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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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ist er nicht die Voraussetzung aller Sittlichkeit, ohne die alles Sittlich-sein un¬
möglich ist? Gelingt eine solche Rechtfertigung, so ist damit auch die Recht¬
fertigung des Krieges gelungen.

Daß das Leben und damit der Wille zum Leben an sich ein sittliches Gut
sei, wird von modernen Ethikern behauptet, merkwürdigerweise just auch von
solchen, die gegen den Krieg zu Felde ziehen. (Es ist kaum ein ärgeres Hin-
und Herstolpern denkbar als in den ethischen Gehversuchen unserer Monisten.)
Religiös bestimmte Ethiker, die das absolute Gut jenseits der Sphäre alles
Lebens verlegen, werten das Leben nur als Mittel oder lassen es überhaupt
nicht als irgendwie wertvoll gelten. (Buddhismus und Christentum.) Unser
unmittelbares ethisches (nicht Lebens-) Empfinden und unsere ethische Praxis
gibt diesen letzteren recht: wir werfen in der Tat das Leben für andere Menschen,
für Ideen, ja für Phantome hin und empfinden das als sittlich. Wenn dann
die Nationalisten des Militarismus und des Eudämonismus kommen mit den
Erklärungsversuchen: durch das Opfer eines einzelnen Lebens oder Glückes würde
ein größeres Quantum oder eine höhere Qualität anderes Glückes erhalten und
dadurch die Gesamtsumme oder Gesamtintensitüt gesteigert, so ist das doch nur
eine Verlegenheitsausrede. Wo ist denn die Steigerung, wenn ein Jüngling sich
für eine achtzigjährige Greisin opfert oder wenn ein Soldat einen verlorenen
Posten verteidigt? Man fagt auch wohl: die Schätzung der reinen Gesinnung sei
sekundär, das Primäre sei die Schätzung des Erfolges, das Gefühl der Schätzung
sei nach den psychologischen Analogien im Laufe der Entwickelung vom Erfolg
auf die den Erfolg verbürgende Gesinnung hinübergeglitten und hafte nun an
dieser Gesinnung, auch wo sie nicht mehr Erfolg verschaffe. (Simmel, Einl.
in die Moralwissenschaft.) Dieser Kausalnexus ändert nichts an der Tatsache,
daß wir eben die Gesinnung als sittlich schätzen und nicht den Erfolg. Die
zeitlich-kausale Reihenfolge bedeutet keine Wertung. Wir schätzen nicht das
Leben und den Erfolg als ein möglichst hohes Quantum oder eine möglichst
hohe Intensität des Lebens, sondern etwas, das über dem Leben steht.

Aber wir bemerkten schon: wenn wir diesen Trieb des Lebens und Wachsens
nicht hätten, könnten wir nicht anders sein wollen als wir sind, könnten wir
uus keine Ziele setzen, die über dem gegenwärtigen Dasein und So°sein stehen.
Es gäbe für uns kein Hinauf und kein Hinab. Daß heißt: es wäre ein
ethisches Verhalten unmöglich. Ohne Irrtum gäbe es keine Wahrheit, sondern
nur Seiendes und Seins-Gesetze. Ohne Unsittliches gäbe es kein sittliches,
sondern nur Dasein. Ohne diesen Zwiespalt gäbe es nur Naturgesetze, keine
Normen. Diese Spaltung im Urgründe unseres Wesens, diese Quelle des
Schmerzes ist der Punkt, wo Natur und selbständiges Bewußtsein sich scheiden.
Die Natur fließt weiter dnrch das seiner bewußte Ich und behauptet ihre
Gesetze. Aber die Kreatur lehnt sich auf wider dieses bloße Dasein und seine
Gesetze. So muß ich Streit und Krieg wollen, damit ich Frieden suchen kann.
Ich muß mich selbst behaupten und durchsetzen, damit ich mich opfern kann.


Glenzbowii IV 1912 7g

ist er nicht die Voraussetzung aller Sittlichkeit, ohne die alles Sittlich-sein un¬
möglich ist? Gelingt eine solche Rechtfertigung, so ist damit auch die Recht¬
fertigung des Krieges gelungen.

Daß das Leben und damit der Wille zum Leben an sich ein sittliches Gut
sei, wird von modernen Ethikern behauptet, merkwürdigerweise just auch von
solchen, die gegen den Krieg zu Felde ziehen. (Es ist kaum ein ärgeres Hin-
und Herstolpern denkbar als in den ethischen Gehversuchen unserer Monisten.)
Religiös bestimmte Ethiker, die das absolute Gut jenseits der Sphäre alles
Lebens verlegen, werten das Leben nur als Mittel oder lassen es überhaupt
nicht als irgendwie wertvoll gelten. (Buddhismus und Christentum.) Unser
unmittelbares ethisches (nicht Lebens-) Empfinden und unsere ethische Praxis
gibt diesen letzteren recht: wir werfen in der Tat das Leben für andere Menschen,
für Ideen, ja für Phantome hin und empfinden das als sittlich. Wenn dann
die Nationalisten des Militarismus und des Eudämonismus kommen mit den
Erklärungsversuchen: durch das Opfer eines einzelnen Lebens oder Glückes würde
ein größeres Quantum oder eine höhere Qualität anderes Glückes erhalten und
dadurch die Gesamtsumme oder Gesamtintensitüt gesteigert, so ist das doch nur
eine Verlegenheitsausrede. Wo ist denn die Steigerung, wenn ein Jüngling sich
für eine achtzigjährige Greisin opfert oder wenn ein Soldat einen verlorenen
Posten verteidigt? Man fagt auch wohl: die Schätzung der reinen Gesinnung sei
sekundär, das Primäre sei die Schätzung des Erfolges, das Gefühl der Schätzung
sei nach den psychologischen Analogien im Laufe der Entwickelung vom Erfolg
auf die den Erfolg verbürgende Gesinnung hinübergeglitten und hafte nun an
dieser Gesinnung, auch wo sie nicht mehr Erfolg verschaffe. (Simmel, Einl.
in die Moralwissenschaft.) Dieser Kausalnexus ändert nichts an der Tatsache,
daß wir eben die Gesinnung als sittlich schätzen und nicht den Erfolg. Die
zeitlich-kausale Reihenfolge bedeutet keine Wertung. Wir schätzen nicht das
Leben und den Erfolg als ein möglichst hohes Quantum oder eine möglichst
hohe Intensität des Lebens, sondern etwas, das über dem Leben steht.

Aber wir bemerkten schon: wenn wir diesen Trieb des Lebens und Wachsens
nicht hätten, könnten wir nicht anders sein wollen als wir sind, könnten wir
uus keine Ziele setzen, die über dem gegenwärtigen Dasein und So°sein stehen.
Es gäbe für uns kein Hinauf und kein Hinab. Daß heißt: es wäre ein
ethisches Verhalten unmöglich. Ohne Irrtum gäbe es keine Wahrheit, sondern
nur Seiendes und Seins-Gesetze. Ohne Unsittliches gäbe es kein sittliches,
sondern nur Dasein. Ohne diesen Zwiespalt gäbe es nur Naturgesetze, keine
Normen. Diese Spaltung im Urgründe unseres Wesens, diese Quelle des
Schmerzes ist der Punkt, wo Natur und selbständiges Bewußtsein sich scheiden.
Die Natur fließt weiter dnrch das seiner bewußte Ich und behauptet ihre
Gesetze. Aber die Kreatur lehnt sich auf wider dieses bloße Dasein und seine
Gesetze. So muß ich Streit und Krieg wollen, damit ich Frieden suchen kann.
Ich muß mich selbst behaupten und durchsetzen, damit ich mich opfern kann.


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[0580] ist er nicht die Voraussetzung aller Sittlichkeit, ohne die alles Sittlich-sein un¬ möglich ist? Gelingt eine solche Rechtfertigung, so ist damit auch die Recht¬ fertigung des Krieges gelungen. Daß das Leben und damit der Wille zum Leben an sich ein sittliches Gut sei, wird von modernen Ethikern behauptet, merkwürdigerweise just auch von solchen, die gegen den Krieg zu Felde ziehen. (Es ist kaum ein ärgeres Hin- und Herstolpern denkbar als in den ethischen Gehversuchen unserer Monisten.) Religiös bestimmte Ethiker, die das absolute Gut jenseits der Sphäre alles Lebens verlegen, werten das Leben nur als Mittel oder lassen es überhaupt nicht als irgendwie wertvoll gelten. (Buddhismus und Christentum.) Unser unmittelbares ethisches (nicht Lebens-) Empfinden und unsere ethische Praxis gibt diesen letzteren recht: wir werfen in der Tat das Leben für andere Menschen, für Ideen, ja für Phantome hin und empfinden das als sittlich. Wenn dann die Nationalisten des Militarismus und des Eudämonismus kommen mit den Erklärungsversuchen: durch das Opfer eines einzelnen Lebens oder Glückes würde ein größeres Quantum oder eine höhere Qualität anderes Glückes erhalten und dadurch die Gesamtsumme oder Gesamtintensitüt gesteigert, so ist das doch nur eine Verlegenheitsausrede. Wo ist denn die Steigerung, wenn ein Jüngling sich für eine achtzigjährige Greisin opfert oder wenn ein Soldat einen verlorenen Posten verteidigt? Man fagt auch wohl: die Schätzung der reinen Gesinnung sei sekundär, das Primäre sei die Schätzung des Erfolges, das Gefühl der Schätzung sei nach den psychologischen Analogien im Laufe der Entwickelung vom Erfolg auf die den Erfolg verbürgende Gesinnung hinübergeglitten und hafte nun an dieser Gesinnung, auch wo sie nicht mehr Erfolg verschaffe. (Simmel, Einl. in die Moralwissenschaft.) Dieser Kausalnexus ändert nichts an der Tatsache, daß wir eben die Gesinnung als sittlich schätzen und nicht den Erfolg. Die zeitlich-kausale Reihenfolge bedeutet keine Wertung. Wir schätzen nicht das Leben und den Erfolg als ein möglichst hohes Quantum oder eine möglichst hohe Intensität des Lebens, sondern etwas, das über dem Leben steht. Aber wir bemerkten schon: wenn wir diesen Trieb des Lebens und Wachsens nicht hätten, könnten wir nicht anders sein wollen als wir sind, könnten wir uus keine Ziele setzen, die über dem gegenwärtigen Dasein und So°sein stehen. Es gäbe für uns kein Hinauf und kein Hinab. Daß heißt: es wäre ein ethisches Verhalten unmöglich. Ohne Irrtum gäbe es keine Wahrheit, sondern nur Seiendes und Seins-Gesetze. Ohne Unsittliches gäbe es kein sittliches, sondern nur Dasein. Ohne diesen Zwiespalt gäbe es nur Naturgesetze, keine Normen. Diese Spaltung im Urgründe unseres Wesens, diese Quelle des Schmerzes ist der Punkt, wo Natur und selbständiges Bewußtsein sich scheiden. Die Natur fließt weiter dnrch das seiner bewußte Ich und behauptet ihre Gesetze. Aber die Kreatur lehnt sich auf wider dieses bloße Dasein und seine Gesetze. So muß ich Streit und Krieg wollen, damit ich Frieden suchen kann. Ich muß mich selbst behaupten und durchsetzen, damit ich mich opfern kann. Glenzbowii IV 1912 7g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/580>, abgerufen am 15.01.2025.