Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vor deutsche Idealismus

gelegentlich geradezu als fressendeKrankheitbezeichnete*). Jmletzten Grunde empfand
er sich den deutschen Fachphilosophen gegenüber doch immer als den nüchternen
Angelsachsen mit den gesunden Wirklichkeitsinstinkten; für ihre komplizierteren
Gedankengänge besaß er schwerlich die Aufnahmefähigkeit. Er war geradezu
unfähig zur fortgesetzten Abstraktion; begreiflich also, daß er sich lieber an die
poetische Wiedergabe der idealistischen Grundgedanken hielt, als an die spröderen
Originalwerke der Philosophen, die dem Ausländer ja auch sprachlich ungeheure
Schwierigkeiten boten.

Zuerst gewann die Persönlichkeit Schillers sein lebhaftes Interesse! dieser
reine, edle Geist, der sich aus mühseligen und verworrenen Anfängen, aus
äußeren und inneren Nöten mit siegreicher Kraft durchgerungen hatte zu "sonniger
Klarheit". Carlyle sand in diesem Lebensschicksal sein eigenes teilweise wieder
und verfolgte mit Bewunderung, wie es Schiller gelungen war, "sich eigene
moralische Überzeugungen zu bilden, unabhängig von Glaubensartikeln und
Kirchen", und fo die Nöte des Irdischen durch den Geist zu überwinden. Aber
bald genügte ihm dieses Vorbild nicht mehr; da der Poet aus der Gebundenheit
der Natur in das Reich der Ideen und der Freiheit hinüberflüchtete, schien er
den Boden der Wirklichkeit gänzlich unter den Füßen zu verlieren. Der Zwiespalt
zwischen Ideal und Wirklichkeit blieb unüberbrückt und trat dem Dichter selbst
oft schmerzlich vor die Seele. Carlyle aber suchte ja gerade diesen Gegensatz,
den er selbst als feindlichen Widerspruch des "Ich" gegen die Welt empfand,
in einer höheren Einheit zu überwinden. Die ästhetische Metaphysik, mit der
Schiller die Klust zu überbauen versuchte, die Auflösung des Sinnlichen in die
Welt des "schönen Scheins", konnte den starken Wirklichkeitssinn des Schotten
nicht befriedigen; für eine rein ästhetische Betrachtung der Welt fehlte ihm über¬
dies jedes Organ.

Tiefer und dauernder war schon der Einfluß, den er von Jean Paul
Richter empfing. Hier fand er einen tiefen Sinn für die Mannigfaltigkeit und
Schönheit der wirklichen Dinge, für den lebendigen Reiz gerade auch des Kleinen
und Kleinsten, überstrahlt und durchleuchtet von einer idealen Auffassung der
Welt im Ganzen. Die romantische Ironie, das Bewußtsein des souveränen
Geistes von seiner Überlegenheit über die Welt der äußeren Dinge ist bei Jean
Paul zu einem warmen Humor verklärt; die großen Nöte und Widersprüche des
Lebens werden darin nicht aufgelöst, aber doch für das Gefühl dadurch über¬
wunden, daß sie in ihrer bloßen künstlerischen Kontrastwirkung erfaßt sind. Das
Wesen dieses Humors hat Carlyle vollkommen begriffen: "Es ist in der Tat
die Blume und der Duft, der reinste Ausfluß einer tiefen, schönen, liebenden
Natur, einer Natur, die in Harmonie mit sich selbst ist. ausgesöhnt mit der
Welt und ihrer Armseligkeit und ihren Widersprüchen, ja eben in diesen Wider-



*) Aandell häuft solche Zitate, aus denen sich nur die häufige Verstimmung CarlyleS
über die Dunkelheiten der deutschen Philosophie, aber nichts über den tatsächlich wirksamen
Einfluß der deutschen Ideen ergibt.
Vor deutsche Idealismus

gelegentlich geradezu als fressendeKrankheitbezeichnete*). Jmletzten Grunde empfand
er sich den deutschen Fachphilosophen gegenüber doch immer als den nüchternen
Angelsachsen mit den gesunden Wirklichkeitsinstinkten; für ihre komplizierteren
Gedankengänge besaß er schwerlich die Aufnahmefähigkeit. Er war geradezu
unfähig zur fortgesetzten Abstraktion; begreiflich also, daß er sich lieber an die
poetische Wiedergabe der idealistischen Grundgedanken hielt, als an die spröderen
Originalwerke der Philosophen, die dem Ausländer ja auch sprachlich ungeheure
Schwierigkeiten boten.

Zuerst gewann die Persönlichkeit Schillers sein lebhaftes Interesse! dieser
reine, edle Geist, der sich aus mühseligen und verworrenen Anfängen, aus
äußeren und inneren Nöten mit siegreicher Kraft durchgerungen hatte zu „sonniger
Klarheit". Carlyle sand in diesem Lebensschicksal sein eigenes teilweise wieder
und verfolgte mit Bewunderung, wie es Schiller gelungen war, „sich eigene
moralische Überzeugungen zu bilden, unabhängig von Glaubensartikeln und
Kirchen", und fo die Nöte des Irdischen durch den Geist zu überwinden. Aber
bald genügte ihm dieses Vorbild nicht mehr; da der Poet aus der Gebundenheit
der Natur in das Reich der Ideen und der Freiheit hinüberflüchtete, schien er
den Boden der Wirklichkeit gänzlich unter den Füßen zu verlieren. Der Zwiespalt
zwischen Ideal und Wirklichkeit blieb unüberbrückt und trat dem Dichter selbst
oft schmerzlich vor die Seele. Carlyle aber suchte ja gerade diesen Gegensatz,
den er selbst als feindlichen Widerspruch des „Ich" gegen die Welt empfand,
in einer höheren Einheit zu überwinden. Die ästhetische Metaphysik, mit der
Schiller die Klust zu überbauen versuchte, die Auflösung des Sinnlichen in die
Welt des „schönen Scheins", konnte den starken Wirklichkeitssinn des Schotten
nicht befriedigen; für eine rein ästhetische Betrachtung der Welt fehlte ihm über¬
dies jedes Organ.

Tiefer und dauernder war schon der Einfluß, den er von Jean Paul
Richter empfing. Hier fand er einen tiefen Sinn für die Mannigfaltigkeit und
Schönheit der wirklichen Dinge, für den lebendigen Reiz gerade auch des Kleinen
und Kleinsten, überstrahlt und durchleuchtet von einer idealen Auffassung der
Welt im Ganzen. Die romantische Ironie, das Bewußtsein des souveränen
Geistes von seiner Überlegenheit über die Welt der äußeren Dinge ist bei Jean
Paul zu einem warmen Humor verklärt; die großen Nöte und Widersprüche des
Lebens werden darin nicht aufgelöst, aber doch für das Gefühl dadurch über¬
wunden, daß sie in ihrer bloßen künstlerischen Kontrastwirkung erfaßt sind. Das
Wesen dieses Humors hat Carlyle vollkommen begriffen: „Es ist in der Tat
die Blume und der Duft, der reinste Ausfluß einer tiefen, schönen, liebenden
Natur, einer Natur, die in Harmonie mit sich selbst ist. ausgesöhnt mit der
Welt und ihrer Armseligkeit und ihren Widersprüchen, ja eben in diesen Wider-



*) Aandell häuft solche Zitate, aus denen sich nur die häufige Verstimmung CarlyleS
über die Dunkelheiten der deutschen Philosophie, aber nichts über den tatsächlich wirksamen
Einfluß der deutschen Ideen ergibt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0132" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325002"/>
          <fw type="header" place="top"> Vor deutsche Idealismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_408" prev="#ID_407"> gelegentlich geradezu als fressendeKrankheitbezeichnete*). Jmletzten Grunde empfand<lb/>
er sich den deutschen Fachphilosophen gegenüber doch immer als den nüchternen<lb/>
Angelsachsen mit den gesunden Wirklichkeitsinstinkten; für ihre komplizierteren<lb/>
Gedankengänge besaß er schwerlich die Aufnahmefähigkeit. Er war geradezu<lb/>
unfähig zur fortgesetzten Abstraktion; begreiflich also, daß er sich lieber an die<lb/>
poetische Wiedergabe der idealistischen Grundgedanken hielt, als an die spröderen<lb/>
Originalwerke der Philosophen, die dem Ausländer ja auch sprachlich ungeheure<lb/>
Schwierigkeiten boten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_409"> Zuerst gewann die Persönlichkeit Schillers sein lebhaftes Interesse! dieser<lb/>
reine, edle Geist, der sich aus mühseligen und verworrenen Anfängen, aus<lb/>
äußeren und inneren Nöten mit siegreicher Kraft durchgerungen hatte zu &#x201E;sonniger<lb/>
Klarheit". Carlyle sand in diesem Lebensschicksal sein eigenes teilweise wieder<lb/>
und verfolgte mit Bewunderung, wie es Schiller gelungen war, &#x201E;sich eigene<lb/>
moralische Überzeugungen zu bilden, unabhängig von Glaubensartikeln und<lb/>
Kirchen", und fo die Nöte des Irdischen durch den Geist zu überwinden. Aber<lb/>
bald genügte ihm dieses Vorbild nicht mehr; da der Poet aus der Gebundenheit<lb/>
der Natur in das Reich der Ideen und der Freiheit hinüberflüchtete, schien er<lb/>
den Boden der Wirklichkeit gänzlich unter den Füßen zu verlieren. Der Zwiespalt<lb/>
zwischen Ideal und Wirklichkeit blieb unüberbrückt und trat dem Dichter selbst<lb/>
oft schmerzlich vor die Seele. Carlyle aber suchte ja gerade diesen Gegensatz,<lb/>
den er selbst als feindlichen Widerspruch des &#x201E;Ich" gegen die Welt empfand,<lb/>
in einer höheren Einheit zu überwinden. Die ästhetische Metaphysik, mit der<lb/>
Schiller die Klust zu überbauen versuchte, die Auflösung des Sinnlichen in die<lb/>
Welt des &#x201E;schönen Scheins", konnte den starken Wirklichkeitssinn des Schotten<lb/>
nicht befriedigen; für eine rein ästhetische Betrachtung der Welt fehlte ihm über¬<lb/>
dies jedes Organ.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_410" next="#ID_411"> Tiefer und dauernder war schon der Einfluß, den er von Jean Paul<lb/>
Richter empfing. Hier fand er einen tiefen Sinn für die Mannigfaltigkeit und<lb/>
Schönheit der wirklichen Dinge, für den lebendigen Reiz gerade auch des Kleinen<lb/>
und Kleinsten, überstrahlt und durchleuchtet von einer idealen Auffassung der<lb/>
Welt im Ganzen. Die romantische Ironie, das Bewußtsein des souveränen<lb/>
Geistes von seiner Überlegenheit über die Welt der äußeren Dinge ist bei Jean<lb/>
Paul zu einem warmen Humor verklärt; die großen Nöte und Widersprüche des<lb/>
Lebens werden darin nicht aufgelöst, aber doch für das Gefühl dadurch über¬<lb/>
wunden, daß sie in ihrer bloßen künstlerischen Kontrastwirkung erfaßt sind. Das<lb/>
Wesen dieses Humors hat Carlyle vollkommen begriffen: &#x201E;Es ist in der Tat<lb/>
die Blume und der Duft, der reinste Ausfluß einer tiefen, schönen, liebenden<lb/>
Natur, einer Natur, die in Harmonie mit sich selbst ist. ausgesöhnt mit der<lb/>
Welt und ihrer Armseligkeit und ihren Widersprüchen, ja eben in diesen Wider-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_61" place="foot"> *) Aandell häuft solche Zitate, aus denen sich nur die häufige Verstimmung CarlyleS<lb/>
über die Dunkelheiten der deutschen Philosophie, aber nichts über den tatsächlich wirksamen<lb/>
Einfluß der deutschen Ideen ergibt.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0132] Vor deutsche Idealismus gelegentlich geradezu als fressendeKrankheitbezeichnete*). Jmletzten Grunde empfand er sich den deutschen Fachphilosophen gegenüber doch immer als den nüchternen Angelsachsen mit den gesunden Wirklichkeitsinstinkten; für ihre komplizierteren Gedankengänge besaß er schwerlich die Aufnahmefähigkeit. Er war geradezu unfähig zur fortgesetzten Abstraktion; begreiflich also, daß er sich lieber an die poetische Wiedergabe der idealistischen Grundgedanken hielt, als an die spröderen Originalwerke der Philosophen, die dem Ausländer ja auch sprachlich ungeheure Schwierigkeiten boten. Zuerst gewann die Persönlichkeit Schillers sein lebhaftes Interesse! dieser reine, edle Geist, der sich aus mühseligen und verworrenen Anfängen, aus äußeren und inneren Nöten mit siegreicher Kraft durchgerungen hatte zu „sonniger Klarheit". Carlyle sand in diesem Lebensschicksal sein eigenes teilweise wieder und verfolgte mit Bewunderung, wie es Schiller gelungen war, „sich eigene moralische Überzeugungen zu bilden, unabhängig von Glaubensartikeln und Kirchen", und fo die Nöte des Irdischen durch den Geist zu überwinden. Aber bald genügte ihm dieses Vorbild nicht mehr; da der Poet aus der Gebundenheit der Natur in das Reich der Ideen und der Freiheit hinüberflüchtete, schien er den Boden der Wirklichkeit gänzlich unter den Füßen zu verlieren. Der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit blieb unüberbrückt und trat dem Dichter selbst oft schmerzlich vor die Seele. Carlyle aber suchte ja gerade diesen Gegensatz, den er selbst als feindlichen Widerspruch des „Ich" gegen die Welt empfand, in einer höheren Einheit zu überwinden. Die ästhetische Metaphysik, mit der Schiller die Klust zu überbauen versuchte, die Auflösung des Sinnlichen in die Welt des „schönen Scheins", konnte den starken Wirklichkeitssinn des Schotten nicht befriedigen; für eine rein ästhetische Betrachtung der Welt fehlte ihm über¬ dies jedes Organ. Tiefer und dauernder war schon der Einfluß, den er von Jean Paul Richter empfing. Hier fand er einen tiefen Sinn für die Mannigfaltigkeit und Schönheit der wirklichen Dinge, für den lebendigen Reiz gerade auch des Kleinen und Kleinsten, überstrahlt und durchleuchtet von einer idealen Auffassung der Welt im Ganzen. Die romantische Ironie, das Bewußtsein des souveränen Geistes von seiner Überlegenheit über die Welt der äußeren Dinge ist bei Jean Paul zu einem warmen Humor verklärt; die großen Nöte und Widersprüche des Lebens werden darin nicht aufgelöst, aber doch für das Gefühl dadurch über¬ wunden, daß sie in ihrer bloßen künstlerischen Kontrastwirkung erfaßt sind. Das Wesen dieses Humors hat Carlyle vollkommen begriffen: „Es ist in der Tat die Blume und der Duft, der reinste Ausfluß einer tiefen, schönen, liebenden Natur, einer Natur, die in Harmonie mit sich selbst ist. ausgesöhnt mit der Welt und ihrer Armseligkeit und ihren Widersprüchen, ja eben in diesen Wider- *) Aandell häuft solche Zitate, aus denen sich nur die häufige Verstimmung CarlyleS über die Dunkelheiten der deutschen Philosophie, aber nichts über den tatsächlich wirksamen Einfluß der deutschen Ideen ergibt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/132
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/132>, abgerufen am 22.07.2024.