Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Zur Rechtfertigung des Krieges Tugenden. Der eine neigt mehr dazu, die eine, der andere, die andere Seite Fassen wir nun die Völker als Gesamtkörper auf und übertragen wir das Zur Rechtfertigung des Krieges Tugenden. Der eine neigt mehr dazu, die eine, der andere, die andere Seite Fassen wir nun die Völker als Gesamtkörper auf und übertragen wir das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0577" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322979"/> <fw type="header" place="top"> Zur Rechtfertigung des Krieges</fw><lb/> <p xml:id="ID_2824" prev="#ID_2823"> Tugenden. Der eine neigt mehr dazu, die eine, der andere, die andere Seite<lb/> zu sehen und zu betonen. Und will man schließlich diese Dinge quantitativ<lb/> betrachten und gegeneinander abwägen, so macht man sich damit an eine im<lb/> Grunde unlösbare Aufgabe. Tugenden und Laster gedeihen im Kriege wie im<lb/> Frieden; es kommt nur auf die Menschen an, die Krieg führen oder die im<lb/> Frieden leben. Anders ist es mit den eindeutigen Geboten unseres sittlichen<lb/> Gewissens. Verbietet mir das, jemanden zu töten, gebietet es mir vielmehr,<lb/> jedermann nach meinen Kräften zu fördern — und ich kann nicht umhin an¬<lb/> zuerkennen, daß es so ist — dann ist der Krieg unsittlich, weil er das Gegen¬<lb/> teil verlangt. Man sucht wohl den klaren Befehl des Gewissens zu umgehen<lb/> und doch sittlich zu bleiben, nämlich: würde ich den Gegner nicht töten, so<lb/> würde er mich und meine Angehörigen oder viele meiner Volksgenossen töten;<lb/> ich würde also, wenn ich den Gegner nicht umbrächte, indirekt andere um¬<lb/> bringen. Aber nicht, was ein anderer tun würde oder tut, ist für meine<lb/> Sittlichkeit maßgebend, sondern allein der Befehl meines sittlichen Gewissens<lb/> ohne jede Hypothese und Konsequenzmacherei.</p><lb/> <p xml:id="ID_2825" next="#ID_2826"> Fassen wir nun die Völker als Gesamtkörper auf und übertragen wir das<lb/> sittliche Gebot des einzelnen Gewissens auf sie, so würde es heißen müssen:<lb/> ein Volk soll nicht das andere schädigen oder vernichten, und ein Volk soll dem<lb/> anderen, es sei ihm freundlich oder feindlich gesinnt, Gutes erweisen. Da<lb/> aber erhebt sich die Frage: haben wir ein Recht zu dieser Übertragung eines<lb/> sittlichen Gebotes, das für den einzelnen gilt, auf eine Volksgemeinschaft? Der<lb/> Einwand: mit der Befolgung dieses Gebotes würde sich ein Volk zugrunde<lb/> richten, gilt ethisch nicht: das sittliche Gebot bleibt sür den einzelnen Gebot,<lb/> auch wenn es ihn zugrunde richtet, warum nicht ebenso für ein Volk? Die<lb/> Folgerichtigkeit ist unbestreitbar, aber das Recht, sittliche Verpflichtungen des<lb/> einzelnen auf Völker zu übertragen, kann bestritten werden. Und diese Frage<lb/> kann man nur lösen, wenn man sich darüber klar wird, was unter „Volk als<lb/> Gesamtkörper" zu verstehen sei. Man kann ein Volk auffassen als letzte, rein<lb/> naturhafte Einheit, innerhalb deren wohl für die einzelnen Teile rechtliche und<lb/> ethische Normen (gewissermaßen als biologische Zweckmäßigkeitsregeln) bestehen,<lb/> die aber nach außen hin lediglich ein Stück Natur bedeutet, allein dem Natur¬<lb/> ablauf unterworfen. Das Volk „soll" nicht dieses oder jenes in einem weiteren<lb/> Zusammenhang darstellen, es genügt, daß es ist, um so zu sein, wie es ist.<lb/> Es ist wie der Stein, der Baum, der Planet auch und folgt wie sie nur den<lb/> Seinsgesctzen. So angesehen hat das Volk als Ganzes keine ethischen Ver¬<lb/> pflichtungen. Doch man kann die Völker wiederum einer höheren Einheit, der<lb/> Menschheit, unterordnen und, wenn der Zweck der Menschheit als ein ethischer<lb/> angenommen wird, die Völker durch ethische Normen binden. Dann fragt sich,<lb/> ob es zwei Ethiker gibt, eine für Völker und eine für einzelne Menschen, oder<lb/> ob beide durch die gleichen Gebote verpflichtet werden. Zwei verschiedene<lb/> Ethiker würden voraussetzen, daß es neben dem Einzelgewissen auch ein Volks-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0577]
Zur Rechtfertigung des Krieges
Tugenden. Der eine neigt mehr dazu, die eine, der andere, die andere Seite
zu sehen und zu betonen. Und will man schließlich diese Dinge quantitativ
betrachten und gegeneinander abwägen, so macht man sich damit an eine im
Grunde unlösbare Aufgabe. Tugenden und Laster gedeihen im Kriege wie im
Frieden; es kommt nur auf die Menschen an, die Krieg führen oder die im
Frieden leben. Anders ist es mit den eindeutigen Geboten unseres sittlichen
Gewissens. Verbietet mir das, jemanden zu töten, gebietet es mir vielmehr,
jedermann nach meinen Kräften zu fördern — und ich kann nicht umhin an¬
zuerkennen, daß es so ist — dann ist der Krieg unsittlich, weil er das Gegen¬
teil verlangt. Man sucht wohl den klaren Befehl des Gewissens zu umgehen
und doch sittlich zu bleiben, nämlich: würde ich den Gegner nicht töten, so
würde er mich und meine Angehörigen oder viele meiner Volksgenossen töten;
ich würde also, wenn ich den Gegner nicht umbrächte, indirekt andere um¬
bringen. Aber nicht, was ein anderer tun würde oder tut, ist für meine
Sittlichkeit maßgebend, sondern allein der Befehl meines sittlichen Gewissens
ohne jede Hypothese und Konsequenzmacherei.
Fassen wir nun die Völker als Gesamtkörper auf und übertragen wir das
sittliche Gebot des einzelnen Gewissens auf sie, so würde es heißen müssen:
ein Volk soll nicht das andere schädigen oder vernichten, und ein Volk soll dem
anderen, es sei ihm freundlich oder feindlich gesinnt, Gutes erweisen. Da
aber erhebt sich die Frage: haben wir ein Recht zu dieser Übertragung eines
sittlichen Gebotes, das für den einzelnen gilt, auf eine Volksgemeinschaft? Der
Einwand: mit der Befolgung dieses Gebotes würde sich ein Volk zugrunde
richten, gilt ethisch nicht: das sittliche Gebot bleibt sür den einzelnen Gebot,
auch wenn es ihn zugrunde richtet, warum nicht ebenso für ein Volk? Die
Folgerichtigkeit ist unbestreitbar, aber das Recht, sittliche Verpflichtungen des
einzelnen auf Völker zu übertragen, kann bestritten werden. Und diese Frage
kann man nur lösen, wenn man sich darüber klar wird, was unter „Volk als
Gesamtkörper" zu verstehen sei. Man kann ein Volk auffassen als letzte, rein
naturhafte Einheit, innerhalb deren wohl für die einzelnen Teile rechtliche und
ethische Normen (gewissermaßen als biologische Zweckmäßigkeitsregeln) bestehen,
die aber nach außen hin lediglich ein Stück Natur bedeutet, allein dem Natur¬
ablauf unterworfen. Das Volk „soll" nicht dieses oder jenes in einem weiteren
Zusammenhang darstellen, es genügt, daß es ist, um so zu sein, wie es ist.
Es ist wie der Stein, der Baum, der Planet auch und folgt wie sie nur den
Seinsgesctzen. So angesehen hat das Volk als Ganzes keine ethischen Ver¬
pflichtungen. Doch man kann die Völker wiederum einer höheren Einheit, der
Menschheit, unterordnen und, wenn der Zweck der Menschheit als ein ethischer
angenommen wird, die Völker durch ethische Normen binden. Dann fragt sich,
ob es zwei Ethiker gibt, eine für Völker und eine für einzelne Menschen, oder
ob beide durch die gleichen Gebote verpflichtet werden. Zwei verschiedene
Ethiker würden voraussetzen, daß es neben dem Einzelgewissen auch ein Volks-
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