf,' in unschuldsvoller,
selbstverständlicher Lüsternheit, oder eS er¬
stöhnt inmitten all der Leichtlebigkeit das
tiefe, melancholische Lied des unvermeidlich
brüchigen Lebens.

„Liebling . . . raunte sie mit erlöschenden
Augen und zog ihn an sich mit ihren schmalen
Händen; sie ruhten beide wie auf einem
feurigen Teppich, der sie aufjagte, daß sie in
ihrer Wildheit stöhnten und ihre Sinne
kreisten wie in einem grausam verglühenden
Tanz.

Dann sah er sie wieder wie einen Schatten
durch das Zimmer gleiten, gleich einem
Phantom, von dein er nichts wußte, als daß
es seine Nerven auf eine furchtbare Höhe
spannte.

Und wieder kam sie näher, umschloß ihn
mit spielerischer Hingabe, daß er auf eine
neue, fast ungekannte Art glücklich wurde.

Dies waren die Augenblicke, wo er sie im
Tiefsten seines Herzens zu lieben glaubte."

Aus alle dem strebt aber der Held —
oder der Verfasser? — eilig heraus, es ist
schließlich für die Dauer nicht elegant genug,
und dann liest er wieder Stendhal oder Balzac,
oder langweilt sich sonst ein wenig, aber
immer sich, nie den Leser, nie den Leser, dem
Eleganz an sich Freude macht, der am An¬
schauen eleganter Lebensform dieselbe harm¬
lose Freude hat, wie an der Landschaft.
Line ira et stuclio.

Dr. Richard Mcszleny
Aufsätze und Vortrüge von Dr. S. Singer,
ort. Professor an der Universität Bern. Tü¬
bingen, Verlag von I. C. B. Mohr (Paul
Siebeck). 1912. VII. 280 S. gr. 8°. Geheftet
9 M, kartoniert 10,50 M.

Es wird immer mehr Sitte, daß die
Gelehrten ihre verstreuten Aufsätze in Buch¬
form gesammelt dem Publikum darbieten,
eine Sitte, die nur freudig zu begrüßen ist,
denn viele derartige Aufsätze gehen in ihrer
Wirkung verloren, da sie an entlegenen Orten
veröffentlicht sind und einem größeren Kreise
daher unbekannt bleiben müssen.

Auch der Laie, der die Fachliteratur sonst
nicht verfolgt, wird an diesen Aufsätzen des
Berner Germanisten nicht ungestraft vorüber¬
gehen. Da ist besonders der anregende

[Ende Spaltensatz]
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[0205] Maßgebliches und Unmaßgebliches die Schweizer sehr gesund und etwas naiv sein müßten," begann Madame Ch> wieder. >, „Man denkt sich das so mit den Bergen zu¬ sammen, ist es nicht wahr?" „Ich weiß nicht...," sagte Bernard. „Die Schweizer sind vielleicht bieder und manche haben komische Ansichten über die Dinge der großen Welt, aber naiv... ich weiß nicht." „Ich meine vielleicht eher: unmittelbar im Ausdruck der Gefühle..." „Gewiß ... sehr wenig diplomatisch, oft sehr . . . grob . . ." „Aber Sie sehen nicht so aus..." Ma¬ dame de Ch. hatte sich etwas vorgeneigt und schaute ihm Prüfend ins Gesicht. „Wir haben vielerlei Menschen in unserem Land.". .. Nun in Castell haben wir eine Spezies, die hierzulande nicht allzuhäufig vorkommt, aber immerhin zu finden ist; im Ausland aber unter der Marke „msäe in sol^ser- Isncl" so gut wie ganz unbekannt ist: den schweizerischen LebemannI Ich identifiziere, wie ich eben merke, etwas leichtsinnig den Helden mit seinem Schöpfer, ver¬ zeihe mir es der von beiden, dem ich unrecht tue. Was geschieht übrigens in diesem recht amüsanten Roman? Bernard kommt nach Paris — um sich zu amüsieren. Und er erfüllt sein Programm. Und gründlich! Und wir sehen zu: Abenteuer, Flirt, Liebe, Ausschweifung, Kunst, Balzac und Stendhal, Straßenrevolution und -Wettrennen, hin¬ geworfen mit aller Grazie, allem Charme der Caprice — ich hätte Lust und Grund, die Fremdworte noch weiter zu häufen —, mal banal, mal nachlässig, zuweilen gar er¬ müdend und ärgerlich, alles in allem aber so reizvoll, aufregend, unüberwindlich, wie das eine Wort: Paris! Die Frau zu kleiden und zu entkleiden, die Wirkung flutender Stoffe, auserlesener Parfüms fühlbar wieder¬ zugeben, ist „Lpecialite cle la msison" bei Castell. Schöne Frauen schreiten der Reihe nach ini Buch heran. Ihr Kommen mag ja zuweilen schlecht begründet, lose verknüpft sein, aber sie sind wirklich da, sie duften und leuchten vor mondainer Schönheit, lassen die Luft und die Nerven um sich erzittern, jede anders, jede so ganz verschieden. Dann steigt auch einmal aus dieser eleganten Müdigkeit eine apsssio- nsta der Sinne auf,' in unschuldsvoller, selbstverständlicher Lüsternheit, oder eS er¬ stöhnt inmitten all der Leichtlebigkeit das tiefe, melancholische Lied des unvermeidlich brüchigen Lebens. „Liebling . . . raunte sie mit erlöschenden Augen und zog ihn an sich mit ihren schmalen Händen; sie ruhten beide wie auf einem feurigen Teppich, der sie aufjagte, daß sie in ihrer Wildheit stöhnten und ihre Sinne kreisten wie in einem grausam verglühenden Tanz. Dann sah er sie wieder wie einen Schatten durch das Zimmer gleiten, gleich einem Phantom, von dein er nichts wußte, als daß es seine Nerven auf eine furchtbare Höhe spannte. Und wieder kam sie näher, umschloß ihn mit spielerischer Hingabe, daß er auf eine neue, fast ungekannte Art glücklich wurde. Dies waren die Augenblicke, wo er sie im Tiefsten seines Herzens zu lieben glaubte." Aus alle dem strebt aber der Held — oder der Verfasser? — eilig heraus, es ist schließlich für die Dauer nicht elegant genug, und dann liest er wieder Stendhal oder Balzac, oder langweilt sich sonst ein wenig, aber immer sich, nie den Leser, nie den Leser, dem Eleganz an sich Freude macht, der am An¬ schauen eleganter Lebensform dieselbe harm¬ lose Freude hat, wie an der Landschaft. Line ira et stuclio. Dr. Richard Mcszleny Aufsätze und Vortrüge von Dr. S. Singer, ort. Professor an der Universität Bern. Tü¬ bingen, Verlag von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 1912. VII. 280 S. gr. 8°. Geheftet 9 M, kartoniert 10,50 M. Es wird immer mehr Sitte, daß die Gelehrten ihre verstreuten Aufsätze in Buch¬ form gesammelt dem Publikum darbieten, eine Sitte, die nur freudig zu begrüßen ist, denn viele derartige Aufsätze gehen in ihrer Wirkung verloren, da sie an entlegenen Orten veröffentlicht sind und einem größeren Kreise daher unbekannt bleiben müssen. Auch der Laie, der die Fachliteratur sonst nicht verfolgt, wird an diesen Aufsätzen des Berner Germanisten nicht ungestraft vorüber¬ gehen. Da ist besonders der anregende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/205>, abgerufen am 22.12.2024.