Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Verständnis Friedrich Lhopins

ist Chopin der größte Revolutionär auf menschlichem Gebiete. In seiner Har¬
monik liegt bereits der ganze Reichtum der modernen musikalischen Ausdrucks¬
mittel, ein Kolorismus der Töne, wie er vorher ganz unbekannt war. Indem
er Spannungsgefühle, erzeugt durch unerhört lange tomate Schwankungen, durch
Chromatik, Modulation, Dissonanzen, in neue Spannungen übergehen läßt, erzielt
er Steigerungen von ungeahnten Dimensionen, die das von Breithaupt auf die
Chopinsche Kunst angewandte Wort "Tristantechnik" als durchaus treffend
erscheinen lassen. Seine Melodik ist von so wunderbarer Farbenpracht, von so
herzbezwingender Allgewalt und geradezu plastischer Kraft, daß Robert Schu¬
mann z. B. von den "Pr61nac8" sagen konnte: "Hier aber war mir's, als
blickten mich lauter fremde Augen, Blumenaugen, Bafiliskenaugen, Pfauenaugen,
Mädchenaugen wundersam an." Ist es nicht, als ob alle Sehnsüchte unserer
Romantik in den Poesien des slawischen Meisters in: geheimnisvollen Leben
erblühten?

Es ist die sinnvolle Schönheit in ihrer höchsten Vollendung, die uns aus
den Melodien Chopins entgegentritt, und die Anwendung der auf den sterbenden
Tizian bezogenen, musikalisch wohllautenden Verse Hugo von Hoffmannthals
auf die Musik Chopins dürfte vielleicht ganz im Sinne des literarischen Robert
Schumann sein.

Und vollends als Rhythmiker steht Chopin nahezu unerreicht da. Die
Wiedergabe der seelischen Schwingungen, der momentanen Nervenzustände durch
zeitlich fixierte Werte, die zugleich einen das Gefühl stark erregenden Empfindungs¬
inhalt besitzen, d. h. die Umsetzung der rhythmischen Gefühle in Affekte, dies
Problem hat der Meister in denkbarster Vollkommenheit gelöst. Die Mischung
verschiedener Taktarten in Triolen und Zweitakt, die eine Verwischung der
Taktstriche durch einen häufig gegen das Metrum gehenden Rhythmus des Ge¬
dankens bedingen, der plötzlich aufblitzende Perlenregen nur durch das Gefühl einzu-


Grenzboten IV 1912 72
Zum Verständnis Friedrich Lhopins

ist Chopin der größte Revolutionär auf menschlichem Gebiete. In seiner Har¬
monik liegt bereits der ganze Reichtum der modernen musikalischen Ausdrucks¬
mittel, ein Kolorismus der Töne, wie er vorher ganz unbekannt war. Indem
er Spannungsgefühle, erzeugt durch unerhört lange tomate Schwankungen, durch
Chromatik, Modulation, Dissonanzen, in neue Spannungen übergehen läßt, erzielt
er Steigerungen von ungeahnten Dimensionen, die das von Breithaupt auf die
Chopinsche Kunst angewandte Wort „Tristantechnik" als durchaus treffend
erscheinen lassen. Seine Melodik ist von so wunderbarer Farbenpracht, von so
herzbezwingender Allgewalt und geradezu plastischer Kraft, daß Robert Schu¬
mann z. B. von den „Pr61nac8" sagen konnte: „Hier aber war mir's, als
blickten mich lauter fremde Augen, Blumenaugen, Bafiliskenaugen, Pfauenaugen,
Mädchenaugen wundersam an." Ist es nicht, als ob alle Sehnsüchte unserer
Romantik in den Poesien des slawischen Meisters in: geheimnisvollen Leben
erblühten?

Es ist die sinnvolle Schönheit in ihrer höchsten Vollendung, die uns aus
den Melodien Chopins entgegentritt, und die Anwendung der auf den sterbenden
Tizian bezogenen, musikalisch wohllautenden Verse Hugo von Hoffmannthals
auf die Musik Chopins dürfte vielleicht ganz im Sinne des literarischen Robert
Schumann sein.

Und vollends als Rhythmiker steht Chopin nahezu unerreicht da. Die
Wiedergabe der seelischen Schwingungen, der momentanen Nervenzustände durch
zeitlich fixierte Werte, die zugleich einen das Gefühl stark erregenden Empfindungs¬
inhalt besitzen, d. h. die Umsetzung der rhythmischen Gefühle in Affekte, dies
Problem hat der Meister in denkbarster Vollkommenheit gelöst. Die Mischung
verschiedener Taktarten in Triolen und Zweitakt, die eine Verwischung der
Taktstriche durch einen häufig gegen das Metrum gehenden Rhythmus des Ge¬
dankens bedingen, der plötzlich aufblitzende Perlenregen nur durch das Gefühl einzu-


Grenzboten IV 1912 72
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0572" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322974"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Verständnis Friedrich Lhopins</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2809" prev="#ID_2808"> ist Chopin der größte Revolutionär auf menschlichem Gebiete. In seiner Har¬<lb/>
monik liegt bereits der ganze Reichtum der modernen musikalischen Ausdrucks¬<lb/>
mittel, ein Kolorismus der Töne, wie er vorher ganz unbekannt war. Indem<lb/>
er Spannungsgefühle, erzeugt durch unerhört lange tomate Schwankungen, durch<lb/>
Chromatik, Modulation, Dissonanzen, in neue Spannungen übergehen läßt, erzielt<lb/>
er Steigerungen von ungeahnten Dimensionen, die das von Breithaupt auf die<lb/>
Chopinsche Kunst angewandte Wort &#x201E;Tristantechnik" als durchaus treffend<lb/>
erscheinen lassen. Seine Melodik ist von so wunderbarer Farbenpracht, von so<lb/>
herzbezwingender Allgewalt und geradezu plastischer Kraft, daß Robert Schu¬<lb/>
mann z. B. von den &#x201E;Pr61nac8" sagen konnte: &#x201E;Hier aber war mir's, als<lb/>
blickten mich lauter fremde Augen, Blumenaugen, Bafiliskenaugen, Pfauenaugen,<lb/>
Mädchenaugen wundersam an." Ist es nicht, als ob alle Sehnsüchte unserer<lb/>
Romantik in den Poesien des slawischen Meisters in: geheimnisvollen Leben<lb/>
erblühten?</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_43" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_2810"> Es ist die sinnvolle Schönheit in ihrer höchsten Vollendung, die uns aus<lb/>
den Melodien Chopins entgegentritt, und die Anwendung der auf den sterbenden<lb/>
Tizian bezogenen, musikalisch wohllautenden Verse Hugo von Hoffmannthals<lb/>
auf die Musik Chopins dürfte vielleicht ganz im Sinne des literarischen Robert<lb/>
Schumann sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2811" next="#ID_2812"> Und vollends als Rhythmiker steht Chopin nahezu unerreicht da. Die<lb/>
Wiedergabe der seelischen Schwingungen, der momentanen Nervenzustände durch<lb/>
zeitlich fixierte Werte, die zugleich einen das Gefühl stark erregenden Empfindungs¬<lb/>
inhalt besitzen, d. h. die Umsetzung der rhythmischen Gefühle in Affekte, dies<lb/>
Problem hat der Meister in denkbarster Vollkommenheit gelöst. Die Mischung<lb/>
verschiedener Taktarten in Triolen und Zweitakt, die eine Verwischung der<lb/>
Taktstriche durch einen häufig gegen das Metrum gehenden Rhythmus des Ge¬<lb/>
dankens bedingen, der plötzlich aufblitzende Perlenregen nur durch das Gefühl einzu-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1912 72</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0572] Zum Verständnis Friedrich Lhopins ist Chopin der größte Revolutionär auf menschlichem Gebiete. In seiner Har¬ monik liegt bereits der ganze Reichtum der modernen musikalischen Ausdrucks¬ mittel, ein Kolorismus der Töne, wie er vorher ganz unbekannt war. Indem er Spannungsgefühle, erzeugt durch unerhört lange tomate Schwankungen, durch Chromatik, Modulation, Dissonanzen, in neue Spannungen übergehen läßt, erzielt er Steigerungen von ungeahnten Dimensionen, die das von Breithaupt auf die Chopinsche Kunst angewandte Wort „Tristantechnik" als durchaus treffend erscheinen lassen. Seine Melodik ist von so wunderbarer Farbenpracht, von so herzbezwingender Allgewalt und geradezu plastischer Kraft, daß Robert Schu¬ mann z. B. von den „Pr61nac8" sagen konnte: „Hier aber war mir's, als blickten mich lauter fremde Augen, Blumenaugen, Bafiliskenaugen, Pfauenaugen, Mädchenaugen wundersam an." Ist es nicht, als ob alle Sehnsüchte unserer Romantik in den Poesien des slawischen Meisters in: geheimnisvollen Leben erblühten? Es ist die sinnvolle Schönheit in ihrer höchsten Vollendung, die uns aus den Melodien Chopins entgegentritt, und die Anwendung der auf den sterbenden Tizian bezogenen, musikalisch wohllautenden Verse Hugo von Hoffmannthals auf die Musik Chopins dürfte vielleicht ganz im Sinne des literarischen Robert Schumann sein. Und vollends als Rhythmiker steht Chopin nahezu unerreicht da. Die Wiedergabe der seelischen Schwingungen, der momentanen Nervenzustände durch zeitlich fixierte Werte, die zugleich einen das Gefühl stark erregenden Empfindungs¬ inhalt besitzen, d. h. die Umsetzung der rhythmischen Gefühle in Affekte, dies Problem hat der Meister in denkbarster Vollkommenheit gelöst. Die Mischung verschiedener Taktarten in Triolen und Zweitakt, die eine Verwischung der Taktstriche durch einen häufig gegen das Metrum gehenden Rhythmus des Ge¬ dankens bedingen, der plötzlich aufblitzende Perlenregen nur durch das Gefühl einzu- Grenzboten IV 1912 72

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/572
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/572>, abgerufen am 15.01.2025.