Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Karl Salzcr Da wacht, ihr unbewußt, alle Frömmelei und aller Fanatismus in ihr wie "Seht ihr's, ihr Leut, wie unser Herrgott schon alles Unheil über unser Dorf Noch ehe diese Worte in den Bauern recht zur Wirkung kommen können, Karl, der alle Borgänge am Grab gleichgültig verfolgt hat, als gingen sie "Du sollst verflucht sein, du Mensch, du, du, du, tut" Ein ganz entsetzliches Dröhnen grollt in dem Wörtchen du. Es liegt etwas Die Bauern, hinter deren Rücken die Hungels-Grek sich vergebens zu vel> "Unkel Haares, Unkel Hannes!" Hannes Holtner, den die Nachricht von der Tat beim Füttern erreicht hat, Die Verfolger aber glauben, daß der Bursche ihnen entfliehen wolle, denn Steine, von der bröckeligen alten Friedhofmauer gerissen, fliegen Karl ent¬ Im gleichen Augenblicke will sich die Menge auf ihr Opfer werfen, doch "Ruhr mir ihn keiner aut Soll noch mehr Unheil angerichtet werden?" In einigen erwacht die Besinnung, und sie schelten auf die Steiuwerfer. Grenzboten IV 1S12 74
Karl Salzcr Da wacht, ihr unbewußt, alle Frömmelei und aller Fanatismus in ihr wie „Seht ihr's, ihr Leut, wie unser Herrgott schon alles Unheil über unser Dorf Noch ehe diese Worte in den Bauern recht zur Wirkung kommen können, Karl, der alle Borgänge am Grab gleichgültig verfolgt hat, als gingen sie „Du sollst verflucht sein, du Mensch, du, du, du, tut" Ein ganz entsetzliches Dröhnen grollt in dem Wörtchen du. Es liegt etwas Die Bauern, hinter deren Rücken die Hungels-Grek sich vergebens zu vel> „Unkel Haares, Unkel Hannes!" Hannes Holtner, den die Nachricht von der Tat beim Füttern erreicht hat, Die Verfolger aber glauben, daß der Bursche ihnen entfliehen wolle, denn Steine, von der bröckeligen alten Friedhofmauer gerissen, fliegen Karl ent¬ Im gleichen Augenblicke will sich die Menge auf ihr Opfer werfen, doch „Ruhr mir ihn keiner aut Soll noch mehr Unheil angerichtet werden?" In einigen erwacht die Besinnung, und sie schelten auf die Steiuwerfer. Grenzboten IV 1S12 74
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Karl Salzcr
Da wacht, ihr unbewußt, alle Frömmelei und aller Fanatismus in ihr wie
eine Schutzwehr auf. Sie reckt den Zeigefinger drohend in die Höhe und schreit
mit spitzer Stimme:
„Seht ihr's, ihr Leut, wie unser Herrgott schon alles Unheil über unser Dorf
kommen läßt wegen dem eineinzigen SelbstmörderI Das ist der Fluch Gottes I"
Noch ehe diese Worte in den Bauern recht zur Wirkung kommen können,
rollt ein Brüllen durch die Luft wie von einem Raubtier.
Karl, der alle Borgänge am Grab gleichgültig verfolgt hat, als gingen sie
ihn nichts an, wird durch die gellende Weiberstimme noch einmal aus seiner
Stumpfheit geweckt. Er springt auf, reißt in mächtiger Wut von dem Sockel des
Grabsteines, zu dessen Füßen er zusammengekauert lag, die Engelsstatue aus
weißem Kalkstein, schwingt sie über den Kopf und stürmt so auf die Hungels-Grek
zu, indem er mit gewaltiger Stimme dabei brüllt:
„Du sollst verflucht sein, du Mensch, du, du, du, tut"
Ein ganz entsetzliches Dröhnen grollt in dem Wörtchen du. Es liegt etwas
Dämonisches in der Erscheinung des Anstürmenden, der mit der schweren Engel¬
statue zum Wurfe ausholt wie ein Niese mit einem Felsblock spielt.
Die Bauern, hinter deren Rücken die Hungels-Grek sich vergebens zu vel>
stecken sucht, weil jeder sie wieder vor sich stößt, weichen gegen die Friedhofsmauer
zurück. Zu ihrer höchsten Verwunderung und Erleichterung zugleich läßt der
Bursche das Steinbild plötzlich fallen, wendet sich seitwärts und fliegt mit weit
ausgebreiteten Armen auf das Tor zu. In seinem Gesichte geht eine merk¬
würdige Veränderung vor. Das Rohe, Brutale, Viehische, Unsinnige, die ganze
dämonische Verzerrung weicht einem friedlichen Ausdruck, einem freudigen Strahlen
und erlösten Leuchten, und aus der Brust, aus der eben noch die rasendsten Rache-
und Wutschreie gellten, sprudelt eine halb gebrochene, halb klare Jubelstimme:
„Unkel Haares, Unkel Hannes!"
Hannes Holtner, den die Nachricht von der Tat beim Füttern erreicht hat,
kommt gerade zum Friedhoftor herein. In dem unglücklichen Menschen aber
wacht bei diesem Anblick die Liebe auf und berührt und segnet mit ihrem Kusse
seine stumpfe Seele, daß sie alles Unedle von sich schütteln muß.
Die Verfolger aber glauben, daß der Bursche ihnen entfliehen wolle, denn
ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn, und so beobachteten sie das Kommen
des Mannes nicht.
Steine, von der bröckeligen alten Friedhofmauer gerissen, fliegen Karl ent¬
gegen, und einer zerschmettert ihm die Schläfenwand. Er stürzt, die ausgebreiteten
Arme nach vorn, zusammen.
Im gleichen Augenblicke will sich die Menge auf ihr Opfer werfen, doch
die dröhnende Stimme des Hüner Hannes Holtner hält sie zurück wie gebändigte
Tiere.
„Ruhr mir ihn keiner aut Soll noch mehr Unheil angerichtet werden?"
In einigen erwacht die Besinnung, und sie schelten auf die Steiuwerfer.
Diese aber fragen, ob dem Mörder denn ein Unrecht geschehen sei. Es ist ein
wüstes Schreien und Widerredengeben, bis der Polizeidiener die Menge aus dem
Friedhofe weist und den Arzt rufen läßt.
Grenzboten IV 1S12 74
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