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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Zum Verständnis Friedrich "Lhopins

Jahrzehnte gelebt hat, angenommen: gefühlt hat er sich immer als Nationalpole,
der mit leidenschaftlicher Liebe an seinem Vaterlande hing. Alles, was darauf
Bezug hat, erweckt sein glühendstes Interesse. Das Laubblättchen vom Kahlen-
berg, dem einstigen Lagerplatz des tapferen Jan Sobieski, das er seiner Schwester
schickt, der schmerzliche Ausruf am Schluß eines Briefes, in dem er auf die
Nachricht von den Vorbereitungen zum Aufstande antwortet: "Ach warum kann
ich nicht wenigstens trommeln!", der wahnsinngleiche Paroxismus der Ver¬
zweiflung in den Stuttgarter Aufzeichnungen seines Tagebuchs, als er die Kunde
vom Falle Warschaus erhalten hat -- im Zusammenhang damit steht die leiden¬
schaftlich düstere L-moll-Etude aus op. 10, die künstlerische Befreiungstat aus
jener furchtbaren Stimmung, -- der Brief an seinen Freund Julian Fontana
vom 4. April 1848, darin er seine feste Zuversicht auf die endliche Wieder¬
herstellung eines großen, glänzenden Polens ausspricht, alles dies gibt ein
beredtes Zeugnis für sein Polentum, nicht minder die spezifisch polnische Nörgel¬
sucht, "allem einen Lappen anzuhängen", die Mokanterie, mit der er die gesell¬
schaftlichen Kreise Berlins, Dresdens, Wiens glossiert, die häufige Anwendung
polnischer Sprichwörter und Redewendungen in seinen Briefen, der "psiakrsw-
Preuße", ein Ausdruck, wie ihn nur tödlicher Stammeshaß in die Feder
diktieren kann. Bezeichnend ist ferner im höchsten Maße das eigentümliche
Sentiment, durch das polnische Wort ausgedrückt (nicht übersetzbar, etwa
"sehnsuchtsvolle Wehmut"), die glatte Zuvorkommenheit in der Unterhaltung,
die gleichwohl nicht den geringsten Blick in das Innere gestattet, und die Tat¬
sache, daß mit Ausnahme von Jules Franchomme nur Polen zum engeren
Freundeskreise Chopins gehörten. Nein, dieser Mann war weder ein ganzer,
noch ein halber Franzose, sondern Pole bis ins Mark. Und dies echt polnische
Wesen kommt in seiner Musik da am reinsten zum Ausdruck, wo er heimische
Tanzformen verwendet, vor allem in den Mazureks und den Polonaisen, und
teilweise mit französischer Charme gemischt in den Walzern, es durchzittert als
ein leiser Unterton auch alle seine anderen Dichtungen. Eben darin liegt ein
Hauptreiz seiner Poesie. Auch die wenigen Lieder Chopins sind über polnische
Texte geschrieben, das Lied aber verlangt, wenn es wirkungsvoll sein soll, einen
nationalen Lebensquell, und Chopins Lieder sind geradezu zu Volksliedern
geworden: man singt sie in Polen, ohne daß man weiß, wer ihr Schöpfer ist.
Diesen tief nationalen Charakter der Musik Chopins hat schon Robert Schumann
erkannt: "Wüßte der gewaltige, selbstherrschende Monarch im Norden, wie in
Chopins Werken, in den einfachen Weisen seiner Mazurkas ihm ein gefährlicher
Feind droht, er würde die Musik verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen
eingesenkte Kanonen."

Als echter Pole sah Chopin die Dinge von seinem, d. h. höchst subjektiven
Staudpunkte, was nicht dazu paßte, lehnte er einfach ab; in fremde Individualität
einzudringen, gab er sich nicht die geringste Mühe; darum hat er, der Romantiker
par sxcellenLL, zur deutschen Romantik kein Verhältnis finden können: sehn-


Zum Verständnis Friedrich «Lhopins

Jahrzehnte gelebt hat, angenommen: gefühlt hat er sich immer als Nationalpole,
der mit leidenschaftlicher Liebe an seinem Vaterlande hing. Alles, was darauf
Bezug hat, erweckt sein glühendstes Interesse. Das Laubblättchen vom Kahlen-
berg, dem einstigen Lagerplatz des tapferen Jan Sobieski, das er seiner Schwester
schickt, der schmerzliche Ausruf am Schluß eines Briefes, in dem er auf die
Nachricht von den Vorbereitungen zum Aufstande antwortet: „Ach warum kann
ich nicht wenigstens trommeln!", der wahnsinngleiche Paroxismus der Ver¬
zweiflung in den Stuttgarter Aufzeichnungen seines Tagebuchs, als er die Kunde
vom Falle Warschaus erhalten hat — im Zusammenhang damit steht die leiden¬
schaftlich düstere L-moll-Etude aus op. 10, die künstlerische Befreiungstat aus
jener furchtbaren Stimmung, — der Brief an seinen Freund Julian Fontana
vom 4. April 1848, darin er seine feste Zuversicht auf die endliche Wieder¬
herstellung eines großen, glänzenden Polens ausspricht, alles dies gibt ein
beredtes Zeugnis für sein Polentum, nicht minder die spezifisch polnische Nörgel¬
sucht, „allem einen Lappen anzuhängen", die Mokanterie, mit der er die gesell¬
schaftlichen Kreise Berlins, Dresdens, Wiens glossiert, die häufige Anwendung
polnischer Sprichwörter und Redewendungen in seinen Briefen, der „psiakrsw-
Preuße", ein Ausdruck, wie ihn nur tödlicher Stammeshaß in die Feder
diktieren kann. Bezeichnend ist ferner im höchsten Maße das eigentümliche
Sentiment, durch das polnische Wort ausgedrückt (nicht übersetzbar, etwa
„sehnsuchtsvolle Wehmut"), die glatte Zuvorkommenheit in der Unterhaltung,
die gleichwohl nicht den geringsten Blick in das Innere gestattet, und die Tat¬
sache, daß mit Ausnahme von Jules Franchomme nur Polen zum engeren
Freundeskreise Chopins gehörten. Nein, dieser Mann war weder ein ganzer,
noch ein halber Franzose, sondern Pole bis ins Mark. Und dies echt polnische
Wesen kommt in seiner Musik da am reinsten zum Ausdruck, wo er heimische
Tanzformen verwendet, vor allem in den Mazureks und den Polonaisen, und
teilweise mit französischer Charme gemischt in den Walzern, es durchzittert als
ein leiser Unterton auch alle seine anderen Dichtungen. Eben darin liegt ein
Hauptreiz seiner Poesie. Auch die wenigen Lieder Chopins sind über polnische
Texte geschrieben, das Lied aber verlangt, wenn es wirkungsvoll sein soll, einen
nationalen Lebensquell, und Chopins Lieder sind geradezu zu Volksliedern
geworden: man singt sie in Polen, ohne daß man weiß, wer ihr Schöpfer ist.
Diesen tief nationalen Charakter der Musik Chopins hat schon Robert Schumann
erkannt: „Wüßte der gewaltige, selbstherrschende Monarch im Norden, wie in
Chopins Werken, in den einfachen Weisen seiner Mazurkas ihm ein gefährlicher
Feind droht, er würde die Musik verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen
eingesenkte Kanonen."

Als echter Pole sah Chopin die Dinge von seinem, d. h. höchst subjektiven
Staudpunkte, was nicht dazu paßte, lehnte er einfach ab; in fremde Individualität
einzudringen, gab er sich nicht die geringste Mühe; darum hat er, der Romantiker
par sxcellenLL, zur deutschen Romantik kein Verhältnis finden können: sehn-


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[0567] Zum Verständnis Friedrich «Lhopins Jahrzehnte gelebt hat, angenommen: gefühlt hat er sich immer als Nationalpole, der mit leidenschaftlicher Liebe an seinem Vaterlande hing. Alles, was darauf Bezug hat, erweckt sein glühendstes Interesse. Das Laubblättchen vom Kahlen- berg, dem einstigen Lagerplatz des tapferen Jan Sobieski, das er seiner Schwester schickt, der schmerzliche Ausruf am Schluß eines Briefes, in dem er auf die Nachricht von den Vorbereitungen zum Aufstande antwortet: „Ach warum kann ich nicht wenigstens trommeln!", der wahnsinngleiche Paroxismus der Ver¬ zweiflung in den Stuttgarter Aufzeichnungen seines Tagebuchs, als er die Kunde vom Falle Warschaus erhalten hat — im Zusammenhang damit steht die leiden¬ schaftlich düstere L-moll-Etude aus op. 10, die künstlerische Befreiungstat aus jener furchtbaren Stimmung, — der Brief an seinen Freund Julian Fontana vom 4. April 1848, darin er seine feste Zuversicht auf die endliche Wieder¬ herstellung eines großen, glänzenden Polens ausspricht, alles dies gibt ein beredtes Zeugnis für sein Polentum, nicht minder die spezifisch polnische Nörgel¬ sucht, „allem einen Lappen anzuhängen", die Mokanterie, mit der er die gesell¬ schaftlichen Kreise Berlins, Dresdens, Wiens glossiert, die häufige Anwendung polnischer Sprichwörter und Redewendungen in seinen Briefen, der „psiakrsw- Preuße", ein Ausdruck, wie ihn nur tödlicher Stammeshaß in die Feder diktieren kann. Bezeichnend ist ferner im höchsten Maße das eigentümliche Sentiment, durch das polnische Wort ausgedrückt (nicht übersetzbar, etwa „sehnsuchtsvolle Wehmut"), die glatte Zuvorkommenheit in der Unterhaltung, die gleichwohl nicht den geringsten Blick in das Innere gestattet, und die Tat¬ sache, daß mit Ausnahme von Jules Franchomme nur Polen zum engeren Freundeskreise Chopins gehörten. Nein, dieser Mann war weder ein ganzer, noch ein halber Franzose, sondern Pole bis ins Mark. Und dies echt polnische Wesen kommt in seiner Musik da am reinsten zum Ausdruck, wo er heimische Tanzformen verwendet, vor allem in den Mazureks und den Polonaisen, und teilweise mit französischer Charme gemischt in den Walzern, es durchzittert als ein leiser Unterton auch alle seine anderen Dichtungen. Eben darin liegt ein Hauptreiz seiner Poesie. Auch die wenigen Lieder Chopins sind über polnische Texte geschrieben, das Lied aber verlangt, wenn es wirkungsvoll sein soll, einen nationalen Lebensquell, und Chopins Lieder sind geradezu zu Volksliedern geworden: man singt sie in Polen, ohne daß man weiß, wer ihr Schöpfer ist. Diesen tief nationalen Charakter der Musik Chopins hat schon Robert Schumann erkannt: „Wüßte der gewaltige, selbstherrschende Monarch im Norden, wie in Chopins Werken, in den einfachen Weisen seiner Mazurkas ihm ein gefährlicher Feind droht, er würde die Musik verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen." Als echter Pole sah Chopin die Dinge von seinem, d. h. höchst subjektiven Staudpunkte, was nicht dazu paßte, lehnte er einfach ab; in fremde Individualität einzudringen, gab er sich nicht die geringste Mühe; darum hat er, der Romantiker par sxcellenLL, zur deutschen Romantik kein Verhältnis finden können: sehn-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/567>, abgerufen am 24.01.2025.