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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems

seelischen Daten. Vor allem aber müssen einsichtige Forscher zugeben, daß
"es heute noch dem Physiologen ganz unmöglich ist, sich von den mechanischen
Prozessen, welche komplizierteren psychischen Leistungen: der Vergleichung, der
Verschmelzung, der Abstraktion, dem Urteilen und Schließen, entsprechen sollen,
auch nur in den allergröbsten Umrissen eine Vorstellung zu machen, welche nicht
rein hypothetisch, ja phantastisch wäre". (Jott.)

Nicht in den physiologischen Tatsachen allein also, sondern in einem
Zusammenwirken jener körperlichen Grundlagen mit den von ihnen wesens¬
verschiedenen Bewußtseinsdaten, muß die Erklärung des Seelenlebens gesucht
werden.

Damit erhebt sich nun auch für die moderne Wissenschaft das Problem,
wie ein solches Zusammenwirken dieser wesensverschiedenen Gebiete zu denken, wie
dementsprechend die Wechselbeziehungen von Leib und Seele zu deuten sind.
Vielleicht können wir heut noch keine endgültige, mathematisch-genaue Antwort
auf dieses Grundproblem geben; Becher stellt sich in den dem "Leib-Seele-
Problem" gewidmeten Abschnitten seines Buches darum in erster Linie die Auf¬
gabe, in dieser, die Geister scheidenden Erörterung "Vorarbeit zu leisten,
Vorurteile zu beseitigen und freie Bahn für eine unbefangene Abwägung der
Argumente zu schaffen".

Indem wir die rein physiologische Deutung des Bewußtseins als ungültig
erkannten, scheidet für uns zugleich eine Lösung unseres Problems von vorn¬
herein aus: die Auffassung, als sei das Bewußtsein, als sei das Seelische nur
eine unwesentliche Erscheinung des allein realen körperlichen Seins -- also
die metaphysische Hypothese des "Materialismus". Aber nicht nur die Er¬
wägungen über die Natur der geistigen Vorgänge sprechen gegen diese, jetzt im
Absterben begriffene Weltauffassung; eine viel einfachere und zugleich grund¬
legendere Überlegung gräbt ihr die Wurzeln ab. Was stellt denn das eigentliche
Urmaterial aller unserer Erfahrung dar? In welcher Form wird alles, was
wir überhaupt kennen, wird also auch die Naturerfahrung uns vermittelt? In
Form von Bewußtseinsinhalten! Erst auf Grund dieser seelischen Eindrücke schließen
wir auf das Vorhandensein einer Außenwelt; darum muß jeder Versuch, die
Realität des Seelischen wegzuleugnen, notwendig mißlingen.

Wir haben vielmehr anzuerkennen, daß uns zweierlei Wirklichkeit gegeben
ist: seelische und körperliche. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden hat
in der modernen Wissenschaft zwei entgegenstehende Weltauffassungen gezeitigt:
die Wechselwirkungslehre einerseits -- und die Theorie des psychophysischen
Parallelismus anderseits; jene ist durch Lotze und seine Schüler, -- diese
durch Ebbinghaus, Wundt u. a. vertreten. Nach der Lehre des Parallelismus
gehen die materiellen und die seelischen Prozesse beständig gesetzmäßig einander
parallel, ohne an irgendeiner Stelle zu Ursache und Wirkung zusammenzutreten.
Allenthalben aber, so lehren einige Vertreter dieser Auffassung -- vor allem
ihr genialer Begründer G. Th. Fechner --, ist mit Materiellen ein


Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems

seelischen Daten. Vor allem aber müssen einsichtige Forscher zugeben, daß
„es heute noch dem Physiologen ganz unmöglich ist, sich von den mechanischen
Prozessen, welche komplizierteren psychischen Leistungen: der Vergleichung, der
Verschmelzung, der Abstraktion, dem Urteilen und Schließen, entsprechen sollen,
auch nur in den allergröbsten Umrissen eine Vorstellung zu machen, welche nicht
rein hypothetisch, ja phantastisch wäre". (Jott.)

Nicht in den physiologischen Tatsachen allein also, sondern in einem
Zusammenwirken jener körperlichen Grundlagen mit den von ihnen wesens¬
verschiedenen Bewußtseinsdaten, muß die Erklärung des Seelenlebens gesucht
werden.

Damit erhebt sich nun auch für die moderne Wissenschaft das Problem,
wie ein solches Zusammenwirken dieser wesensverschiedenen Gebiete zu denken, wie
dementsprechend die Wechselbeziehungen von Leib und Seele zu deuten sind.
Vielleicht können wir heut noch keine endgültige, mathematisch-genaue Antwort
auf dieses Grundproblem geben; Becher stellt sich in den dem „Leib-Seele-
Problem" gewidmeten Abschnitten seines Buches darum in erster Linie die Auf¬
gabe, in dieser, die Geister scheidenden Erörterung „Vorarbeit zu leisten,
Vorurteile zu beseitigen und freie Bahn für eine unbefangene Abwägung der
Argumente zu schaffen".

Indem wir die rein physiologische Deutung des Bewußtseins als ungültig
erkannten, scheidet für uns zugleich eine Lösung unseres Problems von vorn¬
herein aus: die Auffassung, als sei das Bewußtsein, als sei das Seelische nur
eine unwesentliche Erscheinung des allein realen körperlichen Seins — also
die metaphysische Hypothese des „Materialismus". Aber nicht nur die Er¬
wägungen über die Natur der geistigen Vorgänge sprechen gegen diese, jetzt im
Absterben begriffene Weltauffassung; eine viel einfachere und zugleich grund¬
legendere Überlegung gräbt ihr die Wurzeln ab. Was stellt denn das eigentliche
Urmaterial aller unserer Erfahrung dar? In welcher Form wird alles, was
wir überhaupt kennen, wird also auch die Naturerfahrung uns vermittelt? In
Form von Bewußtseinsinhalten! Erst auf Grund dieser seelischen Eindrücke schließen
wir auf das Vorhandensein einer Außenwelt; darum muß jeder Versuch, die
Realität des Seelischen wegzuleugnen, notwendig mißlingen.

Wir haben vielmehr anzuerkennen, daß uns zweierlei Wirklichkeit gegeben
ist: seelische und körperliche. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden hat
in der modernen Wissenschaft zwei entgegenstehende Weltauffassungen gezeitigt:
die Wechselwirkungslehre einerseits — und die Theorie des psychophysischen
Parallelismus anderseits; jene ist durch Lotze und seine Schüler, — diese
durch Ebbinghaus, Wundt u. a. vertreten. Nach der Lehre des Parallelismus
gehen die materiellen und die seelischen Prozesse beständig gesetzmäßig einander
parallel, ohne an irgendeiner Stelle zu Ursache und Wirkung zusammenzutreten.
Allenthalben aber, so lehren einige Vertreter dieser Auffassung — vor allem
ihr genialer Begründer G. Th. Fechner —, ist mit Materiellen ein


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[0521] Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems seelischen Daten. Vor allem aber müssen einsichtige Forscher zugeben, daß „es heute noch dem Physiologen ganz unmöglich ist, sich von den mechanischen Prozessen, welche komplizierteren psychischen Leistungen: der Vergleichung, der Verschmelzung, der Abstraktion, dem Urteilen und Schließen, entsprechen sollen, auch nur in den allergröbsten Umrissen eine Vorstellung zu machen, welche nicht rein hypothetisch, ja phantastisch wäre". (Jott.) Nicht in den physiologischen Tatsachen allein also, sondern in einem Zusammenwirken jener körperlichen Grundlagen mit den von ihnen wesens¬ verschiedenen Bewußtseinsdaten, muß die Erklärung des Seelenlebens gesucht werden. Damit erhebt sich nun auch für die moderne Wissenschaft das Problem, wie ein solches Zusammenwirken dieser wesensverschiedenen Gebiete zu denken, wie dementsprechend die Wechselbeziehungen von Leib und Seele zu deuten sind. Vielleicht können wir heut noch keine endgültige, mathematisch-genaue Antwort auf dieses Grundproblem geben; Becher stellt sich in den dem „Leib-Seele- Problem" gewidmeten Abschnitten seines Buches darum in erster Linie die Auf¬ gabe, in dieser, die Geister scheidenden Erörterung „Vorarbeit zu leisten, Vorurteile zu beseitigen und freie Bahn für eine unbefangene Abwägung der Argumente zu schaffen". Indem wir die rein physiologische Deutung des Bewußtseins als ungültig erkannten, scheidet für uns zugleich eine Lösung unseres Problems von vorn¬ herein aus: die Auffassung, als sei das Bewußtsein, als sei das Seelische nur eine unwesentliche Erscheinung des allein realen körperlichen Seins — also die metaphysische Hypothese des „Materialismus". Aber nicht nur die Er¬ wägungen über die Natur der geistigen Vorgänge sprechen gegen diese, jetzt im Absterben begriffene Weltauffassung; eine viel einfachere und zugleich grund¬ legendere Überlegung gräbt ihr die Wurzeln ab. Was stellt denn das eigentliche Urmaterial aller unserer Erfahrung dar? In welcher Form wird alles, was wir überhaupt kennen, wird also auch die Naturerfahrung uns vermittelt? In Form von Bewußtseinsinhalten! Erst auf Grund dieser seelischen Eindrücke schließen wir auf das Vorhandensein einer Außenwelt; darum muß jeder Versuch, die Realität des Seelischen wegzuleugnen, notwendig mißlingen. Wir haben vielmehr anzuerkennen, daß uns zweierlei Wirklichkeit gegeben ist: seelische und körperliche. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden hat in der modernen Wissenschaft zwei entgegenstehende Weltauffassungen gezeitigt: die Wechselwirkungslehre einerseits — und die Theorie des psychophysischen Parallelismus anderseits; jene ist durch Lotze und seine Schüler, — diese durch Ebbinghaus, Wundt u. a. vertreten. Nach der Lehre des Parallelismus gehen die materiellen und die seelischen Prozesse beständig gesetzmäßig einander parallel, ohne an irgendeiner Stelle zu Ursache und Wirkung zusammenzutreten. Allenthalben aber, so lehren einige Vertreter dieser Auffassung — vor allem ihr genialer Begründer G. Th. Fechner —, ist mit Materiellen ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/521>, abgerufen am 15.01.2025.