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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

Glück zu erlangen. Er befand sich nunmehr im "Mittelpunkt der Gleichgültig¬
keit": "Sterben oder Leben ist mir gleich, ist mir gleich bedeutungslos."

Aus dieser stumpfen Resignation hob ihn zuerst Goethe heraus; aus den
"Wanderjahren" Holle sich Carlyle die Erkenntnis von der "Heiligkeit des
Schmerzes": daß es gar nicht die Bestimmung des Menschen sei, persönlich
glücklich zu werden, sondern tätig zu sein, etwas Menschenwürdiges durch Arbeit
hervorzubringen, müßte der einzelne auch darüber zugrunde gehen. Für Carlyle,
den Puritanersproß, war das im Grunde ja keine neue Wahrheit; das Be¬
wußtsein von der unbedingten Geltung des Pflichtgebots war ihm niemals
ganz verloren gegangen. Aber es war ihm im Laufe seiner Entwicklung zeit¬
weise stark verdunkelt worden, und nun fand er hier bei Goethe den klarsten
Ausdruck für das, was er bisher doch nur halb verstanden hatte. Der Dichter
zeigte ihm wieder, welche tiefe Wahrheit in den ethischen Grundlehren des Christen¬
tums enthalten sei, ja daß diese Lehre "das Letzte darstelle, wozu die Menschheit
gelangen konnte und mußte": "die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen
und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und
Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als
göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse,
sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen."*)
Carlyle verstand die Tiefe dieses Gedankens vollkommen: "Es gibt im Menschen
etwas Höheres, als die Liebe zum Glück. Er kann das Glück entbehren und
statt dessen Seligkeit finden. . . Die brausenden Wogen der Zeit verschlingen
dich nicht, sondern tragen dich hinauf in das Blau der Ewigkeit."

Damit war also der feste Boden des religiösen Denkens wiedergewonnen --
zunächst für die praktische, ethische Seite der Lebensanschauung. Aber gleich¬
zeitig begann sich nun auch das Dunkel zu lichten, das für den erkennenden
Verstand die Stellung des Ichs in der Umwelt, in dem metaphysischen Zu¬
sammenhang der Erscheinungen, verhüllte. In jenem Akt der Empörung gegen
die materialistische Weltauffassung war ja nur der feindliche Gegensatz, die
gewaltige Kluft deutlich geworden, die das selbständige freie Ich von dem
ungeheuren, mechanischen Weltprozeß trennte. Diese Spannung war auf die
Dauer unerträglich. Für Carlyles tatensrohen Wirklichkeitssinn war eine asketische
Verachtung der Sinnenwelt, eine träumerische Zurückziehung in das eigene Innere
ganz unmöglich. Er brauchte eine Weltanschauung, die ihn aus der Feindschaft
gegen das "Nichtich" befreite, indem sie ihn die Sinnenwelt als würdigen
Gegenstand der sittlichen Betätigung betrachten lehrte**). Eine solche Welt¬
auffassung fand er in der deutschen Dichtung wiedergespiegelt. Hier lernte er,




*) "Wanderjahre" II, 1.
**> Von hier aus wäre es nicht schwer, der mehr geistreichen als geistvollen Auffassung
H. Taines entgegenzutreten, der Carlyles auffallend scharfes Verständnis für die Realitäten
des historischen Lebens in scharfen Widerspruch stellt zu seinem "träumerischen deutschen
Mystizismus."
Der deutsche Idealismus

Glück zu erlangen. Er befand sich nunmehr im „Mittelpunkt der Gleichgültig¬
keit": „Sterben oder Leben ist mir gleich, ist mir gleich bedeutungslos."

Aus dieser stumpfen Resignation hob ihn zuerst Goethe heraus; aus den
„Wanderjahren" Holle sich Carlyle die Erkenntnis von der „Heiligkeit des
Schmerzes": daß es gar nicht die Bestimmung des Menschen sei, persönlich
glücklich zu werden, sondern tätig zu sein, etwas Menschenwürdiges durch Arbeit
hervorzubringen, müßte der einzelne auch darüber zugrunde gehen. Für Carlyle,
den Puritanersproß, war das im Grunde ja keine neue Wahrheit; das Be¬
wußtsein von der unbedingten Geltung des Pflichtgebots war ihm niemals
ganz verloren gegangen. Aber es war ihm im Laufe seiner Entwicklung zeit¬
weise stark verdunkelt worden, und nun fand er hier bei Goethe den klarsten
Ausdruck für das, was er bisher doch nur halb verstanden hatte. Der Dichter
zeigte ihm wieder, welche tiefe Wahrheit in den ethischen Grundlehren des Christen¬
tums enthalten sei, ja daß diese Lehre „das Letzte darstelle, wozu die Menschheit
gelangen konnte und mußte": „die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen
und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und
Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als
göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse,
sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen."*)
Carlyle verstand die Tiefe dieses Gedankens vollkommen: „Es gibt im Menschen
etwas Höheres, als die Liebe zum Glück. Er kann das Glück entbehren und
statt dessen Seligkeit finden. . . Die brausenden Wogen der Zeit verschlingen
dich nicht, sondern tragen dich hinauf in das Blau der Ewigkeit."

Damit war also der feste Boden des religiösen Denkens wiedergewonnen —
zunächst für die praktische, ethische Seite der Lebensanschauung. Aber gleich¬
zeitig begann sich nun auch das Dunkel zu lichten, das für den erkennenden
Verstand die Stellung des Ichs in der Umwelt, in dem metaphysischen Zu¬
sammenhang der Erscheinungen, verhüllte. In jenem Akt der Empörung gegen
die materialistische Weltauffassung war ja nur der feindliche Gegensatz, die
gewaltige Kluft deutlich geworden, die das selbständige freie Ich von dem
ungeheuren, mechanischen Weltprozeß trennte. Diese Spannung war auf die
Dauer unerträglich. Für Carlyles tatensrohen Wirklichkeitssinn war eine asketische
Verachtung der Sinnenwelt, eine träumerische Zurückziehung in das eigene Innere
ganz unmöglich. Er brauchte eine Weltanschauung, die ihn aus der Feindschaft
gegen das „Nichtich" befreite, indem sie ihn die Sinnenwelt als würdigen
Gegenstand der sittlichen Betätigung betrachten lehrte**). Eine solche Welt¬
auffassung fand er in der deutschen Dichtung wiedergespiegelt. Hier lernte er,




*) „Wanderjahre" II, 1.
**> Von hier aus wäre es nicht schwer, der mehr geistreichen als geistvollen Auffassung
H. Taines entgegenzutreten, der Carlyles auffallend scharfes Verständnis für die Realitäten
des historischen Lebens in scharfen Widerspruch stellt zu seinem „träumerischen deutschen
Mystizismus."
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[0135] Der deutsche Idealismus Glück zu erlangen. Er befand sich nunmehr im „Mittelpunkt der Gleichgültig¬ keit": „Sterben oder Leben ist mir gleich, ist mir gleich bedeutungslos." Aus dieser stumpfen Resignation hob ihn zuerst Goethe heraus; aus den „Wanderjahren" Holle sich Carlyle die Erkenntnis von der „Heiligkeit des Schmerzes": daß es gar nicht die Bestimmung des Menschen sei, persönlich glücklich zu werden, sondern tätig zu sein, etwas Menschenwürdiges durch Arbeit hervorzubringen, müßte der einzelne auch darüber zugrunde gehen. Für Carlyle, den Puritanersproß, war das im Grunde ja keine neue Wahrheit; das Be¬ wußtsein von der unbedingten Geltung des Pflichtgebots war ihm niemals ganz verloren gegangen. Aber es war ihm im Laufe seiner Entwicklung zeit¬ weise stark verdunkelt worden, und nun fand er hier bei Goethe den klarsten Ausdruck für das, was er bisher doch nur halb verstanden hatte. Der Dichter zeigte ihm wieder, welche tiefe Wahrheit in den ethischen Grundlehren des Christen¬ tums enthalten sei, ja daß diese Lehre „das Letzte darstelle, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte": „die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen."*) Carlyle verstand die Tiefe dieses Gedankens vollkommen: „Es gibt im Menschen etwas Höheres, als die Liebe zum Glück. Er kann das Glück entbehren und statt dessen Seligkeit finden. . . Die brausenden Wogen der Zeit verschlingen dich nicht, sondern tragen dich hinauf in das Blau der Ewigkeit." Damit war also der feste Boden des religiösen Denkens wiedergewonnen — zunächst für die praktische, ethische Seite der Lebensanschauung. Aber gleich¬ zeitig begann sich nun auch das Dunkel zu lichten, das für den erkennenden Verstand die Stellung des Ichs in der Umwelt, in dem metaphysischen Zu¬ sammenhang der Erscheinungen, verhüllte. In jenem Akt der Empörung gegen die materialistische Weltauffassung war ja nur der feindliche Gegensatz, die gewaltige Kluft deutlich geworden, die das selbständige freie Ich von dem ungeheuren, mechanischen Weltprozeß trennte. Diese Spannung war auf die Dauer unerträglich. Für Carlyles tatensrohen Wirklichkeitssinn war eine asketische Verachtung der Sinnenwelt, eine träumerische Zurückziehung in das eigene Innere ganz unmöglich. Er brauchte eine Weltanschauung, die ihn aus der Feindschaft gegen das „Nichtich" befreite, indem sie ihn die Sinnenwelt als würdigen Gegenstand der sittlichen Betätigung betrachten lehrte**). Eine solche Welt¬ auffassung fand er in der deutschen Dichtung wiedergespiegelt. Hier lernte er, *) „Wanderjahre" II, 1. **> Von hier aus wäre es nicht schwer, der mehr geistreichen als geistvollen Auffassung H. Taines entgegenzutreten, der Carlyles auffallend scharfes Verständnis für die Realitäten des historischen Lebens in scharfen Widerspruch stellt zu seinem „träumerischen deutschen Mystizismus."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/135>, abgerufen am 25.07.2024.