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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Wirtschaft

bewußtsein der Arbeiter sich bei uns schroffer, doktrinärer äußerte, als in anderen
Ländern, und weil das Spielen mit der revolutionären Phrase auf ver einen
Seite, der unbeugsam festgehaltene Herrenstandpunkt auf der anderen, der Seite
der Unternehmer, zu einem unversöhnlichen Gegensatz führte. Nach der Be¬
seitigung des Sozialistengesetzes sind die Verhältnisse besser geworden. Viel
haben dazu die verständigen sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmen des
Reiches, sowohl die eigentliche Arbeiterversicherung, das Ruhmesblatt Deutsch¬
lands, als die Schutzvorschriften der Gewerbeordnung gegen Lohndrückerei,
Überstunden, Frauen- und Kinderarbeit, die Bestimmungen über Arbeitsordnung
und den sanitären Schutz der Arbeiter getan. Noch aber ist eine dauernde
Harmonie der Interessen -- soweit sie überhaupt möglich ist -- nicht gesichert.
Die großen Arbeitgeberverbände stehen im großen und ganzen den Gewerk¬
schaften und Verbänden der Arbeiter abhold gegenüber. Eine allgemeine An¬
erkennung der Tarifverträge oder gar des kollektiven Arbeitsvertrags ist noch
ein Postulat der Zukunft.

So wichtig nun auch die Regelung der unmittelbaren wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse des vierten Standes ist, so reicht doch der Einfluß der Industrie auf
die Bevölkerung weiter. Denn die Industrie braucht Hände, viel Hände.
Die wachsenden Unternehmungen ziehen Arbeitskräfte an sich, wo sie dieselben
finden können. Es entsteht eine völlige Verschiebung in der Zusammensetzung
des Volkskörpers, jene Loslösung der Landbevölkerung von der Scholle und
Verwandlung der Bauern und Kleinsassen in Industriearbeiter, die eine ge¬
waltige politische Umwälzung bedeutet und von weittragenden Folgen begleitet ist.
Auf dem durch den Wegzug der Arbeiter entblößten Lande entsteht die Leutenot, der
durch Heranziehung billiger ausländischer Saisonarbeiter nur schlecht und mit
schweren Nachteilen abgeholfen werden kann. In den Städten und in den Revieren
der Kohlen- und Eisenindustrie drängt sich die Bevölkerung zusammen. Die Städte
wachsen mit hypertrophischer Geschwindigkeit auf das Vielfache ihres bisherigen Um¬
fangs. Neben die vier Millionenstadt Groß-Berlin treten fünfzig andere Großstädte,
darunter mehr als fünfzehn mit über 250 000 Einwohnern. Während vor
dreißig Jahren noch die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig
war, ist es heute nur noch ein Viertel; das Problem der inneren Kolonisation
tut sich auf. Und in den Städten führt die Zusammenballung der Bevölkerung
zu anderen Mißständen und Schwierigkeiten. Steigerung der Bodenrenke,
Grundstücks- und Bauspekulation schaffen die Wohnungsfrage, deren Lösung eine der
dringlichsten Aufgaben ist, wenn nicht die in den Großstädten zusammengepferchte
Bevölkerung körperlich und sittlich zugrunde gehen soll. Das gedrängte
Wohnen der Bevölkerung schafft noch andere Probleme: es belastet die Gemeinden
mit kommunalen Aufgaben bisher unerhörten Umfanges. Die Kommune wird
zusehends aus einer öffentlich rechtlichen Körperschaft mit bloßen Verwaltungs¬
befugnissen umgewandelt in eine solche mit den bedeutendsten und verschieden¬
artigsten gemeinwirtschaftlichen Zielen. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke,


Politik und Wirtschaft

bewußtsein der Arbeiter sich bei uns schroffer, doktrinärer äußerte, als in anderen
Ländern, und weil das Spielen mit der revolutionären Phrase auf ver einen
Seite, der unbeugsam festgehaltene Herrenstandpunkt auf der anderen, der Seite
der Unternehmer, zu einem unversöhnlichen Gegensatz führte. Nach der Be¬
seitigung des Sozialistengesetzes sind die Verhältnisse besser geworden. Viel
haben dazu die verständigen sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmen des
Reiches, sowohl die eigentliche Arbeiterversicherung, das Ruhmesblatt Deutsch¬
lands, als die Schutzvorschriften der Gewerbeordnung gegen Lohndrückerei,
Überstunden, Frauen- und Kinderarbeit, die Bestimmungen über Arbeitsordnung
und den sanitären Schutz der Arbeiter getan. Noch aber ist eine dauernde
Harmonie der Interessen — soweit sie überhaupt möglich ist — nicht gesichert.
Die großen Arbeitgeberverbände stehen im großen und ganzen den Gewerk¬
schaften und Verbänden der Arbeiter abhold gegenüber. Eine allgemeine An¬
erkennung der Tarifverträge oder gar des kollektiven Arbeitsvertrags ist noch
ein Postulat der Zukunft.

So wichtig nun auch die Regelung der unmittelbaren wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse des vierten Standes ist, so reicht doch der Einfluß der Industrie auf
die Bevölkerung weiter. Denn die Industrie braucht Hände, viel Hände.
Die wachsenden Unternehmungen ziehen Arbeitskräfte an sich, wo sie dieselben
finden können. Es entsteht eine völlige Verschiebung in der Zusammensetzung
des Volkskörpers, jene Loslösung der Landbevölkerung von der Scholle und
Verwandlung der Bauern und Kleinsassen in Industriearbeiter, die eine ge¬
waltige politische Umwälzung bedeutet und von weittragenden Folgen begleitet ist.
Auf dem durch den Wegzug der Arbeiter entblößten Lande entsteht die Leutenot, der
durch Heranziehung billiger ausländischer Saisonarbeiter nur schlecht und mit
schweren Nachteilen abgeholfen werden kann. In den Städten und in den Revieren
der Kohlen- und Eisenindustrie drängt sich die Bevölkerung zusammen. Die Städte
wachsen mit hypertrophischer Geschwindigkeit auf das Vielfache ihres bisherigen Um¬
fangs. Neben die vier Millionenstadt Groß-Berlin treten fünfzig andere Großstädte,
darunter mehr als fünfzehn mit über 250 000 Einwohnern. Während vor
dreißig Jahren noch die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig
war, ist es heute nur noch ein Viertel; das Problem der inneren Kolonisation
tut sich auf. Und in den Städten führt die Zusammenballung der Bevölkerung
zu anderen Mißständen und Schwierigkeiten. Steigerung der Bodenrenke,
Grundstücks- und Bauspekulation schaffen die Wohnungsfrage, deren Lösung eine der
dringlichsten Aufgaben ist, wenn nicht die in den Großstädten zusammengepferchte
Bevölkerung körperlich und sittlich zugrunde gehen soll. Das gedrängte
Wohnen der Bevölkerung schafft noch andere Probleme: es belastet die Gemeinden
mit kommunalen Aufgaben bisher unerhörten Umfanges. Die Kommune wird
zusehends aus einer öffentlich rechtlichen Körperschaft mit bloßen Verwaltungs¬
befugnissen umgewandelt in eine solche mit den bedeutendsten und verschieden¬
artigsten gemeinwirtschaftlichen Zielen. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke,


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[0122] Politik und Wirtschaft bewußtsein der Arbeiter sich bei uns schroffer, doktrinärer äußerte, als in anderen Ländern, und weil das Spielen mit der revolutionären Phrase auf ver einen Seite, der unbeugsam festgehaltene Herrenstandpunkt auf der anderen, der Seite der Unternehmer, zu einem unversöhnlichen Gegensatz führte. Nach der Be¬ seitigung des Sozialistengesetzes sind die Verhältnisse besser geworden. Viel haben dazu die verständigen sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmen des Reiches, sowohl die eigentliche Arbeiterversicherung, das Ruhmesblatt Deutsch¬ lands, als die Schutzvorschriften der Gewerbeordnung gegen Lohndrückerei, Überstunden, Frauen- und Kinderarbeit, die Bestimmungen über Arbeitsordnung und den sanitären Schutz der Arbeiter getan. Noch aber ist eine dauernde Harmonie der Interessen — soweit sie überhaupt möglich ist — nicht gesichert. Die großen Arbeitgeberverbände stehen im großen und ganzen den Gewerk¬ schaften und Verbänden der Arbeiter abhold gegenüber. Eine allgemeine An¬ erkennung der Tarifverträge oder gar des kollektiven Arbeitsvertrags ist noch ein Postulat der Zukunft. So wichtig nun auch die Regelung der unmittelbaren wirtschaftlichen Ver¬ hältnisse des vierten Standes ist, so reicht doch der Einfluß der Industrie auf die Bevölkerung weiter. Denn die Industrie braucht Hände, viel Hände. Die wachsenden Unternehmungen ziehen Arbeitskräfte an sich, wo sie dieselben finden können. Es entsteht eine völlige Verschiebung in der Zusammensetzung des Volkskörpers, jene Loslösung der Landbevölkerung von der Scholle und Verwandlung der Bauern und Kleinsassen in Industriearbeiter, die eine ge¬ waltige politische Umwälzung bedeutet und von weittragenden Folgen begleitet ist. Auf dem durch den Wegzug der Arbeiter entblößten Lande entsteht die Leutenot, der durch Heranziehung billiger ausländischer Saisonarbeiter nur schlecht und mit schweren Nachteilen abgeholfen werden kann. In den Städten und in den Revieren der Kohlen- und Eisenindustrie drängt sich die Bevölkerung zusammen. Die Städte wachsen mit hypertrophischer Geschwindigkeit auf das Vielfache ihres bisherigen Um¬ fangs. Neben die vier Millionenstadt Groß-Berlin treten fünfzig andere Großstädte, darunter mehr als fünfzehn mit über 250 000 Einwohnern. Während vor dreißig Jahren noch die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war, ist es heute nur noch ein Viertel; das Problem der inneren Kolonisation tut sich auf. Und in den Städten führt die Zusammenballung der Bevölkerung zu anderen Mißständen und Schwierigkeiten. Steigerung der Bodenrenke, Grundstücks- und Bauspekulation schaffen die Wohnungsfrage, deren Lösung eine der dringlichsten Aufgaben ist, wenn nicht die in den Großstädten zusammengepferchte Bevölkerung körperlich und sittlich zugrunde gehen soll. Das gedrängte Wohnen der Bevölkerung schafft noch andere Probleme: es belastet die Gemeinden mit kommunalen Aufgaben bisher unerhörten Umfanges. Die Kommune wird zusehends aus einer öffentlich rechtlichen Körperschaft mit bloßen Verwaltungs¬ befugnissen umgewandelt in eine solche mit den bedeutendsten und verschieden¬ artigsten gemeinwirtschaftlichen Zielen. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/122>, abgerufen am 22.07.2024.