Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Zum Verständnis Friedrich Chopins Vorhalten und Septattorden des Vorspiels zum Wunderwerk des "Tristan" so Wird es dem Wagnerkenner also wohl noch auffallen, daß in der Intensität Eine solche Feststellung ist keine Reminiszenzenjügerei -- von einer Entlehnung Zum Verständnis Friedrich Chopins Vorhalten und Septattorden des Vorspiels zum Wunderwerk des „Tristan" so Wird es dem Wagnerkenner also wohl noch auffallen, daß in der Intensität Eine solche Feststellung ist keine Reminiszenzenjügerei — von einer Entlehnung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0574" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322976"/> <fw type="header" place="top"> Zum Verständnis Friedrich Chopins</fw><lb/> <p xml:id="ID_2815" prev="#ID_2814"> Vorhalten und Septattorden des Vorspiels zum Wunderwerk des „Tristan" so<lb/> ergreifend anhebt und dann namentlich im dritten Akt einen wahrhaft seelen¬<lb/> erschütternden Ausdruck findet, allerdings hier noch verstärkt und bestimmt durch<lb/> das erklärende Wort der Dichtung, es durchzittert die gesamte Musik Chopins<lb/> als der geheime Ton, auf den seine Seele heimlich lauscht, in den Polonaisen<lb/> und Mazurken determinierter, in den übrigen Schöpfungen gegenstandsloser,<lb/> mystischer, aber immer unverkennbar, ergreifend. Gleich Tristan verliert auch<lb/> er sich darum so gern im „Wunderreich der Nacht", und darum weht es uns<lb/> gerade bei der Versenkung in die Nocturnes oft wie Tristanstimmung an.</p><lb/> <p xml:id="ID_2816"> Wird es dem Wagnerkenner also wohl noch auffallen, daß in der Intensität<lb/> der Wirkung Chopinscher und Wagnerscher Musik eine merkwürdige Ähnlichkeit<lb/> herrscht, ja wenn in der ersteren motivische Gebilde auftauchen, die fast wie<lb/> eine Vorausnahme der Ausdrucksweise Wagners erscheinen? In dem l'-äur-<lb/> Prölude z. B. Loges Flackermotiv, in der Kantilene des Rondo op. 1 der erste<lb/> Takt der zweiten Strophe von Walthers Preislied, in der L-moII-Etude op. 10<lb/> das drängende Sehnsuchtsmotiv des „Tristan", in der Phantasie op. 49 eine<lb/> Stelle (der Oktavengang mit der chromatischen Triole), der das Motiv der<lb/> Hoffnungsfreude im Tristan entspricht, usw.</p><lb/> <p xml:id="ID_2817" next="#ID_2818"> Eine solche Feststellung ist keine Reminiszenzenjügerei — von einer Entlehnung<lb/> des einen vom andern kann ja hier gar keine Rede sein —, sondern sie dient nur<lb/> zur Hervorhebung der Ähnlichkeit der seelischen Vorbedingungen ihres künst¬<lb/> lerischen Schaffens. Auffallend aber ist es dagegen, daß gerade Karl Lamprecht,<lb/> der die Zusammenhänge zwischen den psychologischen Grundlagen der einzelnen<lb/> Kulturzeitalter und deren Äußerungen in Kunst und Wissenschaft aufzudecken<lb/> sich bemüht, in seinem Geschichtswerk an Chopin mit flüchtiger Namensnennung<lb/> vorübergeht: ein schlagenderes Beispiel für die künstlerischen Ausstrahlungen<lb/> der von ihm so ausführlich behandelten Reizsamkeit hätte er nicht finden können.<lb/> Allerdings ist Chopin kein Deutscher, Liszt aber auch nicht, und tritt der<lb/> Einfluß des Meisters auf die Entwicklung unserer modernen Musik auch nicht<lb/> in dem Sinne zutage, daß er das Haupt einer Schule geworden ist, — das<lb/> ist bei der ganzen Art seines im höchsten Maße subjektiv und national ge¬<lb/> haltenen Schaffens gar nicht möglich — so besteht er gleichwohl. Unsere ganze<lb/> moderne Klaviermusik steht im Banne der Nachwirkung seiner Persönlichkeit;<lb/> man denke dabei nicht bloß an die zahllosen äußerlichen Nachahmungen seiner<lb/> Nocturnes oder Walzer, die ganze Technik des Klaviersatzes, die Ausdrucks¬<lb/> mittel des Klaviers sind durch ihn in gleicher Weise bereichert worden wie die<lb/> des Orchesters und Musikdramas durch Liszt und Wagner. Und wo trotz<lb/> ausgesprochener Individualität eine gewisse innere Verwandtschaft mit dem<lb/> Meister vorhanden ist, wie bei Moritz Moszkowski, Xaver Scharwenka und<lb/> Eduard Schütt, bei dem man allerdings von seinem gemütvollen, echt deutschen<lb/> Humor absehen muß, da ist eine Kunst von außerordentlicher Feinheit der<lb/> Linien und wundervollem Gehalt entstanden, namentlich in der Musik Schnees,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0574]
Zum Verständnis Friedrich Chopins
Vorhalten und Septattorden des Vorspiels zum Wunderwerk des „Tristan" so
ergreifend anhebt und dann namentlich im dritten Akt einen wahrhaft seelen¬
erschütternden Ausdruck findet, allerdings hier noch verstärkt und bestimmt durch
das erklärende Wort der Dichtung, es durchzittert die gesamte Musik Chopins
als der geheime Ton, auf den seine Seele heimlich lauscht, in den Polonaisen
und Mazurken determinierter, in den übrigen Schöpfungen gegenstandsloser,
mystischer, aber immer unverkennbar, ergreifend. Gleich Tristan verliert auch
er sich darum so gern im „Wunderreich der Nacht", und darum weht es uns
gerade bei der Versenkung in die Nocturnes oft wie Tristanstimmung an.
Wird es dem Wagnerkenner also wohl noch auffallen, daß in der Intensität
der Wirkung Chopinscher und Wagnerscher Musik eine merkwürdige Ähnlichkeit
herrscht, ja wenn in der ersteren motivische Gebilde auftauchen, die fast wie
eine Vorausnahme der Ausdrucksweise Wagners erscheinen? In dem l'-äur-
Prölude z. B. Loges Flackermotiv, in der Kantilene des Rondo op. 1 der erste
Takt der zweiten Strophe von Walthers Preislied, in der L-moII-Etude op. 10
das drängende Sehnsuchtsmotiv des „Tristan", in der Phantasie op. 49 eine
Stelle (der Oktavengang mit der chromatischen Triole), der das Motiv der
Hoffnungsfreude im Tristan entspricht, usw.
Eine solche Feststellung ist keine Reminiszenzenjügerei — von einer Entlehnung
des einen vom andern kann ja hier gar keine Rede sein —, sondern sie dient nur
zur Hervorhebung der Ähnlichkeit der seelischen Vorbedingungen ihres künst¬
lerischen Schaffens. Auffallend aber ist es dagegen, daß gerade Karl Lamprecht,
der die Zusammenhänge zwischen den psychologischen Grundlagen der einzelnen
Kulturzeitalter und deren Äußerungen in Kunst und Wissenschaft aufzudecken
sich bemüht, in seinem Geschichtswerk an Chopin mit flüchtiger Namensnennung
vorübergeht: ein schlagenderes Beispiel für die künstlerischen Ausstrahlungen
der von ihm so ausführlich behandelten Reizsamkeit hätte er nicht finden können.
Allerdings ist Chopin kein Deutscher, Liszt aber auch nicht, und tritt der
Einfluß des Meisters auf die Entwicklung unserer modernen Musik auch nicht
in dem Sinne zutage, daß er das Haupt einer Schule geworden ist, — das
ist bei der ganzen Art seines im höchsten Maße subjektiv und national ge¬
haltenen Schaffens gar nicht möglich — so besteht er gleichwohl. Unsere ganze
moderne Klaviermusik steht im Banne der Nachwirkung seiner Persönlichkeit;
man denke dabei nicht bloß an die zahllosen äußerlichen Nachahmungen seiner
Nocturnes oder Walzer, die ganze Technik des Klaviersatzes, die Ausdrucks¬
mittel des Klaviers sind durch ihn in gleicher Weise bereichert worden wie die
des Orchesters und Musikdramas durch Liszt und Wagner. Und wo trotz
ausgesprochener Individualität eine gewisse innere Verwandtschaft mit dem
Meister vorhanden ist, wie bei Moritz Moszkowski, Xaver Scharwenka und
Eduard Schütt, bei dem man allerdings von seinem gemütvollen, echt deutschen
Humor absehen muß, da ist eine Kunst von außerordentlicher Feinheit der
Linien und wundervollem Gehalt entstanden, namentlich in der Musik Schnees,
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