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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

die erfaßbare Wirklichkeit nicht als einen toten Mechanismus, sondern als ein
lebendiges Ganzes zu erfassen, in dem sich in fortschreitender Entwicklung ein
Göttliches, die Weltvernunft, offenbart. Hier fand er auch den klassischen sprach¬
lichen Ausdruck seiner neu entstehenden Weltoorstellungen: er bezeichnete fortan
mit Vorliebe die Welt der Erscheinungen als "das lebendige Kleid der Gottheit",
als die sichtbare Darstellung oder das "Symbol" eines transzendenten realen
Seins. Dieser platonische Gedanke geht in seiner schwebend-unbestimmten
Fassung unmittelbar auf Goethe zurück: auf die Worte des Erdgeistes im
"Faust" und auf die Symbolsprache der "pädagogischen Provinz". Aber Goethe
wollte mit dem poetischen Bilde vom "lebendigen Kleid der Gottheit" seine
pantheistische Vorstellung von der Erscheinungswelt versinnlichen: in der farben¬
reichen Fülle des konkreten Lebens ahnte er den geheimnisvollen Zusammenhang,
die sinnvoll wirkende Naturkraft, die er mit göttlichen Attributen belegte; ihm
schwebte die "natura naturam8" Spinozas vor, als deren mocki die Dinge
der Erfahrungswelt erscheinen. Sein Jünger Carlyle faßte den symbolischen
Ausdruck ganz anders: er dachte an eine transzendente göttliche Realität, die
nicht mit den Kräften des Verstandes, sondern nur in der Intuition des Willens
erfaßt werden kann; die Sinnenwelt erscheint dann als bloßer "farbiger Ab¬
glanz" der Gottheit, als abgeleitete, nicht msprüngliche Realität. Gott ist mehr
als die Summe alles erfaßbar Wirklichen: alle Dinge sind in Gott, aber Gott
selbst ist nicht in allen Dingen restlos enthalten.

Wir verstehen sogleich, warum es für Carlyle unmöglich war, den Grund¬
gedanken im Sinne Goethes pantheistisch auszudrücken: sein Bestreben war ja
gerade, über die Schranken des Naturgesetzes, in denen der Pantheismus not¬
wendig gefangen bleibt, hinauszukommen -- eine Sphäre der sittlichen Freiheit
hinter und über der Sphäre der Naturnotwendigkeit zu finden. Er empfand
sein eigenes Streben nicht, wie der großartig naive Genius Goethes, in har¬
monischer Übereinstimmung mit dem Walten der Naturgesetze, sondern in schärfsten
Widerspruch zu ihrem Zwang. Ein Unterschied von gewaltiger Tragweite I
Hier liegt die Erklärung dafür, daß Carlyle nur die eine Seite des Goethescher
Wesens vollkommen erfaßte; den sinnenfrohen Künstler, den Meister des ästhe¬
tischen Genusses verstand er nicht, weil er selbst der Sinnenwelt ganz anders
gegenüberstand, als jener. Und während Goethe sich mit besonderer Liebe in das
Verständnis der äußeren Natur und ihrer farbigen Herrlichkeit versenkte, wandte
Carlyle sein ganzes Interesse den Erscheinungen der sittlichen Welt, des geschichtlichen
und sozialen Daseins zu. Beide suchten die Erscheinung des göttlichen Willens
in der Erfahrungswelt zu erkennen -- aber Goethe in dem gesetzlichen Zusammen¬
hang des Naturgeschehens, Carlyle in der Freiheit des geschichtlichen Lebens.

Die sittlich-religiösen Wurzeln der Carlyleschen Weltvorstellung liegen offen
zutage. Aber von einem einfachen Rückfall in die frühere theologische Welt¬
anschauung kann doch nicht die Rede sein. Carlyle hatte sich inzwischen von
der Unanfechtbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode durchaus überzeugt;


Der deutsche Idealismus

die erfaßbare Wirklichkeit nicht als einen toten Mechanismus, sondern als ein
lebendiges Ganzes zu erfassen, in dem sich in fortschreitender Entwicklung ein
Göttliches, die Weltvernunft, offenbart. Hier fand er auch den klassischen sprach¬
lichen Ausdruck seiner neu entstehenden Weltoorstellungen: er bezeichnete fortan
mit Vorliebe die Welt der Erscheinungen als „das lebendige Kleid der Gottheit",
als die sichtbare Darstellung oder das „Symbol" eines transzendenten realen
Seins. Dieser platonische Gedanke geht in seiner schwebend-unbestimmten
Fassung unmittelbar auf Goethe zurück: auf die Worte des Erdgeistes im
„Faust" und auf die Symbolsprache der „pädagogischen Provinz". Aber Goethe
wollte mit dem poetischen Bilde vom „lebendigen Kleid der Gottheit" seine
pantheistische Vorstellung von der Erscheinungswelt versinnlichen: in der farben¬
reichen Fülle des konkreten Lebens ahnte er den geheimnisvollen Zusammenhang,
die sinnvoll wirkende Naturkraft, die er mit göttlichen Attributen belegte; ihm
schwebte die „natura naturam8" Spinozas vor, als deren mocki die Dinge
der Erfahrungswelt erscheinen. Sein Jünger Carlyle faßte den symbolischen
Ausdruck ganz anders: er dachte an eine transzendente göttliche Realität, die
nicht mit den Kräften des Verstandes, sondern nur in der Intuition des Willens
erfaßt werden kann; die Sinnenwelt erscheint dann als bloßer „farbiger Ab¬
glanz" der Gottheit, als abgeleitete, nicht msprüngliche Realität. Gott ist mehr
als die Summe alles erfaßbar Wirklichen: alle Dinge sind in Gott, aber Gott
selbst ist nicht in allen Dingen restlos enthalten.

Wir verstehen sogleich, warum es für Carlyle unmöglich war, den Grund¬
gedanken im Sinne Goethes pantheistisch auszudrücken: sein Bestreben war ja
gerade, über die Schranken des Naturgesetzes, in denen der Pantheismus not¬
wendig gefangen bleibt, hinauszukommen — eine Sphäre der sittlichen Freiheit
hinter und über der Sphäre der Naturnotwendigkeit zu finden. Er empfand
sein eigenes Streben nicht, wie der großartig naive Genius Goethes, in har¬
monischer Übereinstimmung mit dem Walten der Naturgesetze, sondern in schärfsten
Widerspruch zu ihrem Zwang. Ein Unterschied von gewaltiger Tragweite I
Hier liegt die Erklärung dafür, daß Carlyle nur die eine Seite des Goethescher
Wesens vollkommen erfaßte; den sinnenfrohen Künstler, den Meister des ästhe¬
tischen Genusses verstand er nicht, weil er selbst der Sinnenwelt ganz anders
gegenüberstand, als jener. Und während Goethe sich mit besonderer Liebe in das
Verständnis der äußeren Natur und ihrer farbigen Herrlichkeit versenkte, wandte
Carlyle sein ganzes Interesse den Erscheinungen der sittlichen Welt, des geschichtlichen
und sozialen Daseins zu. Beide suchten die Erscheinung des göttlichen Willens
in der Erfahrungswelt zu erkennen — aber Goethe in dem gesetzlichen Zusammen¬
hang des Naturgeschehens, Carlyle in der Freiheit des geschichtlichen Lebens.

Die sittlich-religiösen Wurzeln der Carlyleschen Weltvorstellung liegen offen
zutage. Aber von einem einfachen Rückfall in die frühere theologische Welt¬
anschauung kann doch nicht die Rede sein. Carlyle hatte sich inzwischen von
der Unanfechtbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode durchaus überzeugt;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/136>, abgerufen am 04.07.2024.