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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das Grotesk

seine Rolle. Der Kultus des Grauens, von klugen Romanciers eifrig gepflegt,
findet sein Publikum, und man kokettiert mit dem Satanismus. Noch sei hin¬
gewiesen auf die moderne Reklame, die gern durch Unsinn Aufmerksamkeit erregt,
sowie auf die blöden, durch mechanische Zusammenfügung von Lauten gebildeten
Kennwörter. Ja, jener tolle Wirbel und Hexentanz des Lebens, den wir
Amerikanismus nennen, mit all dem Lärm, der Geschmacklosigkeit, dem Kampf,
mit der Brutalität und Rücksichtslosigkeit und zugleich der krampfhaften Lustigkeit
und Lebensgier: ist er nicht ein System der Zwecklosigkeit, ein Aufgebot aller
Leidenschaften um -- Nichts?

Das alles und noch mehr drängt zum Ausdruck, ringt nach Formen, strebt
zum Stil. Eine Kunst des Wahnsinns, des Grauens, des Absurden, Bizarren,
Perversen ist im Werden. Und ihre jungen Priester, in ihrer Freude über die
Offenbarung, nennen sie die Kunst der Zukunft, halten sie ganz einfach für
die Kunst.

So neu und unfertig die Bewegung noch ist, so fällt von ihr bereits ein
Helles Licht auf die -- nach unserer Meinung -- primitive Kunst exotischer
Völker. Wir alle kennen jene unförmigen Götzenbilder, Fetische und Dämonen,
die in den Museen für Völkerkunde aufbewahrt werden. Greuliche Menschen¬
fratzen auf Tierleibern, Ungeheuer mit zwei Köpfen, sechs Armen oder vier
Beinen. Wir kennen auch die Tempelbauten etwa der Inder, mit endlos aus¬
einandergesetzten und in die Höhe gezogenen Dächern, mit Schnörkeln, Kröpfen
und Spitzen, die jedes konstruktive Gefühl, jeden Sinn der Architektur zu ver¬
höhnen scheinen. Wir sahen all das bisher mit einem Gemisch von Schauder,
Ekel und lächelnder Überlegenheit, denn wir hielten diese Ausgeburten einer
unkultivierten Phantasie für ästhetischen Unsinn, für künstlerische Unfähigkeit, ja
für das Gegenteil aller Kunst. Jetzt aber ahnen wir, daß auch jenen Mi߬
gestalten eine ästhetische Absicht zugrunde liegt, daß eine Stimmung ausgedrückt
werden soll und auch ausgedrückt wird, daß wir es also mit Kunstwerken zu
tun haben, die wir nur nicht als solche erkennen konnten, weil uns das seelische
Erlebnis fremd war, dem sie ihr Dasein verdanken. Was da sichtbar werden
soll, ist das Grauen des primitiven Menschen vor der Sinnlosigkeit der noch
unerforschten und unbezwungenen Natur, ist die Angst vor der Grausamkeit und
dämonischen Furchtbarkeit eines auf Gefahr und täglichen Kampf gestellten
Lebens. In diesen Fratzen haben Künstler ihre Wahnvorstellungen, ihre Angst¬
träume mitten im Urwald, beim Gewitter, während einer Sonnenverdunkelung
festgehalten.

Aus hoher Stufe der Kultur, als Resultat eines jahrtausende langen un¬
unterbrochenen Nachdenkens über die Rätsel des Lebens kehrt uns plötzlich die
Empfindung des Grauens vor der Sinnlosigkeit des Daseins zurück, und mit
dieser ähnlichen Seelendisposition gelangen wir zu ähnlichen Ausdrucksformen
wie jene primitiveren Menschen. Wie seltsam, daß die Kurve der Entwicklung
in sich zurückzukaufen scheint!


Das Grotesk

seine Rolle. Der Kultus des Grauens, von klugen Romanciers eifrig gepflegt,
findet sein Publikum, und man kokettiert mit dem Satanismus. Noch sei hin¬
gewiesen auf die moderne Reklame, die gern durch Unsinn Aufmerksamkeit erregt,
sowie auf die blöden, durch mechanische Zusammenfügung von Lauten gebildeten
Kennwörter. Ja, jener tolle Wirbel und Hexentanz des Lebens, den wir
Amerikanismus nennen, mit all dem Lärm, der Geschmacklosigkeit, dem Kampf,
mit der Brutalität und Rücksichtslosigkeit und zugleich der krampfhaften Lustigkeit
und Lebensgier: ist er nicht ein System der Zwecklosigkeit, ein Aufgebot aller
Leidenschaften um — Nichts?

Das alles und noch mehr drängt zum Ausdruck, ringt nach Formen, strebt
zum Stil. Eine Kunst des Wahnsinns, des Grauens, des Absurden, Bizarren,
Perversen ist im Werden. Und ihre jungen Priester, in ihrer Freude über die
Offenbarung, nennen sie die Kunst der Zukunft, halten sie ganz einfach für
die Kunst.

So neu und unfertig die Bewegung noch ist, so fällt von ihr bereits ein
Helles Licht auf die — nach unserer Meinung — primitive Kunst exotischer
Völker. Wir alle kennen jene unförmigen Götzenbilder, Fetische und Dämonen,
die in den Museen für Völkerkunde aufbewahrt werden. Greuliche Menschen¬
fratzen auf Tierleibern, Ungeheuer mit zwei Köpfen, sechs Armen oder vier
Beinen. Wir kennen auch die Tempelbauten etwa der Inder, mit endlos aus¬
einandergesetzten und in die Höhe gezogenen Dächern, mit Schnörkeln, Kröpfen
und Spitzen, die jedes konstruktive Gefühl, jeden Sinn der Architektur zu ver¬
höhnen scheinen. Wir sahen all das bisher mit einem Gemisch von Schauder,
Ekel und lächelnder Überlegenheit, denn wir hielten diese Ausgeburten einer
unkultivierten Phantasie für ästhetischen Unsinn, für künstlerische Unfähigkeit, ja
für das Gegenteil aller Kunst. Jetzt aber ahnen wir, daß auch jenen Mi߬
gestalten eine ästhetische Absicht zugrunde liegt, daß eine Stimmung ausgedrückt
werden soll und auch ausgedrückt wird, daß wir es also mit Kunstwerken zu
tun haben, die wir nur nicht als solche erkennen konnten, weil uns das seelische
Erlebnis fremd war, dem sie ihr Dasein verdanken. Was da sichtbar werden
soll, ist das Grauen des primitiven Menschen vor der Sinnlosigkeit der noch
unerforschten und unbezwungenen Natur, ist die Angst vor der Grausamkeit und
dämonischen Furchtbarkeit eines auf Gefahr und täglichen Kampf gestellten
Lebens. In diesen Fratzen haben Künstler ihre Wahnvorstellungen, ihre Angst¬
träume mitten im Urwald, beim Gewitter, während einer Sonnenverdunkelung
festgehalten.

Aus hoher Stufe der Kultur, als Resultat eines jahrtausende langen un¬
unterbrochenen Nachdenkens über die Rätsel des Lebens kehrt uns plötzlich die
Empfindung des Grauens vor der Sinnlosigkeit des Daseins zurück, und mit
dieser ähnlichen Seelendisposition gelangen wir zu ähnlichen Ausdrucksformen
wie jene primitiveren Menschen. Wie seltsam, daß die Kurve der Entwicklung
in sich zurückzukaufen scheint!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/195>, abgerufen am 22.12.2024.