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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Zum Verständnis Friedrich (Lhopins
Dr. Hermann Seelige Oon

aris im Winter 1837. Ein kleiner, elegant eingerichteter Salon,
erhellt nur durch die aus dem geöffneten Pleyelschen Flügel
brennenden Kerzen und den rötlichen Schein des flackernden Kamin¬
feuers, so daß in den dunklen Ecken des Zimmers der Raum
sich ins Unermeßliche zu dehnen scheint. In weiterem oder
fernerem Abstände um das Instrument gruppiert, eine eigenartig zusammen¬
gesetzte Gesellschaft. Wir erkennen Heinrich Heine und Meyerbeer, Franz Liszt
und Ferdinand Hiller, die polnischen Dichter Niemcewicz und Mickiewicz, den
asketisch katholischen Opernsänger Adolf Nourrit, den Maler Delacroix. von
Frauen die liebliche Gräfin d'Agonie und das klassische Profil der George Sand:
in reglos stummer Haltung scheinen sie alle unter dem Banne eines ungeheuren
seelischen Eindrucks zu stehen. Denn vom Flügel her klingen, durch ein sammet¬
weiches Spiel den Saiten entlockt, Töne von wunderbarer, nie geahnter
Schönheit, bald trostlos und todestraurig, dann wieder erblühend in heimlicher
Wonne. Und in allen Sehnsucht, Sehnsucht... Am Instrument sitzt Fr6deric
Chopin und improvisiert.................

Von den Zeitgenossen haben dem Außergewöhnlichem der genialischer
Erscheinung Chopins eigentlich nur Franz Liszt und Robert Schumann das
feinfühligste Verständnis entgegengebracht. Aber auch selbst der letztere, der
sich mit geradezu schwärmerischer Begeisterung in die Tonwerke des Kunstgenossen
versenkt, sieht sich hier zuweilen einem Problem gegenüber, das er nicht zu
lösen imstande ist. Und da vollends auf "historischem Wege" ihm ganz uno
gar nicht beizukommen und seine Kunst aus der Geschichte der Entwicklung des
Klavierstils schlechthin nicht zu erklären war, hatte man sich allmählich in der
Erinnerung seines schweren körperlichen Leidens daran gewöhnt, auch in seiner
Musik vielfach etwas Krankhaftes zu erblicken. Ein großer Irrtum. Diese
Musik ist durchaus nicht krankhaft, sondern sie ist der sublimierteste Ausdruck
eines Seelenlebens, das wiederum eine Nervenkonstrultion von unerhörter
Reizbarkeit zur Voraussetzung hat.




Zum Verständnis Friedrich (Lhopins
Dr. Hermann Seelige Oon

aris im Winter 1837. Ein kleiner, elegant eingerichteter Salon,
erhellt nur durch die aus dem geöffneten Pleyelschen Flügel
brennenden Kerzen und den rötlichen Schein des flackernden Kamin¬
feuers, so daß in den dunklen Ecken des Zimmers der Raum
sich ins Unermeßliche zu dehnen scheint. In weiterem oder
fernerem Abstände um das Instrument gruppiert, eine eigenartig zusammen¬
gesetzte Gesellschaft. Wir erkennen Heinrich Heine und Meyerbeer, Franz Liszt
und Ferdinand Hiller, die polnischen Dichter Niemcewicz und Mickiewicz, den
asketisch katholischen Opernsänger Adolf Nourrit, den Maler Delacroix. von
Frauen die liebliche Gräfin d'Agonie und das klassische Profil der George Sand:
in reglos stummer Haltung scheinen sie alle unter dem Banne eines ungeheuren
seelischen Eindrucks zu stehen. Denn vom Flügel her klingen, durch ein sammet¬
weiches Spiel den Saiten entlockt, Töne von wunderbarer, nie geahnter
Schönheit, bald trostlos und todestraurig, dann wieder erblühend in heimlicher
Wonne. Und in allen Sehnsucht, Sehnsucht... Am Instrument sitzt Fr6deric
Chopin und improvisiert.................

Von den Zeitgenossen haben dem Außergewöhnlichem der genialischer
Erscheinung Chopins eigentlich nur Franz Liszt und Robert Schumann das
feinfühligste Verständnis entgegengebracht. Aber auch selbst der letztere, der
sich mit geradezu schwärmerischer Begeisterung in die Tonwerke des Kunstgenossen
versenkt, sieht sich hier zuweilen einem Problem gegenüber, das er nicht zu
lösen imstande ist. Und da vollends auf „historischem Wege" ihm ganz uno
gar nicht beizukommen und seine Kunst aus der Geschichte der Entwicklung des
Klavierstils schlechthin nicht zu erklären war, hatte man sich allmählich in der
Erinnerung seines schweren körperlichen Leidens daran gewöhnt, auch in seiner
Musik vielfach etwas Krankhaftes zu erblicken. Ein großer Irrtum. Diese
Musik ist durchaus nicht krankhaft, sondern sie ist der sublimierteste Ausdruck
eines Seelenlebens, das wiederum eine Nervenkonstrultion von unerhörter
Reizbarkeit zur Voraussetzung hat.


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[0565] [Abbildung] Zum Verständnis Friedrich (Lhopins Dr. Hermann Seelige Oon aris im Winter 1837. Ein kleiner, elegant eingerichteter Salon, erhellt nur durch die aus dem geöffneten Pleyelschen Flügel brennenden Kerzen und den rötlichen Schein des flackernden Kamin¬ feuers, so daß in den dunklen Ecken des Zimmers der Raum sich ins Unermeßliche zu dehnen scheint. In weiterem oder fernerem Abstände um das Instrument gruppiert, eine eigenartig zusammen¬ gesetzte Gesellschaft. Wir erkennen Heinrich Heine und Meyerbeer, Franz Liszt und Ferdinand Hiller, die polnischen Dichter Niemcewicz und Mickiewicz, den asketisch katholischen Opernsänger Adolf Nourrit, den Maler Delacroix. von Frauen die liebliche Gräfin d'Agonie und das klassische Profil der George Sand: in reglos stummer Haltung scheinen sie alle unter dem Banne eines ungeheuren seelischen Eindrucks zu stehen. Denn vom Flügel her klingen, durch ein sammet¬ weiches Spiel den Saiten entlockt, Töne von wunderbarer, nie geahnter Schönheit, bald trostlos und todestraurig, dann wieder erblühend in heimlicher Wonne. Und in allen Sehnsucht, Sehnsucht... Am Instrument sitzt Fr6deric Chopin und improvisiert................. Von den Zeitgenossen haben dem Außergewöhnlichem der genialischer Erscheinung Chopins eigentlich nur Franz Liszt und Robert Schumann das feinfühligste Verständnis entgegengebracht. Aber auch selbst der letztere, der sich mit geradezu schwärmerischer Begeisterung in die Tonwerke des Kunstgenossen versenkt, sieht sich hier zuweilen einem Problem gegenüber, das er nicht zu lösen imstande ist. Und da vollends auf „historischem Wege" ihm ganz uno gar nicht beizukommen und seine Kunst aus der Geschichte der Entwicklung des Klavierstils schlechthin nicht zu erklären war, hatte man sich allmählich in der Erinnerung seines schweren körperlichen Leidens daran gewöhnt, auch in seiner Musik vielfach etwas Krankhaftes zu erblicken. Ein großer Irrtum. Diese Musik ist durchaus nicht krankhaft, sondern sie ist der sublimierteste Ausdruck eines Seelenlebens, das wiederum eine Nervenkonstrultion von unerhörter Reizbarkeit zur Voraussetzung hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/565>, abgerufen am 15.01.2025.