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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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bewußt zugleich, in allen ihren Erscheinungen:
ich bin ein Produkt der englischen Nation;
ich fühle mich eins mit dieser Nation, und
es genügt mir, wenn ich widerspiegeln darf,
was die Wesensmerkmale, was die Farbe,
den Duft dieser Nation ausmacht. Hier
sinden wir jenen innigen Kontakt zwischen
Buhne und Volksbewußtsein, nach dem bei
uns heute nur noch Schwärmer suchen. Und
wer Lust verspürt, mag denn auch mit neid¬
erfüllten Augen auf die sogenannte englische
Theaterkultur blicken.

Wir müssen gestehen, daß wir diese Lust
ganz und gar nicht verspüren. Die Medaille
hat nämlich bei näherer Besichtigung auch
eine sehr, sehr böse Kehrseite. Die nahezu
völlige Abwesenheit aller geistigen Werte hat
aus der englischen Bühne einen Zustand ge¬
schaffen', der deutschem Geschmack denn doch
ziemlich unerträglich erscheint. Es herrscht
da , rein künstlerisch genommen, eine An¬
spruchslosigkeit, die uns bei allem guten Willen
nichts zu geben vermag; eine Primitivität
der Sitten und des Geschmacks, über die wir
eigentlich nur lächeln können. Und wenn
man uns ernsthaft vor die Wahl stellt, werden
wir doch wohl sagen müssen: Lieber auf unsere
Art "literarisch", als auf englische Art kindlich
und primitiv.

Auf diesem Wege also kommen wir nicht
weiter. Er führt ins Flache statt ins Tiefe,
ins ewig Banate statt ins künstlerisch Wert¬
volle. Das fühlt auch Georg Fuchs und sein
sehnsüchtiger Wunsch nach einer großen, ein¬
heitlichen Theaterkunst bewegt sich denn auch
in anderer Richtung. Er sucht und findet
die Verbindung zwischen den starken Ein¬
drücken, die ihm die Oberammergarcor Pas¬
sionsspiele einerseits und der Max Rein-
hardtsche Sdipus anderseits vermittelt haben,
und sein intelligenter, aber nicht durchweg
unanfechtbarer Gedankengang gipfelt in der
Forderung nach dem modernen Volksfestspiel¬
haus. Er steht mit dieser Forderung, wie
wir wissen, ganz und gar nicht vereinzelt da.
Zweifellos hat der Gedanke, um den es sich
handelt, etwas ungemein Bestechendes. Die
verblüffenden Wirkungen, die Max Reinhardt
mit seinen ersten Zirkusaufführungen auflöste,
mußten notwendig zur Reaktion, zur bün¬
digen Absage an das "literarische" Drama

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des intimen Kammerspiels führen. ES ist
ein offenes Geheimnis, daß die Sehnsucht
unserer besten Geister seit Jahr und Tag
aus der Enge und Gebundenheit des soge¬
nannten Problemstücks heraus will, daß sie
nach dein al t^resco einer überlebensgroßen
Kunst strebt, daß sie der blassen Abstraktionen
müde ist und nach Fleisch und Blut und
Lebenswärme verlangt. Wir alle, denen die
Entwicklung des deutschen Theaters am
Herzen liegt, haben schon mit dem beglücken¬
den Gedanken eines Volksfestspiclhanses ge¬
spielt. Wir alle haben davon geträumt, daß
eine Zeit nahe ist, die die Wechsler und
Händler aus den Bühnenhäusern Peitsche und
Thaliens Tempel wieder zu einer Kunststätte
in des Wortes bester Bedeutung umschafft.
Georg Fuchs spricht da mit schöner Begeiste¬
rung einen Gedanken ans, um den sich in
dieser verworrenen Zeit der deutsche Idealis¬
mus schart. Und der Idealismus, mit dem
er den Kampf aufnimmt, ist denn auch das
Beste und Wertvollste an seinem Buche.

Allerdings sitzt an dieser Stelle gleichzeitig,
wie uns scheinen will, der Kardinalfehler seines
Rechenexempels. Eine Theatergründung ist
noch immer eine verteufelt reale Sache ge¬
wesen, bei der eS mehr uns gesunde Bilanzen
als auf waghalsige Phantasien ankam. Georg
Fuchs aber bleibt Phantast von Anfang bis
Ende, Phantast im guten und Phantast im
schlechten Sinne. Er schwärmt, aber er rechnet
nicht. Sein zukunftstrunkeues Auge sieht schon
Männer und Frauen, Kinder und Greise,
Gesunde und Kranke, Arme und Reiche in
endlosem Zuge zum Volksfestspielhause wallen.
Sein Ohr hört schon das beglückende Lursum
porcis, einer großen, allumfassenden Dramatik.
Was in Oberammergau möglich ist, fragt er,
warum soll das nicht auch in Profanen Bühnen¬
häusern möglich sein? Warum sollen nicht
auch da die aufrüttelnden Wirkungen einer
großen, Primitiv heiligen Einheitskunst zu
erzielen sein?

Wir, die wir etwas nüchterner denken,
müssen ihm darauf antworten: weil unsere
verworrene, tausendfach gespaltene Kultur¬
epoche von vornherein nicht den Boden für
das sogenannte Theater der Zehntausend her¬
zugeben vermag; weil wir viel zu ratlos,
zu unruhig, zu skeptisch, zu -- nervös sind, um

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bewußt zugleich, in allen ihren Erscheinungen:
ich bin ein Produkt der englischen Nation;
ich fühle mich eins mit dieser Nation, und
es genügt mir, wenn ich widerspiegeln darf,
was die Wesensmerkmale, was die Farbe,
den Duft dieser Nation ausmacht. Hier
sinden wir jenen innigen Kontakt zwischen
Buhne und Volksbewußtsein, nach dem bei
uns heute nur noch Schwärmer suchen. Und
wer Lust verspürt, mag denn auch mit neid¬
erfüllten Augen auf die sogenannte englische
Theaterkultur blicken.

Wir müssen gestehen, daß wir diese Lust
ganz und gar nicht verspüren. Die Medaille
hat nämlich bei näherer Besichtigung auch
eine sehr, sehr böse Kehrseite. Die nahezu
völlige Abwesenheit aller geistigen Werte hat
aus der englischen Bühne einen Zustand ge¬
schaffen', der deutschem Geschmack denn doch
ziemlich unerträglich erscheint. Es herrscht
da , rein künstlerisch genommen, eine An¬
spruchslosigkeit, die uns bei allem guten Willen
nichts zu geben vermag; eine Primitivität
der Sitten und des Geschmacks, über die wir
eigentlich nur lächeln können. Und wenn
man uns ernsthaft vor die Wahl stellt, werden
wir doch wohl sagen müssen: Lieber auf unsere
Art „literarisch", als auf englische Art kindlich
und primitiv.

Auf diesem Wege also kommen wir nicht
weiter. Er führt ins Flache statt ins Tiefe,
ins ewig Banate statt ins künstlerisch Wert¬
volle. Das fühlt auch Georg Fuchs und sein
sehnsüchtiger Wunsch nach einer großen, ein¬
heitlichen Theaterkunst bewegt sich denn auch
in anderer Richtung. Er sucht und findet
die Verbindung zwischen den starken Ein¬
drücken, die ihm die Oberammergarcor Pas¬
sionsspiele einerseits und der Max Rein-
hardtsche Sdipus anderseits vermittelt haben,
und sein intelligenter, aber nicht durchweg
unanfechtbarer Gedankengang gipfelt in der
Forderung nach dem modernen Volksfestspiel¬
haus. Er steht mit dieser Forderung, wie
wir wissen, ganz und gar nicht vereinzelt da.
Zweifellos hat der Gedanke, um den es sich
handelt, etwas ungemein Bestechendes. Die
verblüffenden Wirkungen, die Max Reinhardt
mit seinen ersten Zirkusaufführungen auflöste,
mußten notwendig zur Reaktion, zur bün¬
digen Absage an das „literarische" Drama

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des intimen Kammerspiels führen. ES ist
ein offenes Geheimnis, daß die Sehnsucht
unserer besten Geister seit Jahr und Tag
aus der Enge und Gebundenheit des soge¬
nannten Problemstücks heraus will, daß sie
nach dein al t^resco einer überlebensgroßen
Kunst strebt, daß sie der blassen Abstraktionen
müde ist und nach Fleisch und Blut und
Lebenswärme verlangt. Wir alle, denen die
Entwicklung des deutschen Theaters am
Herzen liegt, haben schon mit dem beglücken¬
den Gedanken eines Volksfestspiclhanses ge¬
spielt. Wir alle haben davon geträumt, daß
eine Zeit nahe ist, die die Wechsler und
Händler aus den Bühnenhäusern Peitsche und
Thaliens Tempel wieder zu einer Kunststätte
in des Wortes bester Bedeutung umschafft.
Georg Fuchs spricht da mit schöner Begeiste¬
rung einen Gedanken ans, um den sich in
dieser verworrenen Zeit der deutsche Idealis¬
mus schart. Und der Idealismus, mit dem
er den Kampf aufnimmt, ist denn auch das
Beste und Wertvollste an seinem Buche.

Allerdings sitzt an dieser Stelle gleichzeitig,
wie uns scheinen will, der Kardinalfehler seines
Rechenexempels. Eine Theatergründung ist
noch immer eine verteufelt reale Sache ge¬
wesen, bei der eS mehr uns gesunde Bilanzen
als auf waghalsige Phantasien ankam. Georg
Fuchs aber bleibt Phantast von Anfang bis
Ende, Phantast im guten und Phantast im
schlechten Sinne. Er schwärmt, aber er rechnet
nicht. Sein zukunftstrunkeues Auge sieht schon
Männer und Frauen, Kinder und Greise,
Gesunde und Kranke, Arme und Reiche in
endlosem Zuge zum Volksfestspielhause wallen.
Sein Ohr hört schon das beglückende Lursum
porcis, einer großen, allumfassenden Dramatik.
Was in Oberammergau möglich ist, fragt er,
warum soll das nicht auch in Profanen Bühnen¬
häusern möglich sein? Warum sollen nicht
auch da die aufrüttelnden Wirkungen einer
großen, Primitiv heiligen Einheitskunst zu
erzielen sein?

Wir, die wir etwas nüchterner denken,
müssen ihm darauf antworten: weil unsere
verworrene, tausendfach gespaltene Kultur¬
epoche von vornherein nicht den Boden für
das sogenannte Theater der Zehntausend her¬
zugeben vermag; weil wir viel zu ratlos,
zu unruhig, zu skeptisch, zu — nervös sind, um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/591>, abgerufen am 15.01.2025.