Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Aus der Uimstlcrschcift des sterbenden Rokoko druck des Hohnes" und "der Ausdruck des Hohnes mit einem Zuge des Ver¬ Zunächst ist sein Realismus bewußte Reaktion gegen die seine Zeit noch Aus der Uimstlcrschcift des sterbenden Rokoko druck des Hohnes" und „der Ausdruck des Hohnes mit einem Zuge des Ver¬ Zunächst ist sein Realismus bewußte Reaktion gegen die seine Zeit noch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0638" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323040"/> <fw type="header" place="top"> Aus der Uimstlcrschcift des sterbenden Rokoko</fw><lb/> <p xml:id="ID_3107" prev="#ID_3106"> druck des Hohnes" und „der Ausdruck des Hohnes mit einem Zuge des Ver¬<lb/> langens nach dem Verhöhnten". Die Köpfe sind in ihrer Mehrzahl der Ausdruck<lb/> eines auf die Spitze getriebenen Naturalismus, einige suchen einem uns sonderbar<lb/> erscheinenden Humor gerecht zu werden, wie der Schafskopf oder der mit Ver¬<lb/> stopfung Behaftete. Jedenfalls waren sie infolge der unglückseligen Art des<lb/> Künstlers, der das Extreme suchte und verwirklichte, mehr Kuriositäten als wirk¬<lb/> liche Kunstwerke. Wer aber möchte die bestimmte Grenze zwischen Kunstwerk und<lb/> Kuriosum ziehen? Das Werk Messerschmidts bleibt bezeichnend für den wichtigen,<lb/> auch heute wiederkehrenden Augenblick, wo Kunst und allgemeine Geisteskultur<lb/> einander nahetreten, befruchten und schädigen. Suchen wir die weiteren Zusammen¬<lb/> hänge, in denen seine Arbeit entstand, zu erfassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3108" next="#ID_3109"> Zunächst ist sein Realismus bewußte Reaktion gegen die seine Zeit noch<lb/> beherrschenden Barockformen. Abgesehen von dem stark satyrischen Grundton, der<lb/> Messerschmidt eigen ist, ist die individualistische Färbung seiner Arbeit das Ergebnis<lb/> eines Zustandes, der sich leicht einstellt, wenn Kunstmethoden zu lange unbeschränkte<lb/> Geltung gehabt haben. Sie verfallen dann meist einer Verallgemeinerung, die<lb/> sie jedem bloß technisch Begabten von selbst zugänglich macht. Freilich liegt auch<lb/> in dem Gegensatz, in den man sich gegenüber der gültigen Kunst einzuleben sucht,<lb/> der Grund der Schwäche solcher Neuerer. Über eine krampfhafte Verzerrung<lb/> bringen sie es nicht hinaus. Hierzu kommt der Mangel an wirklich großen Er-<lb/> lebnissen, wie sie die von Messerschmidt bekämpfte Barockkunst eigentlich voraus-<lb/> setzte, ein Mangel, der schließlich das grübelnd theoretische Denken, nicht zuletzt<lb/> in Osterreich selbst, förderte. Daher rührt auch die damals so häufige Erscheinung<lb/> von Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben, aber in einem für beide Teile<lb/> ungünstigen Sinne. Gerade die Möglichkeit des Wechsels in der praktischen Be-<lb/> tätigung zeigt, wie stark theoretisch das Verhältnis zu Arbeit und Gemeinschaft<lb/> geworden war. Man denke an den Schwärmer Chr. Kaufmann. Er gab sich<lb/> als Künstler, war eine Art Kraftapostel, betätigte sich als philanthropischer Pädagoge<lb/> und endigte als Herrenhuter Gemeindearzt. Ähnliche Vielgeschäftigkeit zeigte Lavater,<lb/> wenn auch bei ihm alles mehr um gewisse religiöse Bedürfnisse gruppiert erscheint;<lb/> aber seine Methoden zur Erfassung des Heiligsten bieten doch das Bild einer<lb/> bedenklich reichen Skala. Vielleicht wurde diese Art, den höchsten religiösen Werten<lb/> nahe zu kommen, mit Vorliebe vom Dilettantismus nach 1770 gepflegt. Das<lb/> rührte wohl daher, daß nach den großen Kirchen selbst die Sekten an innerlichem<lb/> Erleben eingebüßt hatten. Bei Messerschmidt ist zwar, abgesehen von unbestimmten<lb/> Beziehungen zur Freimaurerei (Jlg, „Messerschmidt" S. 39) nicht festzustellen,<lb/> was ihn aus seiner Künstlersphäre herausgelockt hätte. Verglichen mit unseren<lb/> Stürmern und Drängern ist er zeitlebens mehr Künstler geblieben. Gleichwohl<lb/> hat er sich über eine sonderbare Proportionstheorie hinaus, die selbst seinen .Körper<lb/> in Beziehung zu dem zu schaffenden Kopfe setzte, einer Grenzüberschreitung schuldig<lb/> gemacht, als er versuchte, im Geiste der Theorien seines Freundes und Lands¬<lb/> mannes Mesmer zu arbeiten. Mit ihm, nicht mit Lavaters physiognomischen<lb/> Versuchen, was sonst so nahe läge, ist Messerschmidt in Zusammenhang zu bringen.<lb/> So wie Mesmer seelische und physische Empfindungen und Affekte als Ergebnis<lb/> eines magnetischen Fluidums erklärte, so wollte der Künstler nicht nur Charakter¬<lb/> köpfe, sondern auch rein körperliche Zustände zur Darstellung bringen, wie z. B.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0638]
Aus der Uimstlcrschcift des sterbenden Rokoko
druck des Hohnes" und „der Ausdruck des Hohnes mit einem Zuge des Ver¬
langens nach dem Verhöhnten". Die Köpfe sind in ihrer Mehrzahl der Ausdruck
eines auf die Spitze getriebenen Naturalismus, einige suchen einem uns sonderbar
erscheinenden Humor gerecht zu werden, wie der Schafskopf oder der mit Ver¬
stopfung Behaftete. Jedenfalls waren sie infolge der unglückseligen Art des
Künstlers, der das Extreme suchte und verwirklichte, mehr Kuriositäten als wirk¬
liche Kunstwerke. Wer aber möchte die bestimmte Grenze zwischen Kunstwerk und
Kuriosum ziehen? Das Werk Messerschmidts bleibt bezeichnend für den wichtigen,
auch heute wiederkehrenden Augenblick, wo Kunst und allgemeine Geisteskultur
einander nahetreten, befruchten und schädigen. Suchen wir die weiteren Zusammen¬
hänge, in denen seine Arbeit entstand, zu erfassen.
Zunächst ist sein Realismus bewußte Reaktion gegen die seine Zeit noch
beherrschenden Barockformen. Abgesehen von dem stark satyrischen Grundton, der
Messerschmidt eigen ist, ist die individualistische Färbung seiner Arbeit das Ergebnis
eines Zustandes, der sich leicht einstellt, wenn Kunstmethoden zu lange unbeschränkte
Geltung gehabt haben. Sie verfallen dann meist einer Verallgemeinerung, die
sie jedem bloß technisch Begabten von selbst zugänglich macht. Freilich liegt auch
in dem Gegensatz, in den man sich gegenüber der gültigen Kunst einzuleben sucht,
der Grund der Schwäche solcher Neuerer. Über eine krampfhafte Verzerrung
bringen sie es nicht hinaus. Hierzu kommt der Mangel an wirklich großen Er-
lebnissen, wie sie die von Messerschmidt bekämpfte Barockkunst eigentlich voraus-
setzte, ein Mangel, der schließlich das grübelnd theoretische Denken, nicht zuletzt
in Osterreich selbst, förderte. Daher rührt auch die damals so häufige Erscheinung
von Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben, aber in einem für beide Teile
ungünstigen Sinne. Gerade die Möglichkeit des Wechsels in der praktischen Be-
tätigung zeigt, wie stark theoretisch das Verhältnis zu Arbeit und Gemeinschaft
geworden war. Man denke an den Schwärmer Chr. Kaufmann. Er gab sich
als Künstler, war eine Art Kraftapostel, betätigte sich als philanthropischer Pädagoge
und endigte als Herrenhuter Gemeindearzt. Ähnliche Vielgeschäftigkeit zeigte Lavater,
wenn auch bei ihm alles mehr um gewisse religiöse Bedürfnisse gruppiert erscheint;
aber seine Methoden zur Erfassung des Heiligsten bieten doch das Bild einer
bedenklich reichen Skala. Vielleicht wurde diese Art, den höchsten religiösen Werten
nahe zu kommen, mit Vorliebe vom Dilettantismus nach 1770 gepflegt. Das
rührte wohl daher, daß nach den großen Kirchen selbst die Sekten an innerlichem
Erleben eingebüßt hatten. Bei Messerschmidt ist zwar, abgesehen von unbestimmten
Beziehungen zur Freimaurerei (Jlg, „Messerschmidt" S. 39) nicht festzustellen,
was ihn aus seiner Künstlersphäre herausgelockt hätte. Verglichen mit unseren
Stürmern und Drängern ist er zeitlebens mehr Künstler geblieben. Gleichwohl
hat er sich über eine sonderbare Proportionstheorie hinaus, die selbst seinen .Körper
in Beziehung zu dem zu schaffenden Kopfe setzte, einer Grenzüberschreitung schuldig
gemacht, als er versuchte, im Geiste der Theorien seines Freundes und Lands¬
mannes Mesmer zu arbeiten. Mit ihm, nicht mit Lavaters physiognomischen
Versuchen, was sonst so nahe läge, ist Messerschmidt in Zusammenhang zu bringen.
So wie Mesmer seelische und physische Empfindungen und Affekte als Ergebnis
eines magnetischen Fluidums erklärte, so wollte der Künstler nicht nur Charakter¬
köpfe, sondern auch rein körperliche Zustände zur Darstellung bringen, wie z. B.
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