Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Lucher und Jesuit das in unbeholfenen, aber unverkennbaren Ansätzen zum Ausdruck. -- Es kann So schreitet Grisar durch Luthers Leben mit dem Sünden- und Tugend¬ Lucher und Jesuit das in unbeholfenen, aber unverkennbaren Ansätzen zum Ausdruck. — Es kann So schreitet Grisar durch Luthers Leben mit dem Sünden- und Tugend¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322473"/> <fw type="header" place="top"> Lucher und Jesuit</fw><lb/> <p xml:id="ID_273" prev="#ID_272"> das in unbeholfenen, aber unverkennbaren Ansätzen zum Ausdruck. — Es kann<lb/> nicht fehlen, daß Grisar auch den Politiker Luther den bestehenden Gewalten<lb/> zur dringenden Beachtung vorstellt. Die katholische Kirche ist zwar als ganze<lb/> politisch auch anarchistisch; aber ihre Autoritäten gewähren den politischen, die<lb/> ihre Bedingungen annehmen, doch so lange Rückhalt, als sie selbst ihre An¬<lb/> erkennung behaupten. Für den Augenblick zum mindesten scheinen die Staats¬<lb/> gewalten bei der katholischen Lehre zu gewinnen und Luther scheint für die<lb/> Aufrührer auch unserer Tage die Waffen zu liefern. Darum präsentiert Grisar<lb/> die Grundsätze der katholischen Kirche als Rettung vor Luther in demselben<lb/> Sinne, in dem sie der letzte Katholikentag als Rettung vor der Sozialdemokratie<lb/> anbot.</p><lb/> <p xml:id="ID_274" next="#ID_275"> So schreitet Grisar durch Luthers Leben mit dem Sünden- und Tugend¬<lb/> maßstab beider Kirchen. Er mag sehen, auf wen er damit wirkt. Unsere Auf¬<lb/> gabe ist es hier nicht, die Lebensbäche zu erschließen, die in Luthers Gottes-<lb/> findung zum erstenmal finden. Er fand, wie schon angedeutet, den Gott, der in den<lb/> Körpern wohnt, und darum wurde ihm alles neu. Der unsinnliche Gott erwies sich<lb/> ihm, wie das Wort es sagt, als sinnlos; der Gott der Welt erfüllte ihm, was<lb/> die religiösen Vorbildes der Vergangenheit beschrieben. Das hindert die Pro¬<lb/> testanten am Verständnis, daß sie von neuen Glaubenserfahrungen Luthers reden<lb/> wollen und nicht von einem neuen Gott. In das Glück dieses Glaubens ist<lb/> Grisar nicht hinabgestiegen; aber dazu hat er es gebracht, den Protestanten ihre<lb/> ganze Hilflosigkeit an ihrer entscheidenden Kirchenlehre, dem Rechtfertigungs¬<lb/> dogma, zu zeige«. Es hilft alles nichts. Kein Protestant hat bis heute erklärt,<lb/> was bei der Rechtfertigung vor sich geht. Zuerst bin ich Sünder und dann<lb/> ein Gerechter: was ist dabei an mir für eine Veränderung vorgegangen? Hier<lb/> liegt der Schlüssel des Lutherverständnisses. Die Theologie spricht vom ein¬<lb/> fachen Hinnehmen der Gnade. Aber sie bleibt die Erklärung schuldig, wie es<lb/> geschieht, daß durch dieses Nehmen der Mensch, der ein Sünder war, nun ein<lb/> Gerechter wird. Man muß eine Veränderung bei Luther erkennen, sonst fehlt<lb/> an der Einsicht in das, um was er im Grunde den Kampf seines Lebens führte,<lb/> nicht weniger als alles. Grisar fand die Antwort auch nicht; aber die Pro¬<lb/> testanten müssen es sich gefallen lassen, daß er über die Theorie der von ihm<lb/> als rein äußerlich bezeichneten Gnadenzurechnung den ganzen Spott scheinbarer<lb/> Überlegenheit ausgießt. Sie ist ihm das Verzweiflungserzeugnis eines verwirrten<lb/> und im Trotz versteiften Kopfes. Die Protestanten halten dem immer das<lb/> unbeirrbare Gefühl entgegen, daß auf der Gegenseite niemand weiß, was Gottes<lb/> Gnade ist. Sehr richtig; sie brauchen bloß weiter zu schließen, daß infolgedessen dort<lb/> niemand weiß, was Gott ist. Brachte also Luther eine neue Gnadenlehre, so<lb/> brachte er die Lehre von einem anderen Gott. Solange der Protestantismus<lb/> am Urgott des Katholizismus festhält, kann er auch keine wirkliche Gnaden¬<lb/> lehre gewinnen, muß es sich aber sagen lassen, daß nach seinem Verständnis<lb/> von Luther und Paulus Gott weiter nichts als einen Spaß mit sich macht,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0072]
Lucher und Jesuit
das in unbeholfenen, aber unverkennbaren Ansätzen zum Ausdruck. — Es kann
nicht fehlen, daß Grisar auch den Politiker Luther den bestehenden Gewalten
zur dringenden Beachtung vorstellt. Die katholische Kirche ist zwar als ganze
politisch auch anarchistisch; aber ihre Autoritäten gewähren den politischen, die
ihre Bedingungen annehmen, doch so lange Rückhalt, als sie selbst ihre An¬
erkennung behaupten. Für den Augenblick zum mindesten scheinen die Staats¬
gewalten bei der katholischen Lehre zu gewinnen und Luther scheint für die
Aufrührer auch unserer Tage die Waffen zu liefern. Darum präsentiert Grisar
die Grundsätze der katholischen Kirche als Rettung vor Luther in demselben
Sinne, in dem sie der letzte Katholikentag als Rettung vor der Sozialdemokratie
anbot.
So schreitet Grisar durch Luthers Leben mit dem Sünden- und Tugend¬
maßstab beider Kirchen. Er mag sehen, auf wen er damit wirkt. Unsere Auf¬
gabe ist es hier nicht, die Lebensbäche zu erschließen, die in Luthers Gottes-
findung zum erstenmal finden. Er fand, wie schon angedeutet, den Gott, der in den
Körpern wohnt, und darum wurde ihm alles neu. Der unsinnliche Gott erwies sich
ihm, wie das Wort es sagt, als sinnlos; der Gott der Welt erfüllte ihm, was
die religiösen Vorbildes der Vergangenheit beschrieben. Das hindert die Pro¬
testanten am Verständnis, daß sie von neuen Glaubenserfahrungen Luthers reden
wollen und nicht von einem neuen Gott. In das Glück dieses Glaubens ist
Grisar nicht hinabgestiegen; aber dazu hat er es gebracht, den Protestanten ihre
ganze Hilflosigkeit an ihrer entscheidenden Kirchenlehre, dem Rechtfertigungs¬
dogma, zu zeige«. Es hilft alles nichts. Kein Protestant hat bis heute erklärt,
was bei der Rechtfertigung vor sich geht. Zuerst bin ich Sünder und dann
ein Gerechter: was ist dabei an mir für eine Veränderung vorgegangen? Hier
liegt der Schlüssel des Lutherverständnisses. Die Theologie spricht vom ein¬
fachen Hinnehmen der Gnade. Aber sie bleibt die Erklärung schuldig, wie es
geschieht, daß durch dieses Nehmen der Mensch, der ein Sünder war, nun ein
Gerechter wird. Man muß eine Veränderung bei Luther erkennen, sonst fehlt
an der Einsicht in das, um was er im Grunde den Kampf seines Lebens führte,
nicht weniger als alles. Grisar fand die Antwort auch nicht; aber die Pro¬
testanten müssen es sich gefallen lassen, daß er über die Theorie der von ihm
als rein äußerlich bezeichneten Gnadenzurechnung den ganzen Spott scheinbarer
Überlegenheit ausgießt. Sie ist ihm das Verzweiflungserzeugnis eines verwirrten
und im Trotz versteiften Kopfes. Die Protestanten halten dem immer das
unbeirrbare Gefühl entgegen, daß auf der Gegenseite niemand weiß, was Gottes
Gnade ist. Sehr richtig; sie brauchen bloß weiter zu schließen, daß infolgedessen dort
niemand weiß, was Gott ist. Brachte also Luther eine neue Gnadenlehre, so
brachte er die Lehre von einem anderen Gott. Solange der Protestantismus
am Urgott des Katholizismus festhält, kann er auch keine wirkliche Gnaden¬
lehre gewinnen, muß es sich aber sagen lassen, daß nach seinem Verständnis
von Luther und Paulus Gott weiter nichts als einen Spaß mit sich macht,
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