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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Karl Salzcr

die anderen Reisenden ja net merken, die könnten es sonst an die Nerven kriegen.
Jetzert frag ich dich, wer begräbt denn da die Toten? Da ist auch kein Pfarrer
dabei, denn auf den Schiffen sind vorläufig noch keine stationiert. Ein paar
Matrosen werden zum Gebet kommandiert, aber ob sie auch was beten, ist die
andere Frage. Und so ein Begräbnis auf dem Meer kann einem Guten wie
einem Bösen passieren. Ich will damit nur sagen, daß es auf die Form garnet
ankommt; das ist ganz Nebenfach. Wenn dein Vater reumütig gestorben ist,
wenn er eine vollkommene Reue gemacht hat, wenn ihm all seine Sünden leid
getan haben, weil er dadurch den lieben Gott beleidigt hat, dann hat ihm unser
Herrgott seine Sünden vergeben, ob er jetzert vom Pfarrer begraben wird oder
nicht. Hast du das jetzert begriffen, lieber Bub?"

"Ja, Tante Seelchen, das seh ich jetzert auch ein. Aber weißt du, 's ist
halt doch schwer, sich da auf einmal so hineinzufinden, wenn man's die ganze
Zeit anders gewöhnt wart"

"Ja, weißt du, mein lieber Buhl" entgegnet ihm Tante Seelchen, "das ist
mehrstenteils so, daß der Verstand der Menschen in ihren Gewohnheiten einschläft,
und dann machen sie halt so da hinaus, wie's beim Vater war und beim Gro߬
vater und beim Urgroßvater. Und das mußt du dir ein für allemal merken:
alles Unglück, das über einem kommt, soll man auffassen als eine Schickung
Gottes. Das sagt auch der Pfarrer in der Predigt. Aber da meint er mehrstens,
die Leut sollten net brummen und net schimpfen, sie sollten halt einfach das Maul
hallen und höchstens noch beten. Gewiß soll man das, beim Beten wächst das
Herz. Vor allen Dingen soll man aber lernen, unsern Herrgott zu verstehen.
Man soll aus dem Unglück sich etwas für seine eigene Seel herauslesen, daß sie
tiefer wird und mit der Zeit Sinn und Verstand in den Fügungen Gottes begreift.
So mußt du's auch machen. Wenn man erst mal so weit ist, daß man sich durch
das Unglück net verbittern läßt, spürt man schon bald einen großen Gewinn.
Und wenn er nur darin bestehen tat, daß man nicht kopflos dasteht, wenn ein
neues Unheil über einem kommt. Kannst du mir das nachfühlen?"

"Noch net alles I" antwortet Karl, "noch net alles, Tante Seelchen, aber ich
glaub fest, daß du recht hast, weil ich seh, daß du aus deinen Erfahrungen sprichstI"

"Na ja, dann folg mir auch mal schön und tu, was ich dir sagt"

Auf diese Mahnung stöhnt Karl mit gepreßtem Atem:

"Ja, Tante Seelchen, ja, ich Willi"

Dann aber schweigen sie.

Die Küchenlampe singt leise. In der Scheuer und in der Werkstätte zirpen
die Grillen, heute wie alle Tage. Aus der Ferne hört man das Dengeln der
Sensen. Sonst hörte man's ganz nahe, nämlich von draußen auf dem Hofe.
Verloren kräht hie und da ein Hahn.

Die zwei Menschen aber sitzen stille und sinnen und seufzen manchmal. Dann
sieht eines das andere an. Die Gesichter sind ernst. Bei der Jungfer ist Ge¬
faßtheit dabei, auch Mut; in einem: mutige Ergebenheit. Aber in des Burschen
Antlitz zuckt häufig die Qual der ungereiften, zum erstenmal in ihren Tiefen auf¬
gewühlten Jugend, und dieses Zucken liest sich wie eine Frage an die Gottheit,
wie ein erschütterndes Warum, wie ein verzweifeltes Auswegsuchen. Das weiche
Eisen windet sich unter den Hammerschlägen...


Karl Salzcr

die anderen Reisenden ja net merken, die könnten es sonst an die Nerven kriegen.
Jetzert frag ich dich, wer begräbt denn da die Toten? Da ist auch kein Pfarrer
dabei, denn auf den Schiffen sind vorläufig noch keine stationiert. Ein paar
Matrosen werden zum Gebet kommandiert, aber ob sie auch was beten, ist die
andere Frage. Und so ein Begräbnis auf dem Meer kann einem Guten wie
einem Bösen passieren. Ich will damit nur sagen, daß es auf die Form garnet
ankommt; das ist ganz Nebenfach. Wenn dein Vater reumütig gestorben ist,
wenn er eine vollkommene Reue gemacht hat, wenn ihm all seine Sünden leid
getan haben, weil er dadurch den lieben Gott beleidigt hat, dann hat ihm unser
Herrgott seine Sünden vergeben, ob er jetzert vom Pfarrer begraben wird oder
nicht. Hast du das jetzert begriffen, lieber Bub?"

„Ja, Tante Seelchen, das seh ich jetzert auch ein. Aber weißt du, 's ist
halt doch schwer, sich da auf einmal so hineinzufinden, wenn man's die ganze
Zeit anders gewöhnt wart"

„Ja, weißt du, mein lieber Buhl" entgegnet ihm Tante Seelchen, „das ist
mehrstenteils so, daß der Verstand der Menschen in ihren Gewohnheiten einschläft,
und dann machen sie halt so da hinaus, wie's beim Vater war und beim Gro߬
vater und beim Urgroßvater. Und das mußt du dir ein für allemal merken:
alles Unglück, das über einem kommt, soll man auffassen als eine Schickung
Gottes. Das sagt auch der Pfarrer in der Predigt. Aber da meint er mehrstens,
die Leut sollten net brummen und net schimpfen, sie sollten halt einfach das Maul
hallen und höchstens noch beten. Gewiß soll man das, beim Beten wächst das
Herz. Vor allen Dingen soll man aber lernen, unsern Herrgott zu verstehen.
Man soll aus dem Unglück sich etwas für seine eigene Seel herauslesen, daß sie
tiefer wird und mit der Zeit Sinn und Verstand in den Fügungen Gottes begreift.
So mußt du's auch machen. Wenn man erst mal so weit ist, daß man sich durch
das Unglück net verbittern läßt, spürt man schon bald einen großen Gewinn.
Und wenn er nur darin bestehen tat, daß man nicht kopflos dasteht, wenn ein
neues Unheil über einem kommt. Kannst du mir das nachfühlen?"

„Noch net alles I" antwortet Karl, „noch net alles, Tante Seelchen, aber ich
glaub fest, daß du recht hast, weil ich seh, daß du aus deinen Erfahrungen sprichstI"

„Na ja, dann folg mir auch mal schön und tu, was ich dir sagt"

Auf diese Mahnung stöhnt Karl mit gepreßtem Atem:

„Ja, Tante Seelchen, ja, ich Willi"

Dann aber schweigen sie.

Die Küchenlampe singt leise. In der Scheuer und in der Werkstätte zirpen
die Grillen, heute wie alle Tage. Aus der Ferne hört man das Dengeln der
Sensen. Sonst hörte man's ganz nahe, nämlich von draußen auf dem Hofe.
Verloren kräht hie und da ein Hahn.

Die zwei Menschen aber sitzen stille und sinnen und seufzen manchmal. Dann
sieht eines das andere an. Die Gesichter sind ernst. Bei der Jungfer ist Ge¬
faßtheit dabei, auch Mut; in einem: mutige Ergebenheit. Aber in des Burschen
Antlitz zuckt häufig die Qual der ungereiften, zum erstenmal in ihren Tiefen auf¬
gewühlten Jugend, und dieses Zucken liest sich wie eine Frage an die Gottheit,
wie ein erschütterndes Warum, wie ein verzweifeltes Auswegsuchen. Das weiche
Eisen windet sich unter den Hammerschlägen...


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/94>, abgerufen am 15.01.2025.