Wenn die Erörterungen über den mutmaßlichen Nachfolger des leider von uns gegangenen Freiherrn Marschall von Biederstem einen so breiten Raum in der Tagespresse einnehmen, so sind daran nicht allein die zum Teil übertriebenen Erwartungen und Hoffnungen schuld, die sich seinerzeit an die Ernennung dieses Staatsmannes auf deu Posten eines Londoner Botschafters knüpften. Vielmehr ist es die Bedeutung, die die öffentliche Meinung dem Posten selbst für die weitere Entwicklung der deutschen auswärtigen Politik zumißt.
Seit es feststeht, daß England uns gegenüber eine Politik übt, die stark an jene erinnert, die Albion während des achtzehnten Jahrhunderts gegen Frankreich in so glücklicher Weise verfolgte, gilt London als die Zentrale, von der aus die für Deutschland wichtigsten Fäden der Weltpolitik gesponnen werden. Kann die Tatsache an sich zugegeben werden, so darf es auch nicht Wunder nehmen, wenn sich um unsere Stellung zu England zwei Parteien gebildet haben, deren eine die Erhaltung des Friedens um jeden Preis fordert, deren andere einer Entscheidung durch das Schwert lieber heute als morgen zustrebt. Was wäre da natürlicher, als wenn beide Parteien danach trachten, solche Kandidaten auf den freigewordenen Platz zu bringen, die den eigenen Auffassungen von den Aufgaben der deutschen Politik am besten zu entsprechen scheinen. Das alles beweist aber doch noch nicht, daß nun London auch der wichtigste diplomatische Posten wäre, den Deutschland zurzeit zu besetzen hätte.
An die zu wählende Persönlichkeit werden Ansprüche gestellt, die sich schwer in Einklang bringen lassen: die Friedensucher sehen sich nach einer gewandten, mit unerschütterlicher Ruhe ausgerüsteten weisen Persönlichkeit um; jene, die zum Bruch treiben, legen größeren Wert auf schneidiges Auftreten und Rücksichtslosigkeit im Fordern. Daneben melden sich auch die kleineren Jnteressenpolitiker mit ihren Kandidaten. Von ziemlich einseitigen Gesichtspunkten ausgehend, machen sie die ihnen genehmen Persönlichkeiten namhaft. So entsteht ein munteres Rätsel¬ raten, das unter der Tarnkappe des sachlichen Interesses eigentlich nur dem Sensationsbedürfuis gerecht wird, da es Gelegenheit zur Aufrollung alles möglichen persönlichen Klatsches gibt. Leider nimmt nicht nur das ungebildete Publikum und das mit den tatsächlichen inneren Verhältnissen Deutschlands wenig vertraute Ausland diesen Unfug viel zu ernst.
Selbstverständlich ist auch der Ruf nach einem Kaufmann wieder lebendig geworden. Ich möchte dazu nur an ein Wort Marschalls erinnern, das dieser einmal nicht eben höflich nach Deutschland zurückrief, als ihm vorgeworfen wurde,
Reichsspiegel
Botschafterwechsel
Wenn die Erörterungen über den mutmaßlichen Nachfolger des leider von uns gegangenen Freiherrn Marschall von Biederstem einen so breiten Raum in der Tagespresse einnehmen, so sind daran nicht allein die zum Teil übertriebenen Erwartungen und Hoffnungen schuld, die sich seinerzeit an die Ernennung dieses Staatsmannes auf deu Posten eines Londoner Botschafters knüpften. Vielmehr ist es die Bedeutung, die die öffentliche Meinung dem Posten selbst für die weitere Entwicklung der deutschen auswärtigen Politik zumißt.
Seit es feststeht, daß England uns gegenüber eine Politik übt, die stark an jene erinnert, die Albion während des achtzehnten Jahrhunderts gegen Frankreich in so glücklicher Weise verfolgte, gilt London als die Zentrale, von der aus die für Deutschland wichtigsten Fäden der Weltpolitik gesponnen werden. Kann die Tatsache an sich zugegeben werden, so darf es auch nicht Wunder nehmen, wenn sich um unsere Stellung zu England zwei Parteien gebildet haben, deren eine die Erhaltung des Friedens um jeden Preis fordert, deren andere einer Entscheidung durch das Schwert lieber heute als morgen zustrebt. Was wäre da natürlicher, als wenn beide Parteien danach trachten, solche Kandidaten auf den freigewordenen Platz zu bringen, die den eigenen Auffassungen von den Aufgaben der deutschen Politik am besten zu entsprechen scheinen. Das alles beweist aber doch noch nicht, daß nun London auch der wichtigste diplomatische Posten wäre, den Deutschland zurzeit zu besetzen hätte.
An die zu wählende Persönlichkeit werden Ansprüche gestellt, die sich schwer in Einklang bringen lassen: die Friedensucher sehen sich nach einer gewandten, mit unerschütterlicher Ruhe ausgerüsteten weisen Persönlichkeit um; jene, die zum Bruch treiben, legen größeren Wert auf schneidiges Auftreten und Rücksichtslosigkeit im Fordern. Daneben melden sich auch die kleineren Jnteressenpolitiker mit ihren Kandidaten. Von ziemlich einseitigen Gesichtspunkten ausgehend, machen sie die ihnen genehmen Persönlichkeiten namhaft. So entsteht ein munteres Rätsel¬ raten, das unter der Tarnkappe des sachlichen Interesses eigentlich nur dem Sensationsbedürfuis gerecht wird, da es Gelegenheit zur Aufrollung alles möglichen persönlichen Klatsches gibt. Leider nimmt nicht nur das ungebildete Publikum und das mit den tatsächlichen inneren Verhältnissen Deutschlands wenig vertraute Ausland diesen Unfug viel zu ernst.
Selbstverständlich ist auch der Ruf nach einem Kaufmann wieder lebendig geworden. Ich möchte dazu nur an ein Wort Marschalls erinnern, das dieser einmal nicht eben höflich nach Deutschland zurückrief, als ihm vorgeworfen wurde,
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Reichsspiegel
Botschafterwechsel
Wenn die Erörterungen über den mutmaßlichen Nachfolger des leider von
uns gegangenen Freiherrn Marschall von Biederstem einen so breiten Raum in
der Tagespresse einnehmen, so sind daran nicht allein die zum Teil übertriebenen
Erwartungen und Hoffnungen schuld, die sich seinerzeit an die Ernennung dieses
Staatsmannes auf deu Posten eines Londoner Botschafters knüpften. Vielmehr
ist es die Bedeutung, die die öffentliche Meinung dem Posten selbst für die weitere
Entwicklung der deutschen auswärtigen Politik zumißt.
Seit es feststeht, daß England uns gegenüber eine Politik übt, die stark an
jene erinnert, die Albion während des achtzehnten Jahrhunderts gegen Frankreich
in so glücklicher Weise verfolgte, gilt London als die Zentrale, von der aus die
für Deutschland wichtigsten Fäden der Weltpolitik gesponnen werden. Kann die
Tatsache an sich zugegeben werden, so darf es auch nicht Wunder nehmen, wenn
sich um unsere Stellung zu England zwei Parteien gebildet haben, deren eine
die Erhaltung des Friedens um jeden Preis fordert, deren andere einer Entscheidung
durch das Schwert lieber heute als morgen zustrebt. Was wäre da natürlicher,
als wenn beide Parteien danach trachten, solche Kandidaten auf den freigewordenen
Platz zu bringen, die den eigenen Auffassungen von den Aufgaben der deutschen
Politik am besten zu entsprechen scheinen. Das alles beweist aber doch noch nicht,
daß nun London auch der wichtigste diplomatische Posten wäre, den Deutschland
zurzeit zu besetzen hätte.
An die zu wählende Persönlichkeit werden Ansprüche gestellt, die sich schwer
in Einklang bringen lassen: die Friedensucher sehen sich nach einer gewandten,
mit unerschütterlicher Ruhe ausgerüsteten weisen Persönlichkeit um; jene, die zum
Bruch treiben, legen größeren Wert auf schneidiges Auftreten und Rücksichtslosigkeit
im Fordern. Daneben melden sich auch die kleineren Jnteressenpolitiker mit
ihren Kandidaten. Von ziemlich einseitigen Gesichtspunkten ausgehend, machen
sie die ihnen genehmen Persönlichkeiten namhaft. So entsteht ein munteres Rätsel¬
raten, das unter der Tarnkappe des sachlichen Interesses eigentlich nur dem
Sensationsbedürfuis gerecht wird, da es Gelegenheit zur Aufrollung alles möglichen
persönlichen Klatsches gibt. Leider nimmt nicht nur das ungebildete Publikum
und das mit den tatsächlichen inneren Verhältnissen Deutschlands wenig vertraute
Ausland diesen Unfug viel zu ernst.
Selbstverständlich ist auch der Ruf nach einem Kaufmann wieder lebendig
geworden. Ich möchte dazu nur an ein Wort Marschalls erinnern, das dieser
einmal nicht eben höflich nach Deutschland zurückrief, als ihm vorgeworfen wurde,
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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/56>, abgerufen am 23.01.2025.
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