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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

noch ebenso wenig Hoffnung auf einen äußeren Unterhalt bot, wie zuvor, den die
anstrengende Geistesarbeit seelisch und körperlich zerrüttete? Nein, mußte er sich
selbst antworten: "Wenn das, was du Glück nennst, unser wahres Ziel ist,
dann gehen wir alle irre."

So erwacht in ihm zuerst der Trotz gegen das Schicksal --, der wilde,
ungebändigte Trotz des schottischen Bauernsohnes, der sich auflehnt gegen
ungerechte Zwangsherrschaft. Man hat seinem Lebensroman, dem sartor
Nesartus, oft jene Szene von Leith Wall nacherzählt, wo der von bösen
Dämonen Verfolgte endlich "den Teufel authentisch bei der Nase nahm", wo
sich die geistige Revolution seines Lebens vollzog: "Wovor fürchtest du dich
eigentlich? Verächtlicher Zweifüßler! Was ist die Summe des Schlimmsten,
das dich treffen kann? Tod? Wohlan, Tod, und sage auch die Qualen des
Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel wider dich tun kann
und will! -- Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und also ein
Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, Topsel selbst unter die Füße treten,
während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen
und Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger
Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer
ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke, ein Geist, fast ein Gott." Also der
Wille zur freien, schöpferischen Tat besiegt in gewaltsamer Explosion den Wider¬
spruch des Verstandes: das Ich empfindet sich als Kraftquelle und verwirft den
Gedanken der kausalen Gebundenheit des seelischen Geschehens.

Höchst bezeichnend für Carlyles Denken ist die besondere Art, wie er diese
Revolution vollzog. Der Vergleich mit einem ganz ähnlichen Erlebnis, das
Fichte als sein eigenes schildert*), zeigt den charakteristischen Unterschied der
beiden Denker: dem deutschen Philosophen erwächst sofort ein neues Gedanken¬
system aus der Grundentscheidung seines Willens; bei Carlyle kommt zunächst
nur eine heftige Gemütsbewegung zum Vorschein: ein "grimmiger, feuersprühender
Haß" gegen die Welt des toten Mechanismus. Die Absage an das "ewige
Nein" führt noch nicht zu einem "ewigen Ja". Der Schaffensdrang des ori¬
ginalen Geistes, bisher gelähmt bis zur Verzweiflung an der eigenen Kraft, ver¬
langt stürmisch nach einer neuen Weltansicht, die ihm Raum lassen soll zu freier
Betätigung. Aber vorerst ist nur das Verlangen da; noch immer lehrt der Ver¬
stand die Welt als einen großen Mechanismus betrachten; in rätselhaften Dunkel
liegt der Zusammenhang, in dem das Ich der Welt gegenübersteht; vorläufig
ist nur der feindliche Gegensatz offenbar geworden. Die Zukunft muß erst an
den Tag bringen, ob der neue Wille zur Freiheit auch die geistige Kraft mit
sich führt, sich diese Freiheit von der Welt des Verstandes zu erobern, das
alle Weltbild durch ein neues zu überwinden. /





*) "Bestimmung des Menschen." Fichtes hamel. Werke (Berlin 1846) 11, 253 und 264.
Der deutsche Idealismus

noch ebenso wenig Hoffnung auf einen äußeren Unterhalt bot, wie zuvor, den die
anstrengende Geistesarbeit seelisch und körperlich zerrüttete? Nein, mußte er sich
selbst antworten: „Wenn das, was du Glück nennst, unser wahres Ziel ist,
dann gehen wir alle irre."

So erwacht in ihm zuerst der Trotz gegen das Schicksal —, der wilde,
ungebändigte Trotz des schottischen Bauernsohnes, der sich auflehnt gegen
ungerechte Zwangsherrschaft. Man hat seinem Lebensroman, dem sartor
Nesartus, oft jene Szene von Leith Wall nacherzählt, wo der von bösen
Dämonen Verfolgte endlich „den Teufel authentisch bei der Nase nahm", wo
sich die geistige Revolution seines Lebens vollzog: „Wovor fürchtest du dich
eigentlich? Verächtlicher Zweifüßler! Was ist die Summe des Schlimmsten,
das dich treffen kann? Tod? Wohlan, Tod, und sage auch die Qualen des
Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel wider dich tun kann
und will! — Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und also ein
Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, Topsel selbst unter die Füße treten,
während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen
und Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger
Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer
ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke, ein Geist, fast ein Gott." Also der
Wille zur freien, schöpferischen Tat besiegt in gewaltsamer Explosion den Wider¬
spruch des Verstandes: das Ich empfindet sich als Kraftquelle und verwirft den
Gedanken der kausalen Gebundenheit des seelischen Geschehens.

Höchst bezeichnend für Carlyles Denken ist die besondere Art, wie er diese
Revolution vollzog. Der Vergleich mit einem ganz ähnlichen Erlebnis, das
Fichte als sein eigenes schildert*), zeigt den charakteristischen Unterschied der
beiden Denker: dem deutschen Philosophen erwächst sofort ein neues Gedanken¬
system aus der Grundentscheidung seines Willens; bei Carlyle kommt zunächst
nur eine heftige Gemütsbewegung zum Vorschein: ein „grimmiger, feuersprühender
Haß" gegen die Welt des toten Mechanismus. Die Absage an das „ewige
Nein" führt noch nicht zu einem „ewigen Ja". Der Schaffensdrang des ori¬
ginalen Geistes, bisher gelähmt bis zur Verzweiflung an der eigenen Kraft, ver¬
langt stürmisch nach einer neuen Weltansicht, die ihm Raum lassen soll zu freier
Betätigung. Aber vorerst ist nur das Verlangen da; noch immer lehrt der Ver¬
stand die Welt als einen großen Mechanismus betrachten; in rätselhaften Dunkel
liegt der Zusammenhang, in dem das Ich der Welt gegenübersteht; vorläufig
ist nur der feindliche Gegensatz offenbar geworden. Die Zukunft muß erst an
den Tag bringen, ob der neue Wille zur Freiheit auch die geistige Kraft mit
sich führt, sich diese Freiheit von der Welt des Verstandes zu erobern, das
alle Weltbild durch ein neues zu überwinden. /





*) „Bestimmung des Menschen." Fichtes hamel. Werke (Berlin 1846) 11, 253 und 264.
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[0130] Der deutsche Idealismus noch ebenso wenig Hoffnung auf einen äußeren Unterhalt bot, wie zuvor, den die anstrengende Geistesarbeit seelisch und körperlich zerrüttete? Nein, mußte er sich selbst antworten: „Wenn das, was du Glück nennst, unser wahres Ziel ist, dann gehen wir alle irre." So erwacht in ihm zuerst der Trotz gegen das Schicksal —, der wilde, ungebändigte Trotz des schottischen Bauernsohnes, der sich auflehnt gegen ungerechte Zwangsherrschaft. Man hat seinem Lebensroman, dem sartor Nesartus, oft jene Szene von Leith Wall nacherzählt, wo der von bösen Dämonen Verfolgte endlich „den Teufel authentisch bei der Nase nahm", wo sich die geistige Revolution seines Lebens vollzog: „Wovor fürchtest du dich eigentlich? Verächtlicher Zweifüßler! Was ist die Summe des Schlimmsten, das dich treffen kann? Tod? Wohlan, Tod, und sage auch die Qualen des Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel wider dich tun kann und will! — Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und also ein Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, Topsel selbst unter die Füße treten, während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen und Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke, ein Geist, fast ein Gott." Also der Wille zur freien, schöpferischen Tat besiegt in gewaltsamer Explosion den Wider¬ spruch des Verstandes: das Ich empfindet sich als Kraftquelle und verwirft den Gedanken der kausalen Gebundenheit des seelischen Geschehens. Höchst bezeichnend für Carlyles Denken ist die besondere Art, wie er diese Revolution vollzog. Der Vergleich mit einem ganz ähnlichen Erlebnis, das Fichte als sein eigenes schildert*), zeigt den charakteristischen Unterschied der beiden Denker: dem deutschen Philosophen erwächst sofort ein neues Gedanken¬ system aus der Grundentscheidung seines Willens; bei Carlyle kommt zunächst nur eine heftige Gemütsbewegung zum Vorschein: ein „grimmiger, feuersprühender Haß" gegen die Welt des toten Mechanismus. Die Absage an das „ewige Nein" führt noch nicht zu einem „ewigen Ja". Der Schaffensdrang des ori¬ ginalen Geistes, bisher gelähmt bis zur Verzweiflung an der eigenen Kraft, ver¬ langt stürmisch nach einer neuen Weltansicht, die ihm Raum lassen soll zu freier Betätigung. Aber vorerst ist nur das Verlangen da; noch immer lehrt der Ver¬ stand die Welt als einen großen Mechanismus betrachten; in rätselhaften Dunkel liegt der Zusammenhang, in dem das Ich der Welt gegenübersteht; vorläufig ist nur der feindliche Gegensatz offenbar geworden. Die Zukunft muß erst an den Tag bringen, ob der neue Wille zur Freiheit auch die geistige Kraft mit sich führt, sich diese Freiheit von der Welt des Verstandes zu erobern, das alle Weltbild durch ein neues zu überwinden. / *) „Bestimmung des Menschen." Fichtes hamel. Werke (Berlin 1846) 11, 253 und 264.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/130>, abgerufen am 03.07.2024.