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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Karl Salzer

alles auf mit der Weisung, die Säcke und Decke gut heiß zu machen. Er springt
hinüber zum Schullehrer Ohlinger, der über der Straße wohnt. Den hat der
Hannes Holtner zum Freund. Dort sitzt er heute und läßt sich Klavier vorspielen.

Bis in den sinkenden Abend sind die beiden um das Tier beschäftigt, dem
das lange Stehen im Stalle stets schadet. Erst als es ruhiger geworden ist, fragt
Karl, ob es dem Unkel Hannes nichts ausmachen tat, wenn er jetzt einmal auf
den Friedhof gehe.

Da entläßt Hannes Holtner den Burschen. Ja, er solle nur gehen und könne
bleiben, so lange er Lust habe; aber nicht zu hitzig solle er sein.

Karl Salzer steigt in seine Kammer, zieht dickere Kleider an und festere Schuhe;
denn er ist entschlossen, zu warten, bis der Fulde-Jean kommt, und wenn es über
die Nacht ist.

Wieder findet er das Kreuz unversehrt. Also war der Fuld noch nicht da¬
gewesen.

Nun wird er warten müssen, bis er kommt. Vielleicht geschieht das, bevor
er vom Tanzen zum Nachtessen geht, vielleicht auch erst nach dem Nachtessen.
Einerlei, er wird warten, unerschütterlich warten.

Er schaut sich um, wo es da ein Versteck für ihn gäbe, damit der Fuld nicht
schon beim Betreten des Friedhofs seiner ansichtig werde.

Fünfzig Schritt hinauf in einer der weiter rückwärtsliegenden Gräberreihen
steht eine dichte, schon am Boden sich verästelnde Zypresse. Dorthin geht er und
hockt sich hinter den Baum.

Es wird düster und düsterer. Die Grabsteine, Kreuze und Bäume, Zypressen,
Trauerweiden und Flieder treten immer tiefer in die Dämmerung.

Zuweilen reckt der Bursche sich in die Höhe und dehnt die Glieder, die ihm
in der kauernden Stellung steif werden. Ab und zu reibt er auch die Augen; sie
schmerzen von dem scharfen Spähen nach dem Friedhofstor.

Um acht Uhr war noch niemand da, und es ist ganz stille und dunkel. Hin
und wieder läuft dem Burschen ein Furchtfrösteln den Rücken hinunter. Dann ist
er froh, wenn er menschliche Stimmen hört von Leuten, die am Friedhofe vorbei
hinter dem Parke her nach Hause gehen.

Er wartet bis neun Uhr. Niemand kommt.

Zehn Uhr.

Niemand war da. Wird er nicht kommen? Hat er nur im Dusel gesprochen,
oder hat er sein Vorhaben vergessen?

Karl überlegt, ob er nicht lieber heimgehen soll. Es ist schauerlich, in tiefer
Dunkelheit auf dem Friedhofe allein zu sitzen. Aber der Fulde-Jean hat viel¬
leicht weniger Furcht wie er und kommt nach dem Tanzen heraus. Also bleibt
man da. Er verläßt sein Versteck und stellt sich vor die Zypresse.

Es wird kühl, und der Nachttau fällt. Karls Haare und Wimpern feuchten
sich, die Augen brennen. Er bindet sich das Taschentuch um den Kopf, so, daß
der Wulst dicht über den Augenbrauen liegt. Nun kann der Tau nicht so scharf
in die Augen.

Klar hallen die Glockenschläge von der Kirche herüber.

Elf Uhr.


Karl Salzer

alles auf mit der Weisung, die Säcke und Decke gut heiß zu machen. Er springt
hinüber zum Schullehrer Ohlinger, der über der Straße wohnt. Den hat der
Hannes Holtner zum Freund. Dort sitzt er heute und läßt sich Klavier vorspielen.

Bis in den sinkenden Abend sind die beiden um das Tier beschäftigt, dem
das lange Stehen im Stalle stets schadet. Erst als es ruhiger geworden ist, fragt
Karl, ob es dem Unkel Hannes nichts ausmachen tat, wenn er jetzt einmal auf
den Friedhof gehe.

Da entläßt Hannes Holtner den Burschen. Ja, er solle nur gehen und könne
bleiben, so lange er Lust habe; aber nicht zu hitzig solle er sein.

Karl Salzer steigt in seine Kammer, zieht dickere Kleider an und festere Schuhe;
denn er ist entschlossen, zu warten, bis der Fulde-Jean kommt, und wenn es über
die Nacht ist.

Wieder findet er das Kreuz unversehrt. Also war der Fuld noch nicht da¬
gewesen.

Nun wird er warten müssen, bis er kommt. Vielleicht geschieht das, bevor
er vom Tanzen zum Nachtessen geht, vielleicht auch erst nach dem Nachtessen.
Einerlei, er wird warten, unerschütterlich warten.

Er schaut sich um, wo es da ein Versteck für ihn gäbe, damit der Fuld nicht
schon beim Betreten des Friedhofs seiner ansichtig werde.

Fünfzig Schritt hinauf in einer der weiter rückwärtsliegenden Gräberreihen
steht eine dichte, schon am Boden sich verästelnde Zypresse. Dorthin geht er und
hockt sich hinter den Baum.

Es wird düster und düsterer. Die Grabsteine, Kreuze und Bäume, Zypressen,
Trauerweiden und Flieder treten immer tiefer in die Dämmerung.

Zuweilen reckt der Bursche sich in die Höhe und dehnt die Glieder, die ihm
in der kauernden Stellung steif werden. Ab und zu reibt er auch die Augen; sie
schmerzen von dem scharfen Spähen nach dem Friedhofstor.

Um acht Uhr war noch niemand da, und es ist ganz stille und dunkel. Hin
und wieder läuft dem Burschen ein Furchtfrösteln den Rücken hinunter. Dann ist
er froh, wenn er menschliche Stimmen hört von Leuten, die am Friedhofe vorbei
hinter dem Parke her nach Hause gehen.

Er wartet bis neun Uhr. Niemand kommt.

Zehn Uhr.

Niemand war da. Wird er nicht kommen? Hat er nur im Dusel gesprochen,
oder hat er sein Vorhaben vergessen?

Karl überlegt, ob er nicht lieber heimgehen soll. Es ist schauerlich, in tiefer
Dunkelheit auf dem Friedhofe allein zu sitzen. Aber der Fulde-Jean hat viel¬
leicht weniger Furcht wie er und kommt nach dem Tanzen heraus. Also bleibt
man da. Er verläßt sein Versteck und stellt sich vor die Zypresse.

Es wird kühl, und der Nachttau fällt. Karls Haare und Wimpern feuchten
sich, die Augen brennen. Er bindet sich das Taschentuch um den Kopf, so, daß
der Wulst dicht über den Augenbrauen liegt. Nun kann der Tau nicht so scharf
in die Augen.

Klar hallen die Glockenschläge von der Kirche herüber.

Elf Uhr.


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[0530] Karl Salzer alles auf mit der Weisung, die Säcke und Decke gut heiß zu machen. Er springt hinüber zum Schullehrer Ohlinger, der über der Straße wohnt. Den hat der Hannes Holtner zum Freund. Dort sitzt er heute und läßt sich Klavier vorspielen. Bis in den sinkenden Abend sind die beiden um das Tier beschäftigt, dem das lange Stehen im Stalle stets schadet. Erst als es ruhiger geworden ist, fragt Karl, ob es dem Unkel Hannes nichts ausmachen tat, wenn er jetzt einmal auf den Friedhof gehe. Da entläßt Hannes Holtner den Burschen. Ja, er solle nur gehen und könne bleiben, so lange er Lust habe; aber nicht zu hitzig solle er sein. Karl Salzer steigt in seine Kammer, zieht dickere Kleider an und festere Schuhe; denn er ist entschlossen, zu warten, bis der Fulde-Jean kommt, und wenn es über die Nacht ist. Wieder findet er das Kreuz unversehrt. Also war der Fuld noch nicht da¬ gewesen. Nun wird er warten müssen, bis er kommt. Vielleicht geschieht das, bevor er vom Tanzen zum Nachtessen geht, vielleicht auch erst nach dem Nachtessen. Einerlei, er wird warten, unerschütterlich warten. Er schaut sich um, wo es da ein Versteck für ihn gäbe, damit der Fuld nicht schon beim Betreten des Friedhofs seiner ansichtig werde. Fünfzig Schritt hinauf in einer der weiter rückwärtsliegenden Gräberreihen steht eine dichte, schon am Boden sich verästelnde Zypresse. Dorthin geht er und hockt sich hinter den Baum. Es wird düster und düsterer. Die Grabsteine, Kreuze und Bäume, Zypressen, Trauerweiden und Flieder treten immer tiefer in die Dämmerung. Zuweilen reckt der Bursche sich in die Höhe und dehnt die Glieder, die ihm in der kauernden Stellung steif werden. Ab und zu reibt er auch die Augen; sie schmerzen von dem scharfen Spähen nach dem Friedhofstor. Um acht Uhr war noch niemand da, und es ist ganz stille und dunkel. Hin und wieder läuft dem Burschen ein Furchtfrösteln den Rücken hinunter. Dann ist er froh, wenn er menschliche Stimmen hört von Leuten, die am Friedhofe vorbei hinter dem Parke her nach Hause gehen. Er wartet bis neun Uhr. Niemand kommt. Zehn Uhr. Niemand war da. Wird er nicht kommen? Hat er nur im Dusel gesprochen, oder hat er sein Vorhaben vergessen? Karl überlegt, ob er nicht lieber heimgehen soll. Es ist schauerlich, in tiefer Dunkelheit auf dem Friedhofe allein zu sitzen. Aber der Fulde-Jean hat viel¬ leicht weniger Furcht wie er und kommt nach dem Tanzen heraus. Also bleibt man da. Er verläßt sein Versteck und stellt sich vor die Zypresse. Es wird kühl, und der Nachttau fällt. Karls Haare und Wimpern feuchten sich, die Augen brennen. Er bindet sich das Taschentuch um den Kopf, so, daß der Wulst dicht über den Augenbrauen liegt. Nun kann der Tau nicht so scharf in die Augen. Klar hallen die Glockenschläge von der Kirche herüber. Elf Uhr.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/530>, abgerufen am 15.01.2025.