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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

die Gesamtinteressen des Reichs und der Nation an der auswärtigen Politik ver¬
körpern. Ein deutscher Botschafter ist das, was den ethymologischen Inhalt seines
Titels bildet: der Bote des Kaisers, der Vertreter der kaiserlichen Ansichten, also
in das Deutsch der Reichsverfassung übertragen: das ausführende Organ der
Politik, die in der Zentrale, im Auswärtigen Amt zu Berlin, getrieben wird.
Auch ein deutscher Botschafter in London hat keine persönliche Politik zu treiben,
auch er handelt lediglich im Auftrage des Kaisers beziehungsweise des nach außen
hin verantworlichen Reichskanzlers, was praktisch seine Abhängigkeit vom Aus¬
wärtigen Amt, bzw. dessen Staatssekretär bedeutet. Wenn von London aus
gegen Deutschland konspiriert wird, so ist es zur Feststellung der Tatsache ebenso
wichtig, rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, in welcher Richtung die Fäden
gesponnen werden, wie von wem sie gesponnen werden. Das "von wem" ist in
London leicht zu ermitteln, das "wohin" wird eher in Rom, Kopenhagen, Madrid,
Paris, Petersburg, Wien und Konstantinopel zu erfahren möglich sein. Überdies erhält
ein Botschafter alle ihn besonders angehenden Nachrichten nicht etwa direkt von den
anderen diplomatischen Posten, sondern erst auf dem Umwege über das Aus¬
wärtige Amt, dessen Leiter es durchaus in der Hand hat, zu bestimmen, was dem
Botschafter mitgeteilt werden soll, was nicht. Diese tatsächlichen Verhältnisse geben
den Rahmen für den Aktionsradius eines deutschen Botschafters, und aus ihnen
kann man folgern, in welcher Richtung der Kaiser und seine verantwortlichen
Ratgeber Ausschau nach dem neuen Manne halten, nicht aus der Stimmung, die
gerade hier und dort über England herrscht.




Reichsspiegel

die Gesamtinteressen des Reichs und der Nation an der auswärtigen Politik ver¬
körpern. Ein deutscher Botschafter ist das, was den ethymologischen Inhalt seines
Titels bildet: der Bote des Kaisers, der Vertreter der kaiserlichen Ansichten, also
in das Deutsch der Reichsverfassung übertragen: das ausführende Organ der
Politik, die in der Zentrale, im Auswärtigen Amt zu Berlin, getrieben wird.
Auch ein deutscher Botschafter in London hat keine persönliche Politik zu treiben,
auch er handelt lediglich im Auftrage des Kaisers beziehungsweise des nach außen
hin verantworlichen Reichskanzlers, was praktisch seine Abhängigkeit vom Aus¬
wärtigen Amt, bzw. dessen Staatssekretär bedeutet. Wenn von London aus
gegen Deutschland konspiriert wird, so ist es zur Feststellung der Tatsache ebenso
wichtig, rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, in welcher Richtung die Fäden
gesponnen werden, wie von wem sie gesponnen werden. Das „von wem" ist in
London leicht zu ermitteln, das „wohin" wird eher in Rom, Kopenhagen, Madrid,
Paris, Petersburg, Wien und Konstantinopel zu erfahren möglich sein. Überdies erhält
ein Botschafter alle ihn besonders angehenden Nachrichten nicht etwa direkt von den
anderen diplomatischen Posten, sondern erst auf dem Umwege über das Aus¬
wärtige Amt, dessen Leiter es durchaus in der Hand hat, zu bestimmen, was dem
Botschafter mitgeteilt werden soll, was nicht. Diese tatsächlichen Verhältnisse geben
den Rahmen für den Aktionsradius eines deutschen Botschafters, und aus ihnen
kann man folgern, in welcher Richtung der Kaiser und seine verantwortlichen
Ratgeber Ausschau nach dem neuen Manne halten, nicht aus der Stimmung, die
gerade hier und dort über England herrscht.




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[0059] Reichsspiegel die Gesamtinteressen des Reichs und der Nation an der auswärtigen Politik ver¬ körpern. Ein deutscher Botschafter ist das, was den ethymologischen Inhalt seines Titels bildet: der Bote des Kaisers, der Vertreter der kaiserlichen Ansichten, also in das Deutsch der Reichsverfassung übertragen: das ausführende Organ der Politik, die in der Zentrale, im Auswärtigen Amt zu Berlin, getrieben wird. Auch ein deutscher Botschafter in London hat keine persönliche Politik zu treiben, auch er handelt lediglich im Auftrage des Kaisers beziehungsweise des nach außen hin verantworlichen Reichskanzlers, was praktisch seine Abhängigkeit vom Aus¬ wärtigen Amt, bzw. dessen Staatssekretär bedeutet. Wenn von London aus gegen Deutschland konspiriert wird, so ist es zur Feststellung der Tatsache ebenso wichtig, rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, in welcher Richtung die Fäden gesponnen werden, wie von wem sie gesponnen werden. Das „von wem" ist in London leicht zu ermitteln, das „wohin" wird eher in Rom, Kopenhagen, Madrid, Paris, Petersburg, Wien und Konstantinopel zu erfahren möglich sein. Überdies erhält ein Botschafter alle ihn besonders angehenden Nachrichten nicht etwa direkt von den anderen diplomatischen Posten, sondern erst auf dem Umwege über das Aus¬ wärtige Amt, dessen Leiter es durchaus in der Hand hat, zu bestimmen, was dem Botschafter mitgeteilt werden soll, was nicht. Diese tatsächlichen Verhältnisse geben den Rahmen für den Aktionsradius eines deutschen Botschafters, und aus ihnen kann man folgern, in welcher Richtung der Kaiser und seine verantwortlichen Ratgeber Ausschau nach dem neuen Manne halten, nicht aus der Stimmung, die gerade hier und dort über England herrscht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/59>, abgerufen am 15.01.2025.