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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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^Deutschland und die Lalkankrise

bei uns. Was läge da näher, als daß die deutsche und französische Diplomatie
sich einander zunächst über die nächsten Schritte verständigt hätten, die der
jüngsten Lage gegenüber einzuschlagen waren.

Nicht ganz so einfach liegt die Frage bei unseren Bundesgenossen Österreich
und Italien. Vor allen Dingen für Österreich-Ungarn können sich infolge
eines Balkankrieges Möglichkeiten zum Handeln ergeben, die dem kurzsichtigen,
vom Tag lebenden Politiker günstiger erscheinen als es tatsächlich der Fall
wäre. So ließe sich womöglich der Fehler wieder gut machen, der seinerzeit
durch die Räumung des Sandschak begangen wurde; auch der Einfluß Italiens
in Albanien, der übrigens vorwiegend auf dessen Handelsbeziehungen beruht,
ließe sich vielleicht zurückdrängen; aber doch nur vorübergehend, denn der Handel
sucht sich seine Wege nicht gern unter der Führung des Bajonetts. Das
wären Eintagserfolge, die durchaus nicht im Verhältnis zu der Einbuße ständen,
die Österreich - Ungarn durch die alsdann auch unvermeidliche territoriale
Ausdehnung Serbiens und Bulgariens erleiden müßte. So darf denn auch in
Zukunft vom Ballhausplatz her eine Haltung erwartet werden, die zunächst
darauf ausgeht, den Ausbruch eines Balkankrieges zu verhindern und, wenn
solches Bemühen einmal erfolglos bleiben sollte, einen Friedensschluß zu bewirken,
der am 8tatu8 quo auf dem Balkan nichts ändert.

Italien ist in ähnlicher Lage, wenn es auch im gegenwärtigen Augenblick
aus der Notlage der Türkei den meisten Nutzen zu ziehen vermöchte. Eine
Schmälerung des türkischen Besitzstandes auf dem Kontinent durch die kleinen
Valkanstaateu und Österreich-Ungarn in diesem Augenblick hieße für Italien
entweder auf seinen Einfluß in Albanien verzichten oder seine eben eingeleitete
Eroberung in Nordafrika preisgeben. Es läßt sich von hier aus nicht übersehen,
ob es nicht gerade diese Erwägung ist, die die englische Diplomatie veranlaßt hat,
das Feuer auf dem Balkan neu anzufachen, nachdem Italien auf den Beitritt
zu einem englisch-französischen Mittelmeerbund verzichtete. Aber die Wahr¬
scheinlichkeit liegt vor, nachdem es für die Engländer festzustehen scheint, daß
die einzig empfindliche Stelle des Dreibundes dort unten an der Adria zu
finden sei. Die Feststellung, die des früheren russischen Ministerpräsidenten
Stolnpin Bruder in der gewiß nicht deutschfreundlichen Nowoje Wremja macht,
daß nämlich der Angelpunkt der englischen Politik in der Feindschaft Albions
gegen Deutschland zu suchen sei, verstärkt die Wahrscheinlichkeit erheblich. Wir
können um so eher den Finger auf die Wunde legen, als diese, längst in
Heilung begriffen, in kurzem vernarbt sein dürfte. Weder Italien noch Öster¬
reich-Ungarn denken daran, um der verhältnismäßig geringfügigen Rivalitäten
in Albanien willen die Vorteile preiszugeben, die jedem von ihnen der Dreibund
bietet. Denn nicht in erster Linie gegen die Türkei richtet sich der Anschlag der
Gegner, sondern gegen den Dreibund, der es Italien ermöglichte, seine natür¬
lichen Aufgaben in Nordafrika trotz England und Frankreich durchzuführen, der
es Österreich-Ungarn trotz Rußlands passivem Widerstande gestattet, seine


^Deutschland und die Lalkankrise

bei uns. Was läge da näher, als daß die deutsche und französische Diplomatie
sich einander zunächst über die nächsten Schritte verständigt hätten, die der
jüngsten Lage gegenüber einzuschlagen waren.

Nicht ganz so einfach liegt die Frage bei unseren Bundesgenossen Österreich
und Italien. Vor allen Dingen für Österreich-Ungarn können sich infolge
eines Balkankrieges Möglichkeiten zum Handeln ergeben, die dem kurzsichtigen,
vom Tag lebenden Politiker günstiger erscheinen als es tatsächlich der Fall
wäre. So ließe sich womöglich der Fehler wieder gut machen, der seinerzeit
durch die Räumung des Sandschak begangen wurde; auch der Einfluß Italiens
in Albanien, der übrigens vorwiegend auf dessen Handelsbeziehungen beruht,
ließe sich vielleicht zurückdrängen; aber doch nur vorübergehend, denn der Handel
sucht sich seine Wege nicht gern unter der Führung des Bajonetts. Das
wären Eintagserfolge, die durchaus nicht im Verhältnis zu der Einbuße ständen,
die Österreich - Ungarn durch die alsdann auch unvermeidliche territoriale
Ausdehnung Serbiens und Bulgariens erleiden müßte. So darf denn auch in
Zukunft vom Ballhausplatz her eine Haltung erwartet werden, die zunächst
darauf ausgeht, den Ausbruch eines Balkankrieges zu verhindern und, wenn
solches Bemühen einmal erfolglos bleiben sollte, einen Friedensschluß zu bewirken,
der am 8tatu8 quo auf dem Balkan nichts ändert.

Italien ist in ähnlicher Lage, wenn es auch im gegenwärtigen Augenblick
aus der Notlage der Türkei den meisten Nutzen zu ziehen vermöchte. Eine
Schmälerung des türkischen Besitzstandes auf dem Kontinent durch die kleinen
Valkanstaateu und Österreich-Ungarn in diesem Augenblick hieße für Italien
entweder auf seinen Einfluß in Albanien verzichten oder seine eben eingeleitete
Eroberung in Nordafrika preisgeben. Es läßt sich von hier aus nicht übersehen,
ob es nicht gerade diese Erwägung ist, die die englische Diplomatie veranlaßt hat,
das Feuer auf dem Balkan neu anzufachen, nachdem Italien auf den Beitritt
zu einem englisch-französischen Mittelmeerbund verzichtete. Aber die Wahr¬
scheinlichkeit liegt vor, nachdem es für die Engländer festzustehen scheint, daß
die einzig empfindliche Stelle des Dreibundes dort unten an der Adria zu
finden sei. Die Feststellung, die des früheren russischen Ministerpräsidenten
Stolnpin Bruder in der gewiß nicht deutschfreundlichen Nowoje Wremja macht,
daß nämlich der Angelpunkt der englischen Politik in der Feindschaft Albions
gegen Deutschland zu suchen sei, verstärkt die Wahrscheinlichkeit erheblich. Wir
können um so eher den Finger auf die Wunde legen, als diese, längst in
Heilung begriffen, in kurzem vernarbt sein dürfte. Weder Italien noch Öster¬
reich-Ungarn denken daran, um der verhältnismäßig geringfügigen Rivalitäten
in Albanien willen die Vorteile preiszugeben, die jedem von ihnen der Dreibund
bietet. Denn nicht in erster Linie gegen die Türkei richtet sich der Anschlag der
Gegner, sondern gegen den Dreibund, der es Italien ermöglichte, seine natür¬
lichen Aufgaben in Nordafrika trotz England und Frankreich durchzuführen, der
es Österreich-Ungarn trotz Rußlands passivem Widerstande gestattet, seine


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[0063] ^Deutschland und die Lalkankrise bei uns. Was läge da näher, als daß die deutsche und französische Diplomatie sich einander zunächst über die nächsten Schritte verständigt hätten, die der jüngsten Lage gegenüber einzuschlagen waren. Nicht ganz so einfach liegt die Frage bei unseren Bundesgenossen Österreich und Italien. Vor allen Dingen für Österreich-Ungarn können sich infolge eines Balkankrieges Möglichkeiten zum Handeln ergeben, die dem kurzsichtigen, vom Tag lebenden Politiker günstiger erscheinen als es tatsächlich der Fall wäre. So ließe sich womöglich der Fehler wieder gut machen, der seinerzeit durch die Räumung des Sandschak begangen wurde; auch der Einfluß Italiens in Albanien, der übrigens vorwiegend auf dessen Handelsbeziehungen beruht, ließe sich vielleicht zurückdrängen; aber doch nur vorübergehend, denn der Handel sucht sich seine Wege nicht gern unter der Führung des Bajonetts. Das wären Eintagserfolge, die durchaus nicht im Verhältnis zu der Einbuße ständen, die Österreich - Ungarn durch die alsdann auch unvermeidliche territoriale Ausdehnung Serbiens und Bulgariens erleiden müßte. So darf denn auch in Zukunft vom Ballhausplatz her eine Haltung erwartet werden, die zunächst darauf ausgeht, den Ausbruch eines Balkankrieges zu verhindern und, wenn solches Bemühen einmal erfolglos bleiben sollte, einen Friedensschluß zu bewirken, der am 8tatu8 quo auf dem Balkan nichts ändert. Italien ist in ähnlicher Lage, wenn es auch im gegenwärtigen Augenblick aus der Notlage der Türkei den meisten Nutzen zu ziehen vermöchte. Eine Schmälerung des türkischen Besitzstandes auf dem Kontinent durch die kleinen Valkanstaateu und Österreich-Ungarn in diesem Augenblick hieße für Italien entweder auf seinen Einfluß in Albanien verzichten oder seine eben eingeleitete Eroberung in Nordafrika preisgeben. Es läßt sich von hier aus nicht übersehen, ob es nicht gerade diese Erwägung ist, die die englische Diplomatie veranlaßt hat, das Feuer auf dem Balkan neu anzufachen, nachdem Italien auf den Beitritt zu einem englisch-französischen Mittelmeerbund verzichtete. Aber die Wahr¬ scheinlichkeit liegt vor, nachdem es für die Engländer festzustehen scheint, daß die einzig empfindliche Stelle des Dreibundes dort unten an der Adria zu finden sei. Die Feststellung, die des früheren russischen Ministerpräsidenten Stolnpin Bruder in der gewiß nicht deutschfreundlichen Nowoje Wremja macht, daß nämlich der Angelpunkt der englischen Politik in der Feindschaft Albions gegen Deutschland zu suchen sei, verstärkt die Wahrscheinlichkeit erheblich. Wir können um so eher den Finger auf die Wunde legen, als diese, längst in Heilung begriffen, in kurzem vernarbt sein dürfte. Weder Italien noch Öster¬ reich-Ungarn denken daran, um der verhältnismäßig geringfügigen Rivalitäten in Albanien willen die Vorteile preiszugeben, die jedem von ihnen der Dreibund bietet. Denn nicht in erster Linie gegen die Türkei richtet sich der Anschlag der Gegner, sondern gegen den Dreibund, der es Italien ermöglichte, seine natür¬ lichen Aufgaben in Nordafrika trotz England und Frankreich durchzuführen, der es Österreich-Ungarn trotz Rußlands passivem Widerstande gestattet, seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/63>, abgerufen am 15.01.2025.